Es klingt wie ein Paradox, ist aber Ausdruck unserer Zeit: Die Rebellion hat ihren rebellischen Charakter verloren. Statt gegen das System zu kämpfen, marschiert sie durch seine Institutionen – und stabilisiert es dabei. In seinem pointierten Essay „Rebellion ermöglicht Freiheit“ entwirft der Journalist und Autor Ulf Poschardt ein scharfes Porträt der Gegenwart – und stellt einen neuen Sozialcharakter in den Mittelpunkt, der seiner Meinung nach die westlichen Gesellschaften zunehmend prägt: den Shitbürger.
Vom Aufbegehren zur Anpassung
Poschardt beginnt mit einer klaren These: Rebellion ist der Ursprung von Freiheit. Doch was einst Auflehnung bedeutete – gegen Hierarchie, Konvention, Zwang –, sei heute zur Karriereoption geworden. Die rebellische Energie habe sich, so Poschardt, „umgepolt“: Statt draußen zu stehen, sitzt sie heute in der NGO, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in der Universitätsleitung.
Dort allerdings verliert sie ihren Stachel. Was bleibt, ist ein moralischer Tonfall, der sich als progressiv inszeniert, aber letztlich nichts anderes bewirkt als die Reproduktion des Bestehenden. Der revolutionäre Impuls ist gezähmt – und wird zum Machtmittel.
Der Shitbürger als neuer Hegemon
Diese Figur, die Poschardt als Shitbürger bezeichnet, ist weder offen autoritär noch klar opportunistisch. Vielmehr verbindet sie moralische Überlegenheit mit einem tiefen Bedürfnis nach Ordnung und Kontrolle. Der Shitbürger erscheint als Weltverbesserer – und handelt doch in erster Linie zur Sicherung der eigenen Privilegien.
Er moralisiert nicht, weil er befreien will, sondern weil er regulieren möchte. Poschardt nennt das einen „erzieherischen Gestus“, angetrieben vom Freiheitsneid: Die Unfreien wollen die Freien binden – mit Regeln, Etikette, politischer Korrektheit. In dieser Diagnose schwingt viel Nietzsche mit, aber auch eine Prise Foucault: Moral, so die These, dient nicht mehr dem Guten, sondern der Herrschaft.
Systemtheorie statt Idealismus
Poschardts Kritik hat auch eine theoretische Dimension. Wer glaubt, das System durch moralisch motivierten Aktivismus von innen heraus zu verändern, verkennt laut ihm eine zentrale Wahrheit: Systeme erhalten sich selbst. Institutionen wie Medien, Universitäten oder die Bürokratie sind keine neutralen Gefäße, sondern eigendynamische Konstrukte – sie absorbieren den Widerstand und machen ihn harmlos. Wer in das System eintritt, wird – ob bewusst oder nicht – zu seinem Agenten.
Die Folge: Eine Gesellschaft, die sich zunehmend selbst zensiert, kontrolliert und moralisiert. Nicht durch äußere Repression, sondern durch inneren Anpassungsdruck.
Ein Appell an republikanische Tugenden
Trotz aller Kritik bleibt Poschardt nicht im Kulturpessimismus stecken. Seine Rebellion ist keine destruktive, sondern eine republikanische. Es gehe, so schreibt er, um eine „radikale Selbstkritik“ – und eine Rückbesinnung auf Tugenden wie Eigenverantwortung, Urteilskraft, Zivilcourage und die Fähigkeit zur nicht konformen Meinungsäußerung.
Das Ziel ist nicht die Zerschlagung von Institutionen, sondern deren Befreiung von ideologischer Erstarrung. Rebellion, so Poschardt, sei dann sinnvoll, wenn sie Freiheit wieder möglich macht – nicht nur für wenige, sondern für alle.
Poschardts Essay ist kein Wutschrei, sondern ein Weckruf. Er richtet sich an jene, die spüren, dass der gesellschaftliche Diskurs enger geworden ist – moralisch aufgeladen, aber inhaltlich oft leblos. Der Shitbürger ist dabei nicht bloß eine polemische Figur, sondern ein Symptom: für eine Gesellschaft, die sich im Namen des Guten selbst gefangen nimmt.
Wer wirklich rebellieren will, so Poschardts Botschaft, muss heute nicht gegen „die da oben“ kämpfen – sondern gegen den inneren Moralisten in uns allen.