Drei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit scheint Ostdeutschland im Journalismus angekommen zu sein – doch wer genauer hinsieht, erkennt: Die Repräsentation ostdeutscher Perspektiven ist nach wie vor ungleich verteilt. In der aktuellen Ausgabe von „Journalismus im Dialog“, veranstaltet von der Freien Universität Berlin, der Medienanstalt Berlin-Brandenburg und dem Sender Alex, wurde diese Schieflage erneut deutlich. Zu Gast: Sabine Renevans, Ressortleiterin bei der Berliner Zeitung, preisgekrönte Autorin – und ostdeutsche Journalistin.
Renevans weiß, wovon sie spricht. In den frühen Jahren ihrer Karriere versuchte sie, das Ostdeutsche in ihrer Biografie zu verbergen. „Ich wollte nicht in eine Schublade gesteckt werden“, sagt sie. Der Wendepunkt kam mit der Aufdeckung des NSU – und dem reflexartigen medialen Narrativ: „Nazis aus dem Osten“, flankiert von Klischees über Arbeitslosigkeit, Hartz IV und Stasi-Vergangenheit. Für Renevans ein Weckruf. „Da habe ich gemerkt: Die Gesellschaft ist noch lange nicht so weit, wie ich dachte.“
Stereotype statt Vielstimmigkeit
Studien bestätigen ihre Beobachtungen: In den Jahren nach der Wiedervereinigung dominierten in den Medien negative Bilder der DDR. Ostdeutsche wurden als fremd, rückständig, problematisch gezeichnet. Zwar gebe es inzwischen neue Stimmen – etwa Valerie Schönjahn mit „Ostbewusstsein“ oder Greta Taubert mit „Guten Morgen, du Schöne“. Doch in den Leitmedien, so Renevans, herrsche weiterhin eine einseitige Berichterstattung: Der Osten werde vor allem dann sichtbar, wenn es um Wahlergebnisse, Gedenktage oder Skandale gehe.
Die Idee einer „Ostquote“ in Redaktionen, die aus dem Publikum angesprochen wurde, hält sie für überfällig. „Mich wundert, dass diese Frage nicht öfter gestellt wird“, sagt Renevans. Ihr Beispiel: Beim Spiegel arbeiten schätzungsweise nur 34 von über 1.000 Mitarbeitenden mit ostdeutscher Herkunft – Zahlen, die sich in vielen großen Medienhäusern wiederfinden. Die Konsequenz: ein Mangel an Perspektiven, der sich unmittelbar auf die Berichterstattung auswirkt.
Ein neues Selbstbewusstsein – mit Stolpersteinen
Jüngere ostdeutsche Journalistinnen und Journalisten treten heute selbstbewusster auf. Sie haben die Umbrüche der Wendezeit nicht mehr unmittelbar erlebt, richten den Blick stärker auf soziale Gerechtigkeit, Bildung, Stadt-Land-Konflikte – und weniger auf die DDR-Vergangenheit. Doch auch sie stoßen auf Vorurteile. Bei Lesungen würden Themen wie Stasi und Rechtsextremismus immer noch reflexhaft verknüpft, berichtet Renevans.
Die Berliner Zeitung, bei der sie arbeitet, versteht sich zeitweise als ein „Ost-West-Labor“. Die Stasi-Vorwürfe gegen Miteigentümer Holger Friedrich haben die Redaktion stark gefordert – und zusammengeschweißt. Trotz der Entlastung durch eine unabhängige Kommission blieb die öffentliche Debatte an der Schlagzeile kleben. Für Renevans ein Beispiel dafür, wie schnell ostdeutsche Akteure unter Generalverdacht gestellt werden.
Alte Machtstrukturen, neue Chancen
Ein zentraler Punkt: die Besitzverhältnisse in der Medienlandschaft. Die Übernahme ostdeutscher Zeitungen durch westdeutsche Verlage in den 1990er-Jahren, die Auflösung des DDR-Fernsehens – für viele Ostdeutsche ein Verlust ihrer medialen Öffentlichkeit. Der Soziologe Rai Kollmorgen spricht von einer „institutionellen Zerstörung der ostdeutschen Öffentlichkeit“. Renevans findet das bedenkenswert. Auch ihr eigenes Praktikum Anfang der 1990er-Jahre habe ihr gezeigt, wie wenig Verständnis westdeutsche Kollegen für die journalistische Kultur des Ostens hatten.
Heute versucht sie, ostdeutsche Erfahrungen in der Redaktion sichtbar zu machen – ohne zu moralisieren. In der Serie „Zeitenwende“ berichtete die Berliner Zeitung über persönliche Umbruchsgeschichten aus dem Osten. Die Resonanz war überwältigend. „Die Menschen wollen, dass ihre Geschichte gesehen wird“, sagt Renevans.
„Der Westen ist nicht die Norm“
Gleichzeitig warnt sie vor dem Vorwurf, Ostdeutschland durch eine stärkere Thematisierung wieder in die Rolle des „Anderen“ zu drängen. „Vielfalt ist kein Problem“, sagt sie. „Problematisch ist es, wenn der Westen weiterhin als Norm gilt.“ Viele Entwicklungen im Osten – etwa der Umgang mit demografischem Wandel oder der Strukturwandel im ländlichen Raum – könnten dem Westen noch bevorstehen. Der Austausch müsse in beide Richtungen gehen.
Ihr Rat an junge Kolleginnen und Kollegen: „Versteckt eure Herkunft nicht – aber macht sie auch nicht zum Alleinstellungsmerkmal.“ Die Zeit des Versteckens sei vorbei. Und auch wenn sich ostdeutsche Journalisten bis heute in den Chefredaktionen rar machen: Es tut sich etwas.
Der Dialog über Ostdeutschland im Journalismus hat begonnen – aber er ist noch lange nicht abgeschlossen.