Professor Dr. Oschmann von der Universität Leipzig sorgt mit seinem Buch „Der Osten, eine westdeutsche Erfindung“ und dem diesjährigen Vortrag bei den Medientagen für frischen Wind in der Debatte um die deutsche Identität. Er stellt provokante Thesen zur gesamtdeutschen Wahrnehmung vor und fordert ein Umdenken in der Medienberichterstattung sowie in den gesellschaftlichen Zuschreibungen.
Ein Erfahrungsraum im Schatten westdeutscher Narrative
In seiner erweiterten Vortragsfassung betont Oschmann, dass es nicht primär um eine Ost- oder Westdeutschfärbung gehe, sondern vielmehr um ein tief verwurzeltes Missverständnis: „Ich bin nicht für die gute Laune zuständig“, so der Professor in seiner prägnanten Einleitung. Er erklärt, dass sein Werk nicht allein den Osten thematisiere, sondern vielmehr den Westen und dessen Denk- und Redemuster. Dabei kritisiert er, wie westdeutsche Medien und die politische Klasse die ostdeutsche Lebenswirklichkeit in ein einheitliches und oft negatives Schema pressen – weit entfernt von dem, was einst tatsächlich erlebt wurde.
Oschmann verweist auf einen ostdeutschen Erfahrungsraum, geprägt durch politische, ideologische, kulturelle und ökonomische Erfahrungen seit 1945. Diese Realität, so argumentiert der Professor, sei systematisch von westdeutschen Zuschreibungen überschattet worden, die oft noch aus Zeiten des Kalten Krieges und vorangegangener historischer Vorurteile stammten.
Westdeutsche Dominanz und mediale Diffamierung
Ein zentraler Kritikpunkt ist die mediale Darstellung des Ostens. Oschmann sieht in der Berichterstattung der überregionalen Medien eine strategische Diffamierung – und noch deutlich häufiger: ein Ignorieren der tatsächlichen Vielfalt. Nach seiner Ansicht greifen westdeutsche Medien zu einfachen, homogenisierenden Bildern, die den Osten als einen undifferenzierten Block darstellen. Dabei beschneiden sie den vielfältigen ostdeutschen Erfahrungsraum auf eine Reihe starrer Stereotypen.
Als erschreckendes Beispiel führt der Professor eine aktuelle Äußerung des Soziologen Armin Nassehi an, der den Osten nach den letzten Wahlen als einen „exorienten Horror“ beschrieb – Ausdruck dessen, was Oschmann als „vollkommenes Geistesbankrot“ bezeichnet. Zudem kritisiert er die langjährige Tradition des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, das seiner Meinung nach den Osten in einer Weise diffamiert habe, die den Betroffenen nicht nur die Möglichkeiten der eigenen Entfaltung, sondern auch das Ansehen im öffentlichen Diskurs verwehrt.
Die Konsequenzen der Ignoranz
Neben der Diffamierung klagt Oschmann über das Phänomen des Ignorierens – das bewusste Ausblenden der ostdeutschen Perspektive. In zahlreichen Beiträgen, so bemängelt er, fehlte oft das Verständnis für regionale Besonderheiten. Berichte über den Osten wurden in “völliger Unkenntnis” verfasst, sodass bereits ein vorgefertigtes Negativbild den Raum dominierte. Dieses Vorgehen führe zu einem Verlust des kollektiven Gedächtnisses, der in einer Welle von „Ostalgie“ seinen Widerhall findet: einer nostalgischen Rückbesinnung auf eine bisweilen verherrlichte Vergangenheit, die es so nie gegeben hat.
Er zeigt auf, dass auch westdeutsche Zuzügler, die seit Jahren in ostdeutschen Regionen leben, den Status quo im westlichen Machtgefüge kaum verändern. Auch Unterschiede in den Lebenschancen – etwa bei der Erbschaft oder der Lebenserwartung – würden systematisch übersehen. Die Schuldfrage bleibt dabei zwar umstritten, doch steht fest: Die aktuelle Medienszene vermag es nicht, eine differenzierte und gerechte Darstellung beider deutscher Lebenswirklichkeiten zu bieten.
Verantwortung der Medien und der Weg zu einer gesamtdeutschen Berichterstattung
Oschmann fordert ein Umdenken: Die Medien seien aufgerufen, ihre „blind gewordenen“ Berichterstattungsstrategien zu überdenken, Vorurteile abzubauen und der ostdeutschen Erfahrungswelt zu einem eigenständigen, respektvollen Raum zu verhelfen. Dabei müsse die öffentliche Debatte wieder auf Augenhöhe geführt werden – frei von pauschalen Zuschreibungen und altbackenen Stereotypen.
Der Vortrag von Professor Oschmann markiert dabei nicht nur einen persönlichen Appell, sondern stellt auch eine gesellschaftliche Mahnung dar. Die Dominanz westdeutscher Perspektiven in den Medien führe zu einer gesamtdeutschen Spaltung, deren Überwindung nur durch einen offenen, pluralistischen Dialog gelingen kann.
In einer Zeit, in der die historischen Narben der deutschen Teilung noch immer nachwirken, liefert Oschmanns Analyse einen scharfsinnigen Blick hinter die Kulissen der medialen Inszenierung. Seine Thesen regen dazu an, die traditionelle westdeutsche Wahrnehmung des Ostens kritisch zu hinterfragen und die ostdeutsche Lebensrealität in ihrer ganzen Komplexität anzuerkennen. Nur so könne es gelingen, die gesamtdeutsche Identität wieder auf eine gemeinsame Basis zu stellen – jenseits von alten Vorurteilen und medialen Verzerrungen.