Bereits in den 1950er-Jahren wagte die DDR einen ungewöhnlichen Bildungsansatz: Den polytechnischen Unterricht. Einmal pro Woche tauchten Schülerinnen und Schüler der Klassen 7 bis 10 in die Arbeitswelt ein – sei es in Handwerksbetrieben oder in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs). Das Ziel war klar: Frühzeitig praktische Fertigkeiten zu erlernen und zugleich die Prinzipien der sozialistischen Arbeit zu verinnerlichen.
Frühe Einblicke in die Berufswelt
In der DDR sollten junge Menschen nicht nur theoretisches Wissen erwerben, sondern direkt erleben, wie die Wirtschaft funktionierte. Ob im Umgang mit der Feile, der Bohrmaschine oder beim technischen Zeichnen – praktische Erfahrungen standen an erster Stelle. „Wir wussten, was eine Feile ist, und wie man sie handhabt“, erinnert sich ein ehemaliger Auszubildender, der noch heute von seinen ersten Schritten in der Produktionshalle berichtet. Dabei wurde nicht nur handwerkliches Können vermittelt, sondern auch ein Bewusstsein für die Bedeutung der Arbeit und den Stolz auf den eigenen Beruf gefördert.
Die Mischung aus Theorie und Praxis
Ab 1970 wurde das Konzept weiter verfeinert: Mehrstündiger Theorieunterricht ergänzte die praktischen Einsätze, um den Schülerinnen und Schülern auch die theoretischen Grundlagen zu vermitteln. Fächer wie technisches Zeichnen und Einführung in die sozialistische Produktion sollten helfen, die gemachten Erfahrungen zu reflektieren und besser in das Gesamtkonzept der beruflichen Bildung einzuordnen. Neben handwerklichen Fertigkeiten stand hier auch die Erziehung zu einer „sozialistischen Schülerpersönlichkeit“ im Vordergrund – ein Anspruch, der nicht ohne Kritik blieb.
Lernen für die heutige Berufswelt
Heutzutage wird das Modell des polytechnischen Unterrichts wieder neu belebt – wenn auch in veränderter Form. Angesichts eines akuten Fachkräftemangels und unbesetzter Ausbildungsplätze in klassischen Handwerks- und Industrieberufen setzen moderne Projekte auf praxisnahe Berufserkundungen. So ermöglicht ein Projekt des Bildungswerks der sächsischen Wirtschaft Schülern in den Klassen 7 bis 9, in nur einer Woche einen umfassenden Einblick in verschiedene Berufsfelder zu erhalten. Ziel ist es, das Interesse an handwerklichen und technischen Berufen zu wecken und jungen Menschen eine realistische Perspektive zu bieten.
Zwischen Tradition und Moderne
Der Rückblick auf das DDR-Bildungssystem zeigt, dass die Verbindung von Theorie und Praxis durchaus Erfolg haben kann – wenn sie richtig umgesetzt wird. Natürlich empfanden nicht alle Schülerinnen und Schüler die Arbeit in den Betrieben als inspirierend; manche kritisierten die oft monotone und körperlich belastende Tätigkeit. Doch viele von ihnen traten später als Lehrlinge in die Betriebe zurück und profitierten von dem früh erworbenen praktischen Wissen.
Die Herausforderung von heute besteht darin, ein Gleichgewicht zu finden: Einerseits sollen Jugendliche fundierte praktische Erfahrungen sammeln, andererseits müssen die Angebote so gestaltet sein, dass sie den modernen Anforderungen und Interessen gerecht werden. Wenn es gelingt, das Interesse an klassischen Ausbildungsberufen nachhaltig zu fördern, könnte das polytechnische Modell – in angepasster Form – einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung des Fachkräftemangels leisten.
Ein Modell mit Zukunftspotenzial?
Obwohl das DDR-Bildungssystem aus heutiger Sicht auch seine Schattenseiten hatte, bietet es wertvolle Ansätze: die frühzeitige Einbindung in die Arbeitswelt und die Verknüpfung von praktischen und theoretischen Lerninhalten. Die aktuellen Projekte in Sachsen zeigen, dass diese Ideen durchaus wiederbelebt werden können – mit modernen Mitteln und zeitgemäßen Konzepten. Vielleicht liegt in der Wiederbelebung alter Bildungsansätze der Schlüssel zu einer zukunftsfähigen Berufsausbildung, die nicht nur den aktuellen Herausforderungen, sondern auch den Bedürfnissen junger Menschen gerecht wird.