Mit ICE AGED eröffnet Regisseurin Alexandra Sell ein ungewöhnliches Filmprojekt, das weit über den reinen Sport hinausgeht. Der Dokumentarfilm begleitet sechs Protagonisten, die im Erwachsenenalter ihre Leidenschaft für den Eiskunstlauf leben. Dabei gelingt es Sell, traditionelle Klischees über Alter und Sport zu durchbrechen und stattdessen ein facettenreiches Bild menschlicher Lebenskunst zu zeichnen.
Zwischen Leidenschaft und Authentizität
Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass Sell bewusst auf herkömmliche Darstellungsweisen verzichtet. Statt einer sentimentalen „Oma-Komödie“ präsentiert sie ihre Protagonisten auf Augenhöhe – als Menschen, die trotz aller Rückschläge und Herausforderungen ungebrochen ihren Traum verfolgen. Diese Authentizität ist zugleich das Herzstück und der analytische Brennpunkt des Films. Durch den ungekünstelten Blick auf das Leben der Akteure wird der Zuschauer mit der Frage konfrontiert, was es bedeutet, im Alter nicht nur zu existieren, sondern aktiv und leidenschaftlich zu leben.
Analyse der individuellen Lebenswege
Jeder Protagonist verkörpert eine eigene Facette der Lebensfreude und des Widerstands gegen gesellschaftliche Erwartungen. Elena Rickmann, Ingenieurin aus Karelien, symbolisiert dabei den Brückenschlag zwischen einem technisch rationalen Berufsleben und der künstlerischen Freiheit des Eiskunstlaufs. Roland Suckale hingegen, der seit den 70er Jahren mit demselben Paar Schlittschuhen antritt, bringt eine nostalgische, fast schon rebellische Komponente in den Film ein. Sein Motto „Make the world skate again“ wird zum Ausdruck eines tief verwurzelten Wunsches, die Welt mit seiner Leidenschaft zu inspirieren.
Ein weiteres spannendes Element ist die Lebensgeschichte von Nadia Colbourne, die erst spät – mit 44 Jahren – ihren Traum in die Tat umsetzte, nachdem sie als Kind durch gesellschaftliche Vorurteile gebremst wurde. Ihre Entwicklung steht exemplarisch für den Kampf gegen stereotype Vorstellungen und für die Überwindung persönlicher Hindernisse. Die Rückkehr von Linda Bernard, einst britische Meisterin im Paarlauf, nach einer 46-jährigen Pause, unterstreicht diesen Aspekt zusätzlich und eröffnet Raum für eine Diskussion über das Thema Re-Invention im späteren Leben.
Filmische Umsetzung und gesellschaftliche Relevanz
Aus filmischer Sicht überzeugt ICE AGED durch einen respektvollen und liebevollen Umgang mit seinen Protagonisten. Sell versteht es, die feinen Nuancen zwischen Triumph und Niederlage einzufangen, wodurch der Film nicht nur als Dokumentation eines ungewöhnlichen Wettkampfs fungiert, sondern als kraftvolles Statement zur Lebensfreude jenseits des jugendlichen Elans. Der dokumentarische Ansatz wird zur Analyseplattform für universelle menschliche Themen: Mut, Resilienz und die Kunst, immer wieder aufzustehen.
Die Entscheidung, den Eiskunstlauf als Medium zu wählen, erlaubt einen spannenden Vergleich zwischen der scheinbar vergänglichen Schönheit der Eisfläche und der dauerhaften Kraft des menschlichen Geistes. Dabei wird die künstlerische Komponente des Sports nicht nur als ästhetisches Element hervorgehoben, sondern als Spiegelbild der inneren Haltung der Menschen, die sich nicht durch Alter oder gesellschaftliche Normen einschränken lassen.
ICE AGED ist weit mehr als ein reiner Sportdokumentarfilm. Die gelungene Symbiose aus authentischen Porträts, tiefgehender Analyse menschlicher Schicksale und einem künstlerisch anspruchsvollen filmischen Stil macht den Film zu einem inspirierenden Werk. Alexandra Sell liefert mit ihrem Film einen Impuls, der den Zuschauer dazu anregt, traditionelle Vorstellungen von Alter und Erfolg zu hinterfragen und die grenzenlose Kraft der menschlichen Leidenschaft neu zu definieren.