Gregor Gysi über die Volkskammer 1990 – Das engagierte Laienparlament

Interview mit Gregor Gysi: Zusammensetzung in der Volkskammer 1990

Im Februar 2025 gab der ehemalige Abgeordnete Gregor Gysi in einem exklusiven Interview eindrucksvolle Einblicke in die Zusammensetzung und Arbeitsweise der Volkskammer im Jahr 1990 – einer Zeit des politischen Umbruchs und tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen in der DDR. Gysi erinnert sich an ein Parlament, das – entgegen der oft im Westen gezeichneten Vorurteile – keineswegs nur ein Forum für symbolische Beschlüsse war, sondern vielmehr ein lebendiger Austausch unterschiedlicher Lebensgeschichten und Sichtweisen, in dem fachliche Kompetenz und engagierte Diskussion den Ton angaben.

Ein Laienparlament mit hohem Engagement
„Die Volkskammer war, das stimmt, was da im Westen immer gesagt wurde, ja tatsächlich ein Laienparlament“, beginnt Gysi seine Schilderungen. Trotz des Etiketts als Laienparlament, in dem fast keine Berufspolitikerinnen und Berufspolitiker anzutreffen waren, zeichnet er ein Bild von intensiven Diskussionen und einem reger Austausch – ein Gegensatz zu den heutigen politischen Gremien, in denen der Alltag oft von parteipolitischen Strategien und kalkulierten Positionierungen bestimmt wird.

In jener bewegten Zeit waren es gerade die unterschiedlichen Hintergründe der Abgeordneten, die den politischen Diskurs prägten. Viele Mitglieder kamen aus der Zivilgesellschaft und brachten ihre individuellen Erfahrungen aus dem Alltag in die parlamentarischen Debatten ein. Dieser Querschnitt unterschiedlicher Biografien schuf ein Arbeitsumfeld, in dem man sich gegenseitig Fragen stellte, kritische Anmerkungen gab und gemeinsam an der Formulierung neuer Ideen und Anträge arbeitete. Gysi betont, dass dieser Austausch – getragen von Neugierde und der Bereitschaft, voneinander zu lernen – ein entscheidendes Merkmal der damaligen Volkskammer war.

Ein Anekdotenblick: Der Dialog mit der FDP
Ein besonders markantes Beispiel für den damaligen Umgang miteinander lieferte Gysi anhand einer Anekdote aus der Zusammenarbeit mit der FDP. Die FDP, so erzählt er, kam damals direkt auf ihn zu, um die Zulässigkeit ihrer Anträge zu hinterfragen:

„Die FDP kam zu mir mit ihren Anträgen und fragte, ob die so zulässig sind. Da habe ich gesagt, ich will aber den Antrag nicht. Und die sagt, ist ja egal, darum geht es ja nicht. Sie sollten bloß dafür sorgen, dass wir den Antrag richtig formulieren. Das habe ich dann auch gemacht.“

Dieses Ereignis illustriert eindrucksvoll, wie damals der Dialog zwischen den politischen Akteuren von gegenseitigem Respekt und der Bereitschaft zu Kooperation geprägt war. In einer Zeit, in der Fachwissen und Expertise auf der Tagesordnung standen, zeigte sich, dass auch parteiübergreifende Zusammenarbeit möglich war – etwas, das Gysi als in der heutigen politischen Landschaft kaum noch vorstellbar erachtet. Der direkte und unkomplizierte Austausch, der hier zum Tragen kam, hob das damalige politische Klima von den oftmals starren und parteipolitisch eingefärbten Diskussionen der Gegenwart ab.

Vielfalt der Biografien – Ein Spiegel der DDR-Gesellschaft
Ein zentrales Element in Gysis Erinnerungen ist die immense Vielfalt der Menschen, die in der Volkskammer vertreten waren. Diese Vielfalt spiegelte die unterschiedlichen Lebenswege und Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger in der DDR wider. „So und dann eben die ganz unterschiedliche Biografie der Menschen in der DDR mit ganz unterschiedlichen Sichten. Also die Volkskammer war spannend“, erinnert Gysi. Gerade diese Mischung unterschiedlicher Perspektiven schuf ein Klima, in dem auch unkonventionelle Ideen und neue Sichtweisen Platz fanden.

Die unterschiedlichen Hintergründe führten zu einem intensiven inhaltlichen Austausch, der nicht selten auch in nächtlichen Sitzungen mündete – ein Bild, das den damaligen Elan und die Bereitschaft, über den Tellerrand hinauszublicken, eindrucksvoll illustriert. Trotz der oftmals widersprüchlichen Positionen gelang es den Abgeordneten, gemeinsam an einem Neuanfang zu arbeiten und den Grundstein für die spätere demokratische Entwicklung zu legen.

Eliten im Wandel: Die Rolle von Pfarrern und Rechtsanwälten
Ein weiterer spannender Aspekt, den Gysi in seinem Interview anspricht, betrifft den Wandel der politischen Eliten. Während man damals noch den Anspruch verfolgte, die alten Eliten abzulösen, zeigte sich bald, dass in einer Demokratie Eliten – also Personen mit besonderer Expertise und Führungskompetenz – grundsätzlich unentbehrlich sind. Doch wer konnte diese neue Elite verkörpern?

Gysi nennt zwei Gruppen, die in jener Zeit eine besondere Rolle spielten: Pfarrer und Rechtsanwälte. Diese Gruppen waren in der DDR, wenn auch nicht unmittelbar im Machtapparat verankert, dennoch als gut ausgebildete und respektierte Persönlichkeiten angesehen. Ihre Tätigkeit – die Juristen mit ihrer präzisen, sachlichen Argumentation und die Theologen mit ihrem philosophisch-reflektierten Blick auf ethische Fragen – verlieh der Volkskammer eine besondere Tiefe und Vielfalt.

„Die Eliten sollten noch ausgewechselt werden. Die alten Eliten sollten es doch nicht mehr sein. Du kannst aber auf Eliten auch nicht verzichten“, erläutert Gysi und weist darauf hin, dass der Ersatz der alten Führungskräfte nicht bedeutet habe, dass man auf die Expertise und das fachliche Know-how verzichten könne. Vielmehr habe man gezielt diejenigen gewählt, die zwar außerhalb des bisherigen Machtzentrums standen, aber durch ihre Bildung und ihren Hintergrund wertvolle Impulse in den politischen Diskurs einbringen konnten.

Die Kombination aus juristischer Präzision und theologischem Tiefgang sorgte für eine Balance, die es ermöglichte, sowohl rechtliche als auch ethische Fragestellungen angemessen zu diskutieren. Die Präsenz von Pfarrern und Rechtsanwälten verlieh dem Parlament somit nicht nur einen fachlichen, sondern auch einen moralischen und philosophischen Unterbau – eine Mischung, die in späteren Jahren vielfach als entscheidender Erfolgsfaktor für die demokratische Transformation gewertet wird.

Ein Blick in die Vergangenheit als Lehre für die Gegenwart
Gregor Gysis Rückblick auf die Zusammensetzung und Arbeitsweise der Volkskammer 1990 ist zugleich eine Erinnerung an eine Zeit, in der politische Prozesse noch von direktem Austausch und authentischer Auseinandersetzung geprägt waren. Die Erzählungen aus jener Ära, in der auch noch in nächtlichen Sitzungen nach Lösungen gesucht wurde, lassen einen Kontrast zu den heutigen politischen Abläufen erkennen, die oft von strategischen Interessen und einem Mangel an direktem Dialog bestimmt sind.

Seine Schilderungen regen dazu an, über die Rolle von Fachwissen und persönlichem Engagement in der Politik nachzudenken. Wo heute vielfach auf Karrierepolitik gesetzt wird und parteipolitische Erwägungen dominieren, erinnert uns Gysi daran, dass der politische Diskurs früher auch von der Bereitschaft geprägt war, sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen – unabhängig von parteipolitischen Erwägungen. Der direkte Kontakt, wie er in der Anekdote mit der FDP deutlich wird, zeugt von einer Offenheit und Flexibilität, die in der heutigen politischen Landschaft oft vermisst wird.

Fazit: Ein Erbe, das weiterwirkt
Die Erinnerungen an die Volkskammer 1990, wie sie Gregor Gysi schildert, bieten nicht nur einen faszinierenden Einblick in eine vergangene Epoche, sondern auch eine wertvolle Lektion für die heutige Politik. Die Zeiten, in denen man sich noch auf die fachliche Kompetenz und den persönlichen Austausch verlassen konnte, mögen vergangen sein – doch die Prinzipien, die damals gelebt wurden, sollten nicht in Vergessenheit geraten.

Gysis‘ Bericht unterstreicht, dass Demokratie mehr ist als nur der Austausch von Parolen und politischen Strategien. Es geht um den Dialog, um das gegenseitige Hinterfragen und um das Einbeziehen unterschiedlicher Perspektiven – von Juristen, Theologen und all jenen, die ihre ganz persönlichen Lebenswege in die Politik eingebracht haben. Diese Vielfalt und der daraus resultierende Diskurs bilden das Fundament, auf dem demokratische Prozesse aufbauen können.

In einer Zeit, in der politische Entscheidungen oft in undurchsichtigen Prozessen getroffen werden und parteipolitische Interessen über den eigentlichen Dialog gestellt werden, ist es umso wichtiger, sich an jene Werte und Prinzipien zu erinnern, die die Volkskammer 1990 auszeichneten. Der Geist der Offenheit, die Bereitschaft, auch ungewöhnliche Wege zu gehen, und der feste Glaube daran, dass unterschiedliche Lebensgeschichten zu einem reichhaltigen und konstruktiven Diskurs beitragen können, sind Lehren, die in der heutigen Zeit wieder verstärkt in den Vordergrund rücken sollten.

So bleibt Gregor Gysis‘ Interview nicht nur ein historisches Zeugnis, sondern auch ein Appell an die Politik von heute: Es lohnt sich, die Vielfalt zu nutzen und den direkten, unbürokratischen Austausch wieder in den Mittelpunkt der politischen Arbeit zu rücken – für eine lebendige Demokratie, die auf echten Werten basiert und in der der Mensch wieder im Mittelpunkt steht.

Autor/Redakteur: Arne Petrich
Für Anregungen, Verbesserungen oder Hinweise zum Beitrag schreiben Sie einfach eine Mail an coolisono@gmail.com!

Schloss Plüschow – Von der Denkmalpflege zur Künstlerförderung nach der Wende

Das Schloss Plüschow ist ein ehemaliges, denkmalgeschütztes Herrenhaus in landschaftlich reizvoller Umgebung in Plüschow, im Landkreis Nordwestmecklenburg (Mecklenburg-Vorpommern). Es wurde ursprünglich...