Inga Wolframs Film über die Stasi-Akten und die Last der Vergangenheit

Die Schuld der Anderen - das Erbe der Stasi

Die Filmemacherin Inga Wolfram betrachtet in ihrer beeindruckenden Dokumentation den Umgang mit den Stasi-Akten nach dem Zusammenbruch der DDR. Der Film beleuchtet eine zentrale Frage der deutschen Geschichte: Wie geht eine Gesellschaft mit der Last der Vergangenheit um? Im Mittelpunkt stehen dabei ehemalige Bürgerrechtler, Oppositionelle aus der DDR und die drei Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen – Joachim Gauck, Marianne Birthler und Roland Jahn. Sie liefern Antworten auf Fragen nach Vergangenheitsschuld, Vergebung und dem schwierigen Balanceakt zwischen Erinnerung und Schlussstrich.

Mit der Deutschen Einheit im Oktober 1990 begann ein neues Kapitel in der deutschen Geschichte. Einer der ersten Schritte der neuen Bundesregierung war die Einrichtung einer Behörde, die sich mit den Hinterlassenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auseinandersetzen sollte. Der ehemalige Pastor und heutige Bundespräsident Joachim Gauck wurde zum ersten Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR ernannt. Die Behörde – später als Gauck-Behörde bekannt – hatte die Aufgabe, die umfassenden Aufzeichnungen des MfS zu sichern, aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Diese Akten waren beredte Zeugnisse eines staatlich organisierten Systems des Misstrauens und der Kontrolle.

Die schiere Dimension der Aufgabe war beeindruckend: Über 100 Kilometer Aktenmaterial lagerten in den Archiven – eine Mischung aus Berichten, Fotos, Tonaufnahmen und anderen Dokumenten. Jeder Meter dieser Unterlagen erzählte Geschichten von Verrat, Verfolgung und Unterdrückung. Gleichzeitig enthielten sie auch Informationen über die Arbeitsweise des MfS, die Methoden der Überwachung und die Struktur dieses Geheimdienstes. Für die Opfer des Systems waren diese Akten oft der einzige Beweis für das erlittene Unrecht. Zugleich stellten sie eine Herausforderung dar: Wie sollte man mit den Daten umgehen, die Namen von Informanten und Spitzeln enthielten? Wie konnte man Transparenz schaffen, ohne neue Wunden zu reißen?

Die Dokumentation von Inga Wolfram nimmt die Zuschauer mit in diese komplizierte Gemengelage. Neben den deutschen Erfahrungen wirft der Film auch einen Blick auf andere Länder, die sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen mussten. Besonders eindrucksvoll ist der Vergleich mit Russland und Südafrika. Während in Deutschland die umfassende Öffnung der Akten ein zentraler Bestandteil der Aufarbeitung war, wurde in Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion ein großer Teil der KGB-Unterlagen unter Verschluss gehalten. Dies spiegelt sich bis heute in der gesellschaftlichen Debatte über die sowjetische Vergangenheit wider. In Südafrika wiederum setzte man auf einen anderen Weg: Die Wahrheits- und Versöhnungskommission unter Leitung von Desmond Tutu sollte nicht nur die Verbrechen der Apartheid dokumentieren, sondern auch einen Prozess der Heilung und Versöhnung einleiten.

Die zentrale Frage des Films lautet: Unter welchen Voraussetzungen ist Versöhnung überhaupt möglich? Wie können Opfer und Täter einen gemeinsamen Weg in die Zukunft finden, ohne die Vergangenheit zu verdrängen? Joachim Gauck, Marianne Birthler und Roland Jahn bringen unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen ein. Gauck, der als erster Bundesbeauftragter eine Pionierrolle übernahm, betont die Bedeutung der Transparenz. Für ihn war die Öffnung der Akten nicht nur ein Beitrag zur Wahrheitsfindung, sondern auch ein Schutzschild gegen das Vergessen. Marianne Birthler, die Gaucks Nachfolgerin wurde, legte den Fokus auf die Opferperspektive. Sie setzte sich dafür ein, dass Betroffene schnell und unkompliziert Zugang zu ihren Akten erhielten. Roland Jahn, der letzte Beauftragte, brachte als ehemaliger DDR-Oppositioneller eine besonders persönliche Perspektive ein. Sein Ansatz war es, die Behörde nicht nur als Archiv, sondern auch als Ort der Erinnerung und Mahnung zu etablieren.

Ein weiterer zentraler Punkt der Dokumentation ist die Frage nach der Verantwortung. Wer trägt Schuld an den Verbrechen einer Diktatur? Ist es möglich, zwischen den Tätern und dem System zu unterscheiden, das sie geschaffen hat? Und welche Rolle spielt die Gesellschaft, die oft durch Passivität oder stillschweigende Zustimmung die Grundlage für das Funktionieren einer solchen Diktatur legte? Diese Fragen führen unweigerlich zu kontroversen Diskussionen – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. In Südafrika stand die Frage im Raum, ob Amnestie für Täter der Preis für Versöhnung sein kann. In Russland hingegen scheint die mangelnde Aufarbeitung der Vergangenheit bis heute die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft zu hemmen.

Die Dokumentation zeigt auch, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit kein abgeschlossener Prozess ist. Selbst 25 Jahre nach der Wiedervereinigung bleibt das Interesse an den Stasi-Akten groß. Für viele Menschen sind sie ein Schlüssel zum Verständnis ihrer eigenen Geschichte. Gleichzeitig bleibt die Frage, wie man die Erinnerung an die DDR-Diktatur für zukünftige Generationen bewahren kann. Welche Rolle spielen Museen, Gedenkstätten und Bildungseinrichtungen? Wie kann man verhindern, dass die Vergangenheit zur bloßen historischen Anekdote verkommt?

Inga Wolfram gelingt es, diese komplexen Themen mit großer Sensibilität und Tiefe zu behandeln. Ihr Film ist nicht nur eine historische Analyse, sondern auch ein Plädoyer für eine aktive Erinnerungskultur. Indem sie die deutschen Erfahrungen mit denen anderer Länder vergleicht, erweitert sie den Blickwinkel und zeigt, dass die Fragen von Schuld, Vergebung und Aufarbeitung universell sind. Die Dokumentation ermutigt dazu, sich diesen Fragen zu stellen – nicht nur in Bezug auf die DDR, sondern auch auf andere Kapitel der Geschichte, die noch aufgearbeitet werden müssen.

Am Ende bleibt eine zentrale Erkenntnis: Der Umgang mit der Vergangenheit ist immer auch ein Spiegel der Gegenwart. Wie eine Gesellschaft ihre Geschichte behandelt, sagt viel über ihre Werte, ihre Konflikte und ihre Hoffnungen aus. Der Film von Inga Wolfram ist ein wichtiger Beitrag zu dieser Debatte und eine Einladung, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Er zeigt, dass Erinnerung und Aufarbeitung keine Last, sondern eine Chance sein können – eine Chance, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen.

Redakteur/Autor/Chronist: Arne Petrich

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