Angela Merkels 16 Jahre als Bundeskanzlerin hinterlassen ein zwiespältiges Erbe. Ihre politische Bilanz ist geprägt von wegweisenden Entscheidungen, aber auch von umstrittenen Weichenstellungen. In einem Gespräch mit unserer stellvertretenden Chefredakteurin Melanie Amann sprach Merkel über die prägenden Momente ihrer Amtszeit, die Kritik an ihrer Politik und die Frage, wie sie selbst auf ihre Zeit im Kanzleramt zurückblickt.
Der Umgang mit Kritik
„Das gehört zur Demokratie“, sagte Merkel auf die Frage, wie sie mit der scharfen Kritik an ihrem Erbe umgeht. Ihr ruhiger Ton bleibt dabei charakteristisch, ebenso wie die Präzision ihrer Worte. Sie betonte, dass jede politische Entscheidung unter den damaligen Bedingungen getroffen werde, nicht mit dem Wissen von heute. „Natürlich gibt es immer Aspekte, die man im Nachhinein anders angehen würde. Doch Politik ist kein Experiment im Labor – sie findet in der Realität statt, mit all ihren Unwägbarkeiten.“
Ein zentrales Thema, das bis heute die öffentliche Debatte prägt, ist die Flüchtlingspolitik von 2015. „Wir schaffen das“, ihr oft zitierter Satz, sei für sie ein Ausdruck von Pragmatismus gewesen, betonte Merkel. „Ich habe diesen Satz nicht bereut, aber ich wünschte, wir hätten besser vermitteln können, dass ‚wir schaffen das‘ nicht bedeutet, dass es leicht wird.“ Merkel verteidigte ihre Entscheidung, die Grenzen offenzuhalten, als moralische und humanitäre Notwendigkeit. „Was wäre die Alternative gewesen? Menschen abweisen, die vor Krieg und Elend fliehen? Das wäre für mich unvorstellbar gewesen.“
Die Herausforderungen der Integration
Merkel räumte ein, dass die Integration der Flüchtlinge Herausforderungen mit sich brachte und nicht immer reibungslos verlief. Besonders in den Bereichen Sprachförderung und Arbeitsmarktintegration sei vieles improvisiert worden. Doch sie zeigte sich optimistisch, dass Deutschland langfristig von der Vielfalt profitieren werde. „Es war keine einfache Zeit, aber ich glaube, wir haben gezeigt, dass Solidarität und Humanität kein Widerspruch sind.“
Putins Russland: Eine verpasste Warnung?
Auch ihre Russland-Politik und ihr Umgang mit Wladimir Putin sind Gegenstand heftiger Kritik. Viele werfen Merkel vor, den russischen Präsidenten zu lange als Partner betrachtet zu haben. „Ich habe Putin nie unterschätzt“, erklärte sie. „Er war stets ein schwieriger Gesprächspartner, aber es war meine Aufgabe, den Dialog aufrechtzuerhalten, um Konflikte zu verhindern.“ Die Annexion der Krim 2014 sieht Merkel heute als Moment, der stärker hätte alarmieren müssen. „Vielleicht haben wir die Tragweite dieses Schrittes nicht klar genug erkannt. Doch in der Diplomatie geht es darum, Krieg zu vermeiden – und das war immer mein oberstes Ziel.“
Versäumte Reformen
Ein weiterer Vorwurf, der immer wieder geäußert wird, betrifft die ausstehenden Reformen in zentralen Bereichen wie Digitalisierung, Bildung und Rentenpolitik. Merkel gab zu, dass hier mehr hätte geschehen können. „Es ist wahr, dass nicht alles vorangetrieben wurde, was notwendig war. Aber Politik ist immer auch eine Frage von Prioritäten, und in meiner Kanzlerschaft gab es viele akute Krisen, die Lösungen erforderten.“
Insbesondere die schleppende Digitalisierung sei ein Versäumnis, das heute stärker ins Gewicht falle. Merkel erklärte, dass die technologische Transformation ein langfristiges Projekt sei, das mehr Kontinuität benötige. „Wir haben begonnen, wichtige Grundlagen zu legen, aber in einer Legislaturperiode kann man nicht alles erreichen.“
Ein ambivalentes Vermächtnis
Wie bewertet Merkel selbst ihr Erbe? Auf diese Frage reagierte sie mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Zurückhaltung. „Ich bin froh, Deutschland in einer so prägenden Zeit geleitet zu haben. Aber die endgültige Bewertung liegt nicht bei mir. Politik ist niemals perfekt, sie ist ein ständiger Versuch, das Beste aus den Umständen zu machen.“
Trotz der Kontroversen bleibt Merkel für viele eine Symbolfigur der Stabilität und Besonnenheit. Sie führte Deutschland durch Krisen wie die Finanzkrise, die Eurokrise und die Pandemie. Doch ihre zögerliche Reformpolitik und der Umgang mit autoritären Staaten wie Russland werfen bis heute Schatten auf ihre Bilanz.
Ein Vermächtnis, das bleibt
Angela Merkel wird als Kanzlerin in Erinnerung bleiben, die in schwierigen Zeiten Führung bewies, aber auch wichtige Zukunftsfragen offenließ. Ihr Vermächtnis bleibt ein ambivalentes – geprägt von Pragmatismus, Menschlichkeit und der Erkenntnis, dass Politik immer auch mit unvollendeten Aufgaben endet.