Wer im Jahr 2025 durch Ostdeutschland fährt, begegnet ihnen noch immer allerorten: Ernst Thälmann, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl. 35 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Namen der Gründerväter und Märtyrer der DDR keineswegs aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Für Evelyn Zupke, die Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur, ist dieser Zustand ein anhaltendes Ärgernis. „35 Jahre nach der Wiedervereinigung sollte keine Straße mehr nach Lenin, Otto Grotewohl oder Wilhelm Pieck benannt sein“, fordert sie unmissverständlich. Eine Straßenbenennung sei die höchste Ehrung, die ein Gemeinwesen zu vergeben habe – und diese dürfe nicht jenen zuteilwerden, die für das Leid tausender Opfer stünden.
Doch der Appell aus Berlin verhallt in der Provinz oft ungehört oder provoziert gar Widerstand. Der Historiker Hubertus Knabe konstatiert nüchtern, dass die DDR über ihre Straßennamen in der ostdeutschen Provinz schlicht „weiterlebt“. Dabei geht es längst nicht mehr nur um ideologische Überzeugungen. Der Streit um die Straßenschilder ist zu einem Stellvertreterkrieg um ostdeutsche Identität, Deutungshoheit und ganz pragmatische Sorgen geworden.
Ein Blick nach Heidenau in Sachsen illustriert die ganze Widersprüchlichkeit der Debatte. Dort beantragte ausgerechnet die AfD-Fraktion die Umbenennung der Ernst-Thälmann-Straße – mit der Begründung, Thälmann sei ein „Gewaltherrscher“ und Wegbereiter des Stalinismus gewesen. Die Linke hingegen verteidigte den Namen vehement und verwies auf Thälmanns Rolle als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. In der Bevölkerung verfing jedoch ein ganz anderes Argument: die Kosten. Anwohner fürchteten die Gebühren für neue Ausweise und die Änderung von Fahrzeugpapieren, Gewerbetreibende sorgten sich um ihre Corporate Identity. Das Ergebnis: Trotz eines ursprünglichen Ratsbeschlusses zur Umbenennung wurde das Vorhaben durch Bürgerproteste und formale Hürden faktisch gestoppt.
Die juristische Lage ist dabei eigentlich eindeutig. Anwohner haben kein „Vetorecht“ gegen neue Adressen. Verwaltungsgerichte haben wiederholt bestätigt, dass die Unannehmlichkeiten einer Adressänderung zumutbar sind, wenn die Kommune entscheidet, dass ein Namensgeber nicht mehr ehrungswürdig ist; die Vergabe von Hausnummern und Straßennamen dient primär der Ordnung und nicht dem Interesse des Anwohners an Beständigkeit. Doch Politik ist mehr als Rechtsprechung. In vielen ostdeutschen Kommunen wird der Vorstoß zur Umbenennung als „Besserwisserei“ aus dem Westen oder als Tilgung der eigenen Lebensgeschichte empfunden. Dieser „Ost-Trotz“ schützt oft auch jene Namen, die historisch schwer belastet sind. Ein Rentner aus Sangerhausen brachte es auf den Punkt: „Das gehört dazu, wer weiß, wie sie die Straßen dann nennen“.
Zwischen der radikalen Tilgung und dem stillschweigenden Beibehalten suchen Städte wie Potsdam und Leipzig daher nach einem dritten Weg: der Kontextualisierung. Statt Schilder abzuschrauben, werden sie ergänzt. In Potsdam beschloss die Stadtverordnetenversammlung, umstrittene Straßennamen wie die „Walter-Klausch-Straße“ mit Zusatzschildern zu versehen, die historische Einordnungen bieten. Auch in Leipzig und Landau setzt man auf Erklärung statt Abriss, um die Diskussion zu befrieden und gleichzeitig aufzuklären.
Dieser Ansatz der „kommentierten Stadt“ könnte der Ausweg aus der Sackgasse sein. Er belässt den Anwohnern ihre Adresse, nimmt der Benennung aber ihren ehrenden Charakter und wandelt das Straßenschild in einen „Stolperstein im Kopf“ um. Denn eines zeigt die Debatte der Jahre 2024 und 2025 deutlich: Das bloße Ausradieren von Namen löscht die Geschichte nicht aus – es macht sie oft nur unsichtbar, ohne sie verarbeitet zu haben.