Von der frühen Republikflucht bis zum Mauerfall: Ein Report über zurückgelassene Kinder in der DDR, deren Eltern die Freiheit im Westen suchten und dabei das Kostbarste zurückließen.
Es ist ein Koffer, der nie ausgepackt wurde. Zumindest im übertragenen Sinne. Für Christine Erhard war es das Gefühl, jahrelang auf gepackten Koffern zu sitzen, wartend auf eine Abholung, die nicht kam. Ihre Geschichte ist kein Einzelschicksal, sondern ein Symptom einer grausamen historischen Zäsur, die Familien nicht nur räumlich, sondern auch moralisch zerriss.
Die Dokumentation beleuchtet zwei Phasen dieses Dramas: die Zeit vor dem Mauerbau 1961 und die chaotischen Monate der Wende 1989. Die Motive der Eltern gleichen sich, doch die Umstände und die Urteile der Kinder unterscheiden sich massiv.
1958: Die Geiseln des Staates
Christine Erhard war elf Jahre alt, als ihre Kindheit im Sommer 1958 abrupt endete. Ihr Vater, im Widerstand aktiv, floh nach West-Berlin. Die Mutter folgte ihm kurz darauf mit vier Geschwistern. Zurück blieben Christine, zwei kleine Schwestern und ein Säugling. „24 Stunden warten“, lautete die Anweisung des Bruders, dann solle sie den Nachbarn Bescheid geben.
Die Strategie der Eltern war riskant, aber damals nicht ungewöhnlich: Man wollte die Kinder nachholen. Doch der Plan scheiterte. Die Mutter geriet in eine Kontrolle, eine Rückkehr war unmöglich. Die Kinder wurden zu „Geiseln des Staates“, platziert im Kinderheim Berbersdorf. Was als vorübergehende Trennung gedacht war, wurde durch den Mauerbau 1961 zur Dauersituation. Während im Westen das Wirtschaftswunder lockte, blieben die Kinder im Osten als Pfand zurück – politisch instrumentalisiert und emotional entwurzelt. Christines Satz „Ich wollte hier nicht sein, deshalb habe ich mich festgehalten gefühlt“ beschreibt präzise das Trauma einer Generation, die nicht gehen durfte und doch nirgendwo mehr zu Hause war.
1989: Flucht aus der Verantwortung?
Jahrzehnte später, im Herbst 1989, wiederholte sich die Geschichte unter anderen Vorzeichen. Günther Neumann, Vater von fünf Kindern, nutzte die offenen Grenzen der Wendezeit, um der „Diktatur“ und der Enge der DDR zu entfliehen. Zurück ließ er eine alkoholkranke Frau und Kinder, die im Heim Bahratal landeten.
Anders als bei den politischen Flüchtlingen der 50er Jahre, mischt sich in den Fällen der Wendezeit oft der bittere Beigeschmack persönlicher Flucht – nicht nur vor dem Staat, sondern vor der familiären Verantwortung. Yvonne Neumann, Günthers Tochter, sieht ihre Eltern heute als „abschreckendes Beispiel“. Für sie war das Heim paradoxerweise ein Ort der relativen Sicherheit vor der Verwahrlosung im Elternhaus.
Ähnlich erging es Nadine, der Tochter von Claudia Sachse. Ihr Vater setzte sich 1989 ab, getrieben von der Verlockung des Westens, und ließ Frau und Kind zurück. Später stellte sich heraus: Er hatte sechs Kinder von fünf Frauen und zahlte nie Unterhalt. Hier wird die „Freiheit“ des Westens zur Chiffre für Egoismus. „Er ist und bleibt ein Schwein“, resümiert Claudia Sachse bitter.
Der Preis der Freiheit
Die Experten schätzen, dass tausende Kinder das Schicksal der Zurückgelassenen teilten. Ob 1958 oder 1989 – der Riss ging mitten durch die Seelen der Kinder. Für die einen war es die politische Unmöglichkeit der Zusammenführung, für die anderen das menschliche Versagen der Eltern. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass die historische Zäsur der deutschen Teilung nicht nur auf Landkarten stattfand, sondern in den Kinderzimmern, in denen das Warten zur lebenslangen Narbe wurde.