Ein Essay über Untertanen, Obertane und das falsche Leben im Richtigen – basierend auf den Analysen von Hans-Joachim Maaz.
Es ist eine Diagnose, die wehtut, gerade weil sie sich weigert, die Geschichte der Wiedervereinigung als reine Erfolgsstory zu erzählen. Wenn der Hallenser Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz auf das deutsch-deutsche Verhältnis blickt, sieht er keine blühenden Landschaften, sondern seelische Narben. Seine These: Die Mauer ist weg, aber die psychischen Mauern – errichtet durch Jahrzehnte unterschiedlicher Sozialisation – stehen fester denn je.
Maaz, der 1990 mit seinem Bestseller „Der Gefühlsstau“ berühmt wurde, liefert keine politische, sondern eine psychodynamische Deutung der Nation. Für ihn sind DDR und Bundesrepublik keine gegensätzlichen Pole von „Gut“ und „Böse“, sondern zwei Varianten derselben Krankheit: der Selbstentfremdung.
Der Untertan und der Obertan
Wer verstehen will, warum Ost und West oft aneinander vorbeireden, muss laut Maaz auf die Anpassungsleistungen schauen, die die jeweiligen Systeme ihren Bürgern abverlangten.
Im Osten züchtete der Staat den „Untertan“. Der „Gefühlsstau“ war hier Überlebensstrategie. Wer seine Wut, seine Trauer oder seine Individualität offen zeigte, riskierte Repressionen. Also zog man sich zurück, passte sich äußerlich an und richtete sich in der Nische ein. Das Soziale war eine „Notgemeinschaft“: Man hielt zusammen, nicht aus reiner Nächstenliebe, sondern weil man sich gegen den übermächtigen Staat und den Mangel verbünden musste. Daraus erwuchs eine spezifische Versorgungsmentalität – der Staat als strenge, aber nährende Mutter, von der man alles erwartete.
Im Westen hingegen regierte der „Obertan“. Hier wurde nicht durch politische Angst unterdrückt, sondern durch ökonomischen Zwang verführt. Die „Ellbogengesellschaft“ verlangte Anpassung an den Markt. Der Westdeutsche lernte früh, sich zu verkaufen. Sein Narzissmus, sein Drang nach Größe und Status, diente dazu, innere Leere mit Konsum und Karriere zu übertünchen. Während der Ostdeutsche lernte, den Mund zu halten, lernte der Westdeutsche, laut zu sein, um nicht unterzugehen.
Das falsche Leben auf beiden Seiten
Das Provozierende an Maaz’ Analyse ist die Parallele, die er zieht. Beide Systeme, so argumentiert er, hinderten den Menschen daran, sein „wahres Selbst“ zu leben.
Im Osten führte die ideologische Gängelung zur Entfremdung („Ich darf nicht sagen, was ich denke“). Im Westen führte der Marktdruck zur gleichen Entfremdung („Ich muss sein, wie der Markt mich will“). Burnout ist für Maaz daher kein rein individuelles Scheitern, sondern das Symptom einer Gesellschaft, die ihren Selbstwert nur aus Leistung und Besitz zieht.
Die Tragik der Wiedervereinigung liegt darin, dass diese beiden neurotischen Systeme 1990 aufeinanderprallten, ohne sich ihrer eigenen Defizite bewusst zu sein. Der „Ossi“ projizierte seine Erlösungshoffnungen auf das „Westpaket“ und den Wohlstand. Der „Wessi“ sah im Sieg des Kapitalismus die Bestätigung, dass bei ihm psychologisch alles in Ordnung sei.
Die verpasste Chance
Maaz spricht von einem psychologischen Scheitern der Einheit. Es war kein Zusammenwachsen, sondern ein „Anschluss“. Die Ostdeutschen gaben ihre Identität – und auch ihre Chance auf eine kritische Aufarbeitung ihrer „Trotzidentität“ – an der Garderobe ab, in der Hoffnung auf materielle Gleichheit.
Was folgte, war die große Entwertung. Ostdeutsche Biografien zählten plötzlich nichts mehr. Und ein gekränkter Mensch, so lehrt die Psychologie, reagiert entweder mit Depression oder mit Wut. Die politische Unmündigkeit der DDR wurde, so Maaz’ bittere Bilanz, lediglich gegen eine materielle Abhängigkeit eingetauscht.
Was bleibt? Die Erkenntnis, dass Geld keine seelischen Wunden heilt. Eine wirkliche innere Einheit wird es laut Maaz erst geben, wenn der Westen aufhört, den Osten als „Patienten“ zu betrachten, und beginnt, seine eigene narzisstische Störung – die Gier, die Hektik, die soziale Kälte – zu therapieren. Solange wir das „falsche Leben“ nur auf der anderen Seite der Elbe verorten, bleiben wir uns fremd.