Berlin/Hamburg – Die Geschichte wird bekanntlich von den Siegern geschrieben, und in Deutschland nach 1990 waren die Sieger „immer die anderen“. Doch was passiert, wenn die vermeintlich Besiegten beginnen, ihre eigene Geschichte zu erzählen? Genau diesen Versuch wagt Katrin McClean, Autorin und Kursleiterin für kreatives Schreiben, mit ihrem Buch „Aufgewachsen in Ost und West – 64 Geschichten für eine wirkliche Wiedervereinigung“. Das Buch versammelt die persönlichen Erzählungen von 40 Autoren – je 20 aus Ost und West – und bietet eine einzigartige Perspektive auf die Wendezeit und das Leben in den beiden ehemaligen deutschen Staaten.
Die Wende als Ende der Identität
Für Katrin McClean selbst, die in der DDR aufwuchs, war das Ende der DDR „nicht als Befreiung erlebt, sondern als das Ende meiner Identität“. Sie engagierte sich in den letzten Jahren der DDR in der sogenannten Oppositionsbewegung, kämpfte für mehr Offenheit und demokratischere Verhältnisse, zweifelte jedoch nicht am Staat oder am Sozialismus als solchem, sondern an den „zu alten“ Funktionären. Als die Mauer fiel, war ihr sofort klar, dass all ihre Reformideen und Kämpfe bedeutungslos werden würden. Sie beschreibt die Geschehnisse als „wirtschaftliche Eroberung dieses Marktes“, die durch die Rufe der DDR-Bürger nach „Helmut Kohl und Bananen“ mit ermöglicht wurde.
McClean kritisiert das gängige Narrativ, das die DDR als eine homogene „Stasi-Diktatur“ darstellt. Sie erinnert an ein grundlegend anderes Sozialisationsprinzip: In der DDR wurde vermittelt, dass „jeder wichtig für die Gesellschaft“ sei und seinen Beitrag leiste, was ein starkes Gemeinschaftsgefühl hervorbrachte. Dieses Gefühl wurde durch gemeinsame Arbeit und Freizeitaktivitäten gelebt. Die spätere Zerschlagung von Betrieben durch die Treuhand empfand sie nicht nur als Schließung von Produktionsstätten, sondern als Zerstörung eines „gesamten Netzwerks“ mit allen daran gekoppelten sozialen Einrichtungen wie Polikliniken und Kindergärten. Proteste dagegen, die den Gemeinschaftsgeist zeigten, fänden heute kaum Beachtung.
Bildung, Offenheit und das Erbe des Nationalsozialismus
Ein zentraler Punkt von McCleans Ausführungen ist die radikal andere Sozialisation in Ost und West. Das Bildungssystem der DDR wurde nach 1945 entwickelt, um den Faschismus und kapitalistische Ideologien zu überwinden. Es legte Wert auf „Gemeinschaftserziehung“, „Friedenserziehung“ und persönliche Verantwortung für die Gesellschaft. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus war in der Schule „Hauptthema“ und sehr „umfangreich“, im Gegensatz zur BRD, wo es eher ein privates Tabu war. McClean betont, dass es in der DDR ein juristisches Gewaltverbot in Schulen gab, was in der BRD nicht existierte. Klassenlehrer besuchten die Familien zweimal im Jahr, um die häusliche Situation der Schüler zu verstehen und zu unterstützen.
Auch das Klischee der mangelnden Offenheit in der DDR stellt McClean infrage. Sie erinnert sich an die DDR als einen „riesigen Debattierklub“, in dem ständig über alles geredet wurde, von Pionierversammlungen bis zu Betriebsversammlungen. Wer seine Meinung nicht äußerte, dem war es selbst überlassen. Sie selbst wurde für ihre Gedanken nicht verfolgt.
Der deutsche Literaturbetrieb und die Suche nach Authentizität
Das Buch „Aufgewachsen in Ost und West“ ist auch ein Plädoyer für eine „Basiskultur“ und die Anerkennung individueller Geschichten. Katrin McClean, die seit 1996 Romane, Kurzgeschichten und Hörspiele schreibt und Kurse für kreatives Schreiben anbietet, ist überzeugt, dass jeder Mensch eine „Schreibstimme“ hat, die dem Herzen näher ist als dem Verstand. Die dort entstehenden „Geschichten von unten“ seien oft reicher und berührender als die „offizielle Literatur“.
Die Suche nach einem Verlag für „Aufgewachsen in Ost und West“ war schwierig; es wurde letztlich über einen Self-Publishing-Dienst veröffentlicht und vom Rubikon-Verlag vertrieben. McClean kritisiert den deutschen Literaturbetrieb als „eng ideologischen Korridor“, der zwar kritische Texte über ausländische Diktaturen oder das Leiden unter Erdogan akzeptiert, aber „Nestbeschmutzer“ und kritische Auseinandersetzungen mit der eigenen deutschen Geschichte, insbesondere von ostdeutschen Autoren, kaum zulässt.
Parallelen zur Corona-Pandemie
Katrin McClean zieht bemerkenswerte Parallelen zwischen der Wendezeit und der aktuellen Corona-Pandemie. Sie sieht zwei Phasen, ähnlich wie in der Wende, und eine „Zahlenmystik“ und „Zahlentrickseri“, die damals zum „Bankrott“ der DDR beigeredet wurde, um die D-Mark-Einführung zu rechtfertigen. Heute führe dies zu einer „massiven Umwandlung der Gesellschaft“ und einer Transformation in eine „digitale Selbstverständlichkeit“, die sie als „digitale Treuhand“ des Großkapitals bezeichnet. Sie vermisst das „Aufbegehren“ bei vielen Westdeutschen, die in der Vergangenheit kritisiert hatten, dass Ostdeutsche nicht genug Widerstand geleistet hätten.
Gemeinsam Brücken bauen
Trotz der tiefgreifenden Unterschiede in der Sozialisation und den teils verletzenden Erfahrungen plädiert McClean für eine „echte Wiedervereinigung“, die Vergangenheit ruhen lässt, verzeiht und akzeptiert, anstatt neue Gräben zu ziehen. Das Buch selbst ist ein Versuch, dies zu ermöglichen, indem es individuelle Geschichten über Erlebtes bietet, ohne zu argumentieren oder zu beweisen. Westdeutsche Autoren schrieben darin häufig über ihre Kindheit, während Ostdeutsche ihre Wende-Erfahrungen schilderten.
Katrin McClean ist überzeugt, dass der „Widerstandsgeist“ des DDR-Bürgers, der Manipulationen im Westen erkennt, zusammen mit der Kenntnis der Rechtsstrukturen im Westen zu einer gegenseitigen Ergänzung führen kann. Sie sieht in den aktuellen Demonstrationen und der wachsenden Skepsis gegenüber den Mainstream-Medien im Internet die Chance, dass immer mehr Menschen „langsam durchschaut haben“ und sich selbst informieren.
Das Buch „Aufgewachsen in Ost und West“ ist somit mehr als eine Sammlung von Erzählungen; es ist ein Aufruf zur Selbstreflexion und zum Dialog, um über die Kluft zwischen Ost und West hinweg ein tieferes Verständnis füreinander zu entwickeln und „unsere eigene Geschichte zurückzuerobern“.