Die waghalsige Flucht zweier Familien aus der DDR in die Bundesrepublik ist in einer dramatischen Nacht gelungen. Unbemerkt überquerten sie mit einem selbstgebauten Heißluftballon die scharf bewachte Grenze und ließen ein Leben voller Einschränkungen und politischer Repression hinter sich.
Die Motivation zur Flucht war vielschichtig. Für eine der beteiligten Personen war die Möglichkeit, Physik zu studieren, verwehrt, da der Vater im Westen lebte. Auch die Weigerung, der SED beizutreten, führte zu beruflichen und persönlichen Nachteilen. Die Familie lebte unter dem ständigen Druck der DDR-Behörden, die sie irgendwann „gehabt hätten“, wie sich später aus Stasi-Akten herausstellte.
Die Idee für das waghalsige Unterfangen entstand im März 1978, als die Frau eines der Hauptakteure eine Zeitschrift aus dem Westen mitbrachte. Darin befand sich ein Bericht über das jährliche Ballonfahrertreffen in Albuquerque, New Mexico. Die Bilder der dahinschwebenden Ballons weckten den Gedanken: „So schwer kann das doch gar nicht sein“. Ein einfacher Stoffsack mit heißer Luft – der Traum von der Freiheit nahm Form an.
Die ersten, schwierigen Schritte
Zunächst besaßen die Tüftler keinerlei Fachwissen über Ballons. Sie schätzten die Größe anhand von Fotos in der Zeitschrift. Der erste Versuch mit 1.000 Quadratmetern Sauerstoff-Futterstoff aus einem Lederwerk scheiterte kläglich, da sich der Ballon nicht einmal aufblasen ließ. Es wurde schnell klar, dass es nicht so einfach war, wie gedacht. Berechnungen basierten auf falschen Annahmen bezüglich der Innentemperatur des Ballons. Nach dem Bau eines Messgeräts zur Bestimmung der Luftdurchlässigkeit von Stoffen stieß man auf vier geeignete Materialien: Zelt-Nylon, Regenschirmseide und eine Art Bettzeug-Inlett. Im Konsument-Warenhaus in Leipzig konnten sie glücklicherweise 100 Quadratmeter Stickstoffstoff erwerben, der sich beim ersten Testversuch aufblasen ließ und nachts als bunte Kugel über ihnen stand. Doch die nötige Auftriebskraft fehlte aufgrund unzureichender Temperaturen.
Persönliche Differenzen und die Angst vor Entdeckung führten dazu, dass einer der Männer, der im Gespräch die Geschichte erzählt, sich zunächst gemeinsam mit seiner Frau aus dem Projekt zurückzog und alles aus dem Haus entfernte, was mit dem Ballon in Verbindung gebracht werden konnte. Peter Strelzyk arbeitete jedoch mit seinem Sohn Frank weiter am Ballon. Bei einem dieser Versuche stolperte Frank über Glasflaschen, wodurch eine Flamme aus dem Brenner schlug. Das eigentliche Problem war die Abkühlung und Vereisung der Flaschen während des Heizens.
Ein erster, missglückter Aufstiegsversuch von Peter und Frank Strelzyk scheiterte. Sie gerieten in Kontakt mit Wolken, die Stoffhülle saugte sich mit Feuchtigkeit voll, wurde schwerer und der Ballon sank zurück ins ehemalige Sperrgebiet. Dieser Fehlschlag war für die anderen der Beweis, dass ihr ursprünglicher Ballon von 1978 wahrscheinlich niemals vom Boden abgehoben wäre.
Die Stasi ermittelt – der Zeitdruck wächst
Eine Woche nach dem missglückten Versuch wurde der zurückgelassene Ballon von einem ehemaligen Volkspolizisten gefunden, der widerrechtlich im Sperrgebiet Pilze suchte. Da er sich dort nicht aufhalten durfte, meldete er den Fund nicht. Erst eine Woche später entdeckte ihn ein Jäger, der im Gebiet unterwegs sein durfte, und meldete ihn. Die Stasi begann daraufhin zu ermitteln, und es erschien sogar ein Artikel in der „Volksstimme“ über den Fund von Gegenständen, die auf eine „schwere Straftat“ hindeuteten. Den Familien war klar, dass die Suche nach ihnen lief und sie unter Druck gesetzt werden sollten.
Angesichts des drohenden Zugriffs fragte Peter Strelzyk, ob er noch einmal mitmachen würde. Obwohl es schwierig gewesen wäre, die nötige Zeit aufzubringen, trug der Mann Urlaub für drei Wochen ein, was ihm aber immer noch zu knapp erschien. Am 12. August ließ er sich schließlich wegen Magenschmerzen krankschreiben, die er aufgrund der Belastung tatsächlich hatte, und stand so fünf Wochen zur Verfügung. Ihnen war klar: Sie mussten so schnell wie möglich weg. Spätere Stasi-Akten bestätigten, dass die Behörden nur noch sechs Tage gebraucht hätten, um sie zu fassen.
Der ideale Moment – das Rückseitenwetter
Die ganze Woche über herrschte schlechtes Wetter mit Regen und Sturm. Die Familien verfolgten regelmäßig den Segelflugwetterbericht des Bayerischen Rundfunks. Endlich kündigte sich für Samstagnachmittag an, dass die Schlechtwetterfront durchziehen und ein sogenanntes „Rückseitenwetter“ einsetzen würde. Rückseitenwetterlagen sind stabil, und es wurde Höhenwind von 50 km/h, kaum Bodenwind (nahezu null) und Wind aus Nord angekündigt – die idealen Voraussetzungen für ihren Plan.
Mit Hochdruck wurde der Ballon fertiggestellt. Da die Zeit drängte, wurden die 60 Stoffbahnen, die in unterschiedlichen Längen ankamen, nicht wie ursprünglich geplant an einem großen Stahlrahmen befestigt. Stattdessen wurden die zwölf Pragseile einfach verknotet und mit einem Stoffkapitel abgedeckt, um das Loch zu schließen. Für Tests blieb keine Zeit mehr; man entschloss sich zum direkten Nachtversuch.
Die Nacht der Flucht
Die Familien fuhren gegen Mitternacht zu einer Anhöhe in der Nähe von Pößneck. Der Wind und die Richtung schienen zu passen. Mit einem Wartburg und einem umgebauten Trabant-Mustang, der ein selbstgebautes Gebläse zum Befüllen des Ballons enthielt, erreichten sie den Startplatz. In der mondhellen Nacht warteten sie bis etwa halb zwei Uhr morgens, um sicherzustellen, dass sich niemand in ihrer Umgebung bewegte.
Um 2:10 Uhr wurde das Gebläse angeworfen. Der Lärm wurde bewusst in Kauf genommen, da der Startplatz an einer Bahnlinie lag, deren Geräusche den Ballonlärm überdecken sollten. Der Ballon füllte sich und richtete sich auf. Die Frauen holten die Söhne aus den Autos, und alle stiegen in die Gondel. Um ein Wegwehen zu verhindern, war die Gondel mit vier Seilen am Boden verankert.
Dramatische Sekunden in der Luft
Als die ersten beiden Seile diagonal durchgeschnitten wurden, verlagerte sich die Kraft auf die verbliebenen. Gleichzeitig heizte Peter weiter, die Zugkraft nahm stark zu, und die Verankerung wurde aus dem Boden gerissen. Die Verankerung flog hoch und traf Frank Strelzyk am Kopf, der ein blutiges Gesicht davontrug. Die Gondel hing nun nur noch an einem Seil, neigte sich zur Seite, wodurch die Flamme des Brenners in die Ballonhülle geriet und diese Feuer fing. Geistesgegenwärtig schnappte sich einer der Männer einen mitgeführten Feuerlöscher und löschte den Brand, während die anderen das letzte Seil durchtrennten. Die Gondel richtete sich wieder auf, und die Gefahr war gebannt.
Der Ballon stieg schnell auf und begann sich zu drehen, was die Navigation unmöglich machte. Doch in der Ferne entdeckte man einen großen, hell erleuchteten Kreis – es musste der Grenzübergang Rudolphstein sein, da Autos fuhren. Die starken Scheinwerfer des Grenzübergangs, die sie nicht erreichten, zeigten, dass sie gesehen wurden. Nach einiger Zeit erloschen die Scheinwerfer wieder.
Der Absturz und die Ankunft im Westen
Plötzlich erlosch auch der eigene Brenner. Nach mehreren Versuchen, die Flamme wieder zu entzünden, wurde klar: Die Gasflaschen waren leer, nicht nur zu kalt. Der Ballon begann zu sinken, nichts konnte mehr dagegen unternommen werden. Ein zum Landescheinwerfer umgebauter Fernseher im Pkw wurde eingeschaltet, um die Umgebung zu beleuchten. Die Gondel raste durch Fichtengipfel, und dann krachte es.
Wo sie waren, wussten sie nicht. Sie beschlossen, Richtung Süden zu gehen, da sie den Mond dort zuletzt gesehen hatten. Die ersten Anzeichen waren vielversprechend: Die Felder waren relativ klein und es gab typische Thronen (Heuhaufen) – beides untypisch für die DDR, wo so etwas weitgehend abgebaut worden war. Dann stießen sie auf einen Strommasten mit einem Schild: „Überlandwerk Naila“. Der Begriff „Überlandwerk“ war in der DDR unbekannt, und Naila ein bekannter Ort in Westdeutschland.
An einem Bauernhof sahen sie in einer Scheune Fendt-Miststreuwagen stehen – Fendt-Fahrzeuge waren eindeutig westlich. Als ein Pkw auf einem Landwirtschaftsweg auf sie zukam, dessen Standlicht sie als West-Auto identifizierten, fragte einer der Männer: „Sind wir hier im Westen?“ Die Antwort: „Was sonst!“.
Mit einer Silvesterrakete, die er dabeihatte, gab der Mann ein Signal, das seine Frau verstand. Aus dem Gebüsch kamen sie jubelnd hervor, und auch den zurückgelassenen Kindern wurde klar, dass sie es geschafft hatten.
Rückblick auf eine gewagte Entscheidung
„Ich bin froh, dass wir die Entscheidung damals getroffen haben, aber mit dem Wissen von heute würde ich so bestimmt nicht mehr machen“, reflektiert einer der Beteiligten. Eine solch lebensgefährliche Flucht, die so viel Glück erforderte, ist ein Zeugnis menschlichen Mutes und des tiefen Wunsches nach Freiheit.