Mehr als 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sitzen ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) nicht nur in den Erinnerungen ihrer Opfer fest – sie beeinflussen nach wie vor politische und behördliche Entscheidungen in Ost und West. Der skandalöse Befund: Ehemalige Stasi-Offiziere verharmlosen in Vereinen und Publikationen die DDR-Diktatur als „Friedensstaat“, während manche von ihnen sogar in Parlamenten und Sicherheitsbehörden tätig sind.
Alte Netzwerke, neue Geltung
Schon kurz nach der Wende gründeten sich zahlreiche Zusammenschlüsse ehemaliger Stasi-Angehöriger. Heute ist vor allem die Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung (GRH) mit rund 1.400 Mitgliedern im Visier von Verfassungsschutz und Opferverbänden. In internen Seminaren und Publikationen werden DDR-Grenzanlagen als „gesicherte Grenze“ verklärt und das tödliche Schießregime an der innerdeutschen Grenze verharmlost. Für Zeitzeugen wie Edda Schönherz, die in den 1970er Jahren im Untersuchungshaftgefängnis Hohenschönhausen inhaftiert war, ist das „blanker Horror“: „Da werden unsere Folterer zu Friedenswächtern verklärt“, empört sich die einstige Gefangene.
Der Schatten der Stasi im öffentlichen Dienst
Eine Studie der Universität Leipzig aus dem Jahr 2009 stellte fest, dass tausende ehemalige Stasi-Mitarbeiter in Ostdeutschland nahtlos in den Staatsdienst übernommen wurden – vom Landeskriminalamt bis hin zum Personenschutzkommando der Bundeskanzlerin. Verantwortliche in Ministerien hoben in den Akten meist nur den Wehrdienstaspekt hervor, ohne die tatsächlichen IM- oder Offiziersfunktionen transparent zu machen. Heute sitzen laut Recherchen von Netzwerken der Opferverbände ehemalige Wachregimentler und Aufklärer in Landesparlamenten: Einige Abgeordnete der AfD sowie der Linken sollen laut internen Dokumenten Kontakte zu ehemaligen Stasi-Strukturen haben beziehungsweise ihre Vergangenheit verschweigen.
Opfer fordern klare Kante
Für die Opfer steht fest: Ohne konsequente Aufarbeitung kann keine Versöhnung gelingen. Martina K., die 1983 in Bautzen monatelang inhaftiert war, erinnert sich an ständige Bedrohung und psychische Zermürbung: „In meiner Stasi-Akte steht das Wort ‚vernichten‘ – und heute sollen jene Menschen in Ministerien sitzen?“ Sie fordert, dass jede Person, die einst im MfS diente, ihre Akte offenzulegen hat. „Wer lügt, hat in einer Demokratie nichts zu suchen.“
Verharmlosung als politisches Problem
Die Aktivitäten der GRH und ähnlicher Gruppierungen rücken zunehmend ins Visier der Bundesregierung. Innenpolitiker fordern eine Neubewertung des Vereinsrechts: Sollten Organisationen, die die SED-Diktatur glorifizieren, verboten werden? Während Experten wie der Historiker Dr. Enrico Paust von der Universität Jena warnen, dass ein Verbot allein die Problematik nicht löse, plädieren Opfervertreter für ein stärkeres zivilgesellschaftliches Engagement. „Wir brauchen Aufklärungsarbeit in Schulen und klarere Transparenzpflichten für Beamte“, so Paust.
Warum die Aufarbeitung stockt
Ein zentrales Hindernis ist die vernichtete oder unleserliche Überlieferung: In den letzten Tagen der DDR wurden nach Schätzungen bis zu zehn Prozent der Stasi-Akten geschreddert oder verbrannt. Viele Dokumente lassen sich nur bruchstückhaft rekonstruieren. Hinzu kommt die juristische Grauzone: Der Einigungsvertrag von 1990 regelte zwar die Übergabe der Unterlagen, setzte aber keine individuellen Eignungsprüfungen für die Übernahme in den Staatsdienst durch.
Ausblick: Wie weiter?
- Transparenzoffensive: Opferverbände fordern ein verpflichtendes Register aller ehemaligen MfS-Mitarbeiter in öffentlichen Ämtern, sobald ihre Akten dies belegen.
- Bildung und Aufklärung: Lehrpläne sollen die DDR-Diktatur umfassender behandeln und Zeitzeugen stärker einbinden.
Zivilgesellschaftliche Wachsamkeit: Politische Parteien und Verwaltungen müssen interne Aufklärungsprozesse etablieren und klar kommunizieren.
Ob diese Maßnahmen reichen, um das „Erbe der Stasi“ endgültig zu bewältigen, bleibt offen. Fest steht jedoch: Ein demokratisches Gemeinwesen, das auf Offenheit und Verlässlichkeit baut, kann es sich nicht leisten, die dunklen Kapitel seiner Geschichte weiterhin zu ignorieren.