Erfurt. Dr. Karin Sczech, die neue Beauftragte für die UNESCO-Welterbebewerbung in Erfurt, lud zu einer virtuellen Exkursion in die spätmittelalterliche Mikwe der Stadt ein. Im Rahmen der digitalen Führung gewährte sie Einblicke in die archäologische Entdeckung, die rituelle Bedeutung und die baulichen Veränderungen jenes jüdischen Ritualbads, das seit 1349 Teil der Erfurter Stadtgeschichte ist.
Bereits bei den vorbereitenden Umgestaltungen eines städtischen Geländes stießen Archäologen auf erstaunlich gut erhaltene Mauerreste. Unter Leitung von Dr. Sczech legte das Team eine rechteckige Anlage frei, deren Gewölbe und tragende Mauern aus Sandsteinblöcken heute noch sichtbar sind. „Die Mikwe war für das mittelalterliche Gemeindeleben von zentraler Bedeutung“, erläuterte Sczech. Nur durch Führungen – nun auch digital – sei ein Blick in die verborgenen Wasserbecken möglich.
Die Mikwe diente vor allem den jüdischen Frauen zur rituellen Reinigung nach Menstruation oder Geburt. Männer nutzten das Becken ebenfalls, wenn sie im religiösen Sinn „unrein“ geworden waren – etwa durch den Kontakt mit Verstorbenen. Auch Geschirr, das durch Vermischung von Fleisch- und Milchprodukten als verunreinigt galt, musste hier saniert werden. Dr. Sczech verdeutlichte: „Ohne Mikwe wäre das Zusammenleben in Familien und in der Gemeinde kaum vorstellbar gewesen.“
Architektonisch gliedert sich der Bau in mindestens zwei Phasen. Von der ältesten ist lediglich eine einzelne Mauer erhalten, die Hinweise auf eine Anlage bereits vor dem 13. Jahrhundert gibt. Die zweite, im 14. Jahrhundert errichtete Hauptbauphase präsentierte sich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der virtuellen Tour mit ihrem imposanten Gewölbe und den Spuren der nach 1349 nötigen Wiederaufbaumaßnahmen nach dem verheerenden Pogrom. Sandsteinblöcke, teils sekundär verbaut, und Mörtelabdrücke legen Zeugnis ab von Zerstörung, Raubbau und Neuerrichtung. Ein kleines Steinrelief, heute kopfüber in die Wand eingelassen, verweist auf die bewusste Auswahl edler Materialien.
Anders als vielfach angenommen wurde das Becken nicht mit Flusswasser der nahen Gera gefüllt – zu verschmutzt –, sondern über Grundwasser gespeist, um die religiellen Vorschriften für „mayim chayim“ („lebendiges Wasser“) zu erfüllen. Im Westen führte ein Treppenaufgang zur Eintauchzone; eine Lichtnische im Mauerwerk erleichterte das Auffinden der letzten Stufen im Dunkel. Von dieser ursprünglichen Konstruktion sind heute nur noch Andeutungen zu sehen, denn christliche Nachnutzer entnahmen nach Aufgabe des Ritualbads alle verwertbaren Steine und entfernten die Zugänge.
Das rituale Ende der Mikwe markierte die Vertreibung der jüdischen Gemeinde im 15. Jahrhundert, gefolgt vom verheerenden Stadtbrand von 1472, der den Vorraum zum Einsturz brachte. In der Folge diente der östliche Gebäudeteil als Kellerraum, bis das Bauwerk im 20. Jahrhundert gänzlich außer Gebrauch geriet.
Annika Taute resümiert: Die virtuelle Führung macht die Mikwe, ein unscheinbares, aber hoch bedeutsames Relikt jüdischen Lebens, im digitalen Raum erlebbar. Sie lädt dazu ein, die historischen Schichten zwischen Zerstörung und Wiederaufbau nachzuempfinden – und wirft zugleich ein Schlaglicht auf die Notwendigkeit, dieses Kulturerbe für kommende Generationen zu bewahren.