Verraten, inhaftiert, freigekauft: Die Kinderärztin Renate Werwigk-Schneider überlebte das berüchtigte Frauenzuchthaus Hoheneck und fand ihren Weg in die Freiheit. Ihre Geschichte ist eine Mahnung gegen das Vergessen.
Es war ein sonniger Sonntag, der 13. August 1961, als für die 22-jährige Medizinstudentin Renate Werwigk-Schneider die Welt zusammenbrach. Mitten in den Semesterferien in Teupitz erreichte sie die Nachricht: „Berlin ist zu.“ Was zunächst unvorstellbar klang, wurde an der Bernauer Straße zur brutalen Realität. Menschen sprangen aus Fenstern, Familien wurden zerrissen. Für die junge Frau stand fest: In diesem Staat, der seine Bürger einsperrt, wollte sie nicht leben. Doch der Weg in die Freiheit sollte durch die Hölle führen.
Renate Werwigk-Schneiders Biografie liest sich wie ein Thriller, der die Perfidie des DDR-Regimes in aller Härte offenlegt. Zweimal versuchte sie zu fliehen. Zweimal scheiterte sie. Der erste Versuch 1963 durch einen Tunnel in der Brunnenstraße endete, bevor er begann. Die Stasi hatte das Projekt unterwandert; ein Kurier war an eine Spitzelin geraten, die ihm Liebe vorgespielt hatte. Renate und ihr Vater wurden verhaftet.

Doch der Wille zur Freiheit war stärker als die Angst. 1967 wagte sie den zweiten Versuch – diesmal über Bulgarien in die Türkei. Mit einem gefälschten Pass und der Hilfe ihres Bruders, der bereits im Westen war, und dessen Freund Dieter Schneider, ihrem späteren Ehemann. Doch am Grenzübergang Kapitan Andreewo war es nicht der „schlecht gefälschte Stempel“, der sie verriet, wie sie jahrzehntelang glaubte. Es war die nackte Angst des bulgarischen Taxifahrers, dessen Zittern die Grenzer alarmierte.
Was folgte, war das dunkelste Kapitel ihres Lebens: Hoheneck. Die „Mörderburg“. In dem sächsischen Frauenzuchthaus wurde die Kinderärztin nicht wie eine politische Gefangene behandelt, sondern gezielt gedemütigt. Sie teilte sich eine Zelle mit verurteilten Kindsmörderinnen. „Du bist auch nichts Besseres als wir“, herrschten diese sie an – ein Satz, der sich einbrannte. Tagsüber Zwangsarbeit im Akkord an der Nähmaschine, nachts die Angst vor Übergriffen. Die Bettwäsche, die sie unter unmenschlichen Bedingungen nähte, landete später im Westen, im Katalog von Neckermann. Bis heute kann Renate Werwigk-Schneider das Summen einer Nähmaschine nicht ertragen; es löst körperliche Übelkeit aus.
Erst der Freikauf durch die Bundesrepublik im Jahr 1968, eingefädelt durch den Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, brachte die Rettung. Renate Werwigk-Schneider baute sich in West-Berlin eine Existenz auf, wurde eine geschätzte Kinderärztin mit eigener Praxis. Doch die Spuren der Haft blieben. Die „Knastmacke“, wie sie es nennt, zwingt sie dazu, Türen auszuhängen oder unverschlossen zu lassen. Geschlossene Räume bedeuten Panik.
Ihre Geschichte ist aber auch die Tragödie ihrer Eltern. Der Vater, ein Arzt und Pfarrer, zögerte zu lange, wollte seine Patienten nicht im Stich lassen. Als sie Jahre später, längst im Rentenalter, doch noch flohen, war es zu spät für einen Neuanfang. Sie starben im Westen, zerfressen von Heimweh nach ihrem geliebten Teupitz.
Heute geht Renate Werwigk-Schneider in Schulen. Sie erzählt Jugendlichen, was es bedeutet, wenn Demokratie stirbt. Ihre schmerzhaften Erinnerungen hat sie unter dem Titel „Renate Werwigk-Schneider: Ein bisschen Diktatur gibt es nicht“ auch als Buch veröffentlicht. Ihr Credo darin ist so simpel wie eindringlich und heute aktueller denn je: Ein bisschen Diktatur gibt es nicht.