Je weiter der Mauerfall in die Ferne rückt, desto wärmer scheint das Licht, in dem die Deutsche Demokratische Republik in der kollektiven Erinnerung vieler Menschen erstrahlt. Doch dieser nostalgische Rückblick, oft als „Ostalgie“ bezeichnet, ist mehr als nur eine harmlose Marotte. Er wirkt wie eine kollektive Blockade, die eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und damit auch die Lösung gegenwärtiger Probleme verhindert. Zu diesem Schluss kommt der Historiker Frank Trentmann in seinem neuen Buch „Die blockierte Republik“, das er kürzlich im Gespräch mit Gert Scobel vorstellte.
Ostalgie als gesellschaftlicher Balsam
Trentmann beobachtet ein faszinierendes Phänomen: Die DDR-Vergangenheit wird zunehmend „rosaroter“ gemalt, und zwar oft von jenen, die sie kaum oder gar nicht bewusst miterlebt haben. Anders als die 68er-Generation im Westen, die rebellisch mit ihren Eltern brach, neigen jüngere Ostdeutsche heute dazu, die Lebensleistung ihrer Eltern zu verteidigen. Sie versuchen, den Biografien der Älteren, die nach 1990 oft Brüche erlitten, ihren „Wert zurückzugeben“. Diese Form der Erinnerung wirkt laut Trentmann wie ein „Balsam“. Sie lindert den Schmerz der Transformationsjahre, macht aber gleichzeitig blind für die historischen Fakten.
Der Mythos von der stabilen Wirtschaft
Ein zentraler Punkt der verklärenden Erinnerung ist die wirtschaftliche Lage. Heutige Probleme im Osten – von Strukturschwäche bis Abwanderung – werden im populären Diskurs oft monokausal der Treuhand und der westdeutschen Übernahme nach 1990 angelastet. Trentmann hält als Historiker dagegen: Viele dieser Probleme waren systemisch in der DDR angelegt.
Die massive Abwanderung qualifizierter Kräfte begann bereits in den 1950er Jahren und war der eigentliche Grund für den Mauerbau. Und ökonomisch stand das Land längst vor dem Abgrund. Trentmann verweist auf interne SED-Dokumente, wonach bereits 1988 ein gutes Drittel der volkseigenen Betriebe faktisch bankrott war. Die Ostalgie dient hier als Schutzschild, um sich nicht mit dem fundamentalen Scheitern der Planwirtschaft auseinandersetzen zu müssen.
Die gefährliche Trennung von Alltag und Diktatur
Am kritischsten bewertet Trentmann jedoch die Tendenz, das „normale Leben“ in der DDR von der politischen Realität abzukoppeln. Es entsteht das Bild eines eigentlich ganz angenehmen Alltags mit sicheren Arbeitsplätzen und guter Kinderbetreuung, der nur zufällig in einer Diktatur stattfand. Diese Sichtweise ist fatal für das demokratische Bewusstsein. Denn in einem totalitären Staat sind Alltag und Herrschaftssystem untrennbar verwoben – von der ideologischen Erziehung in der Kita bis zur Überwachung am Arbeitsplatz.
Zudem räumt das Gespräch mit dem Mythos der klassenlosen Gesellschaft auf. Auch die DDR kannte Ungleichheit, Privilegien für Funktionäre und einen sozialen Status, der sich über den Zugang zu knappen westlichen Konsumgütern definierte.
Die Schlussfolgerung aus Trentmanns Analyse ist unbequem: Solange die Erinnerung an die DDR eher von nostalgischen Gefühlen als von historischen Fakten geleitet wird, bleibt ein Teil der Republik mental blockiert. Eine ehrliche Zukunft braucht eine ungeschminkte Vergangenheit.