Leipzig, 4. November 1989. Die Montagsdemonstration in Leipzig hat an diesem Abend eine neue, besorgniserregende Dimension erreicht. 150.000 Bürgerinnen und Bürger folgten dem Ruf, doch die Stimmung war nicht länger allein von der friedlichen Hoffnung auf Reformen geprägt. Während in fünf Kirchen der Stadt Friedensgebete den Abend einleiteten, sammelte sich auf den Straßen eine Masse, deren zentrale, unüberhörbare Forderung die nach der Deutschen Einheit war – begleitet von einer Aggressivität, die selbst die Organisatoren des Protests in Angst versetzte.
Die Hauptforderung des Tages, „Deutschland einig Vaterland!“, dominierte die Transparente und Sprechchöre. Plakate wie „44 Jahre Teilung ist eine lange Zeit, zur Wiedervereinigung sind wir bereit“ zeugten von einer rapiden Verschiebung der politischen Ziele, weit über die ursprünglichen Forderungen nach Reisefreiheit und Reform der DDR hinaus.
Der Galgen und die Buh-Rufe
Die friedliche Gesinnung, die in den Wochen zuvor als Legitimation der Bewegung galt – „Keine Gewalt“ –, stand an diesem Abend auf Messers Schneide. Die Anspannung entlud sich bereits, als eine kleine Gruppe von Studenten versuchte, mit Plakaten gegen Wiedervereinigung und Rechtsradikalismus zu demonstrieren. Sie wurden mit Buh-Rufen und Sprechchören wie „Rote aus der Demo raus“ niedergebrüllt.
Die Eskalation kulminierte, als der Demonstrationszug zum Hauptbahnhof aufbrach: Unter „wildem Freudengeheul“ wurde ein metergroßer Galgen geschwenkt, an dessen Strick eine Tafel die Namen der gestürzten Führungsriege – Honecker, Mittag und Tisch – trug. Die Versuche von Vertretern des NEUEN FORUM, die teilweise durch Alkohol aufgeputschte Menge zur Vernunft und Mäßigung aufzurufen, blieben weitgehend ungehört. Gegenstimmen wurden in Ekstase niedergebrüllt. Der Wunsch nach „konsequenter Abrechnung mit den Schuldigen“ nahm an diesem Abend eine physisch bedrohliche Form an.
Besetzung der Stasi-Zentrale
Der vielleicht wichtigste, aber auch gefährlichste Moment des Abends ereignete sich am Gebäude der Staatssicherheit. Zehntausende Demonstranten drängten auf das Areal. Nur eine lebende Kette des NEUEN FORUM konnte die Massen zurückhalten. Über Lautsprecher wurde bekannt gegeben, dass bereits fünf Mitglieder von Oppositionsgruppen das Gebäude besetzt hatten, um die Vernichtung belastender Akten zu verhindern.
Dieser Akt der Selbstermächtigung, der im frenetischen Jubel der Menge gipfelte, sicherte jedoch auch eine gewisse Kontrolle. Erst eine Stunde später ließen die ersten Demonstranten von ihrem Vorhaben ab, als sie erfuhren, dass Bürger und Fotografen im Inneren die Versiegelung der Räume beaufsichtigten.
Die Welle im gesamten Land
Der Protest war an diesem 4. November nicht auf Leipzig beschränkt, sondern zog sich als eine Welle der Empörung und der Forderungen durch die gesamte DDR:
Suhl und Schwerin (10.000 Teilnehmer) marschierten zum Bezirksamt für Nationale Sicherheit, alarmiert durch Gerüchte über Aktenvernichtung. Hier dominierte die Forderung „Korrupte Räuber hinter Gitter“.
In Dresden bekräftigten mehr als 60.000 Bürger ihre Bereitschaft zum politischen Warnstreik.
In Halle forderten Zehntausende vor allem wirksamere Maßnahmen des Umweltschutzes, während in Cottbus Frauen und Kinder eine neue Familien- und Bildungspolitik sowie den Erhalt der Umwelt verlangten.
Selbst in der Nationalen Volksarmee (NVA) regte sich Widerstand: In Bad Frankenhausen marschierten etwa 300 Armeeangehörige mit brennenden Kerzen auf und forderten „Stasi raus“ und Reformen.
Gegenwind der SED
Nicht überall war die Forderung nach der Einheit unangefochten. In Frankfurt an der Oder versammelten sich mehrere tausend Menschen zu einer Kundgebung, zu der die SED aufgerufen hatte. Hier wurde der Aufruf „Für unser Land“ unterstützt und eine Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland explizit abgelehnt.
Der 4. November 1989 markiert einen Wendepunkt: Die Bürgerbewegung hat ihre Macht eindrücklich demonstriert, doch die klare, aggressive Forderung nach der Deutschen Einheit überdeckte viele der ursprünglichen Reformanliegen. Die Sorge, dass die Bewegung ihre gewaltfreie Grundlage verlieren könnte, ist real geworden. Die DDR steht am Scheideweg zwischen friedlicher Revolution und einem drohenden Chaos der Abrechnung.