Tanz auf dem sinkenden Schiff: Wenn Clowns den Faust sezieren

Ein wiederentdecktes Dokument aus dem Jahr 1991 zeigt Hans-Eckardt Wenzel und Steffen Mensching bei der Arbeit. Die Doku „Die Meisenwürger proben“ ist mehr als ein Werkstattbericht – sie ist ein Psychogramm der deutschen Wendezeit, eingefangen zwischen Goethe-Versen und Boxkampf-Parodien.

Es ist das Jahr 1991. Die DDR ist Geschichte, die „neuen Bundesländer“ sind Realität, und der Deutsche Fernsehfunk (DFF) sendet seine letzten Signale, bevor er abgewickelt wird. In dieser Zeit des kulturellen und politischen Vakuums entstand ein bemerkenswertes Stück Zeitgeschichte, das in der Reihe „Das Fenster“ ausgestrahlt wurde: Eine Dokumentation über die Proben des legendären Clowns-Duos Wenzel & Mensching (Hans-Eckardt Wenzel und Steffen Mensching).

Das Video, ein rauer, ungeschönter Blick in den Maschinenraum der Kunst, zeigt zwei Getriebene, die versuchen, in einer Welt, die ihren Sinn verloren zu haben scheint, neue Bedeutungen zu erzwingen.

Goethe im Schwitzkasten
Wer Wenzel und Mensching – oft in ihren Rollen als die Clowns „Weh“ und „Meh“ – kennt, weiß, dass ihre Arbeit nie bloße Unterhaltung war. Es war stets der Versuch, die deutsche Klassik vom Sockel zu holen, um zu sehen, ob sie darunter noch atmet. In der Dokumentation erleben wir eine quälend präzise Dekonstruktion von Goethes „Willkommen und Abschied“.

„Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde…“ – immer wieder bricht Wenzel ab, korrigiert, sucht nach dem richtigen Gestus der Verzweiflung. Es ist keine Rezitation, es ist ein körperlicher Kampf mit dem Text. Die Kamera fängt Momente ein, in denen die Hochkultur auf den nackten Boden der Tatsachen kracht. Wenn sie den Faust proben, dann nicht als Gelehrten-Drama, sondern als Dialog zweier gescheiterter Existenzen, vielleicht in einer Dusche, vielleicht im Jenseits. „Habe nun, ach! Philosophie…“ klingt hier nicht nach Erkenntnisdrang, sondern nach dem Kater nach einer durchzechten Nacht der Geschichte.

„Jetzt bleibt uns ja nicht mal mehr die Flucht“
Der vielleicht stärkste Moment der Dokumentation ist ein leiser. In einer kurzen Pause, zwischen den schweißtreibenden Szenen, fällt der Satz: „Jetzt bleibt uns ja nicht mal mehr die Flucht.“

In diesem Satz kondensiert das Lebensgefühl vieler Intellektueller der ehemaligen DDR kurz nach der Wende. Der Gegner, an dem man sich rieb, der Staat, der einen einsperrte, aber auch definierte, ist verschwunden. Was bleibt, ist eine grenzenlose Freiheit, die sich seltsam leer anfühlt. Die „Meisenwürger“, wie das Programm heißt, sind Vögel, die ihre eigene Art jagen – oder sind es die Künstler selbst, die sich gegenseitig zerfleischen, weil das Außen weggebrochen ist?

Der Boxkampf als Metapher
Gegen Ende des Films explodiert die aufgestaute Energie in einer furiosen Nummer: Die Nachstellung des legendären Boxkampfes zwischen Max Schmeling und Joe Louis. Mensching, der den Radiokommentar spricht, peitscht die Szenerie an, während Wenzel, der den geschlagenen Schmeling (oder ist es der „braune Bomber“ als Symbol für das geschlagene Deutschland?) mimt, taumelt.

Es ist eine Tour de Force, körperlich und stimmlich. Der Kampf im Ring wird zum Kampf ums Überleben in einer Arena, deren Regeln sich gerade grundlegend geändert haben. Das „linke Auge völlig zugeschwollen“, wie es im Kommentar heißt – man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier auch der Blick auf die linke Utopie gemeint ist, der nun getrübt, wenn nicht gar blind geschlagen ist.

Ein Dokument der Übergangszeit
Die Kameraführung ist direkt, oft handgehalten, das Bild körnig. Es gibt keine Hochglanz-Ausleuchtung. Das passt perfekt zur Stimmung. Man sieht den Schweiß, die Erschöpfung in den Gesichtern von Wenzel und Mensching. Sie wirken wie zwei Handwerker, die wissen, dass ihr Haus abgerissen wird, und die dennoch beschließen, noch schnell den schönsten, traurigsten und wahnwitzigsten Kachelofen der Welt in das Wohnzimmer zu bauen.

Diese 30 Minuten sind mehr als eine Probe. Sie sind ein Abschiedsgesang. Oder wie es im Stück heißt: „Ein ruhiger Platz zum Tanzen.“ Wenzel und Mensching haben ihn gesucht, mitten im Orkan der Wiedervereinigung, und für kurze Zeit auf der Bühne gefunden.

Hans-Eckardt Wenzel und Steffen Mensching prägten mit ihren Programmen „Neues aus der DaDaeR“ und „Letztes aus der DaDaeR“ die politische Kleinkunst der späten DDR und der Wendejahre maßgeblich. Ihre Figuren Weh und Meh gelten als ostdeutsche Pendants zu Wladimir und Estragon aus Becketts „Warten auf Godot“.