Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) versprach ihren Kindern „die ganze Liebe unseres Volkes und die besondere Fürsorge unserer Regierung“. Doch für fast 500.000 Kinder und Jugendliche, die einen Teil ihres Lebens in den über 700 Erziehungsheimen der DDR verbringen mussten, sah die Realität oft anders aus. Diese Einrichtungen reichten von „normalen Kinderheimen“ bis zu den gefürchteten „Spezialheimen“ und „Jugendwerkhöfen“, wobei der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau als der schlimmste galt und heute eine Gedenkstätte ist.
Das System der Umerziehung und die Einweisung
Historiker Ingolf Nitschke, Projektleiter der Gedenkstätte Torgau, erklärt, dass etwa vier Fünftel der Heime Normalheime waren, in die Kinder und Jugendliche mit „normalen Erziehungsproblemen“ kamen. Als „schwer erziehbar“ kategorisierte Kinder und Jugendliche wurden hingegen in Spezialheime eingewiesen. Das übergeordnete Ziel aller Erziehungsbemühungen in der DDR war die Formung einer „so genannten eingebildeten fatalistischen Persönlichkeit“, die sich den Zielen und Vorstellungen der DDR bedingungslos unterwarf. Wer dazu nicht bereit war, lief Gefahr, ins Heim zu kommen.
Die Gründe für eine Einweisung waren oft erschreckend willkürlich und basierten auf der Vorstellung, das „Individuum zu brechen“, anstatt eine überzeugte sozialistische Persönlichkeit zu formen. Beispiele hierfür sind:
• Ein Vater, der im Krieg fiel, und eine Mutter, die allein zu schwach war und ihrem Sohn „zu viel Freiheit“ ließ.
• „Abenteuerlust“ oder die Lektüre „billiger Hefte“ und „gefährlicher Filme“.
• Die Weigerung, einen Schulabschluss zu machen, wie bei der 16-jährigen Corinna Thalheim, die sich selbst um Hilfe bat und stattdessen in den Jugendwerkhof Wittenberg kam.
• Die Mutter von Alexander Müller, die einen Protest gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann unterschrieb und zur Strafe in den Schichtdienst einer Textilfabrik gezwungen wurde. Der damals zehnjährige Alex war daraufhin oft sich selbst überlassen und schwänzte die Schule, was für ein Spezialkinderheim ausreichte.
Alltag der Demütigung und Zwangsarbeit
Das Leben in den Heimen war oft von militärischer Strenge geprägt. Dietmar Hummel, der zehn Jahre in einem Kinderheim verbrachte, beschreibt den Alltag als „Stillstehen und in und Meldung machen“. Ein strikt geregelter Tagesablauf, Appelle und „vormilitärische Ausbildung“ gehörten dazu.
Arbeit und Ausbildung: Die meisten Jugendlichen mussten als Hilfskräfte in Betrieben der Umgebung arbeiten. Corinna Thalheim wurde beispielsweise eine „Teilfacharbeiterin als Klofrau“, eine „billige Version der Putzfrau“. Marianne Kastrati und andere Mädchen mussten in verschiedenen Betrieben arbeiten, von der Textilfabrik bis zur Fleisch- und Wurstwarenfabrik, wo sie überall „in die Ecke gedrängt“ und „schlecht behandelt“ wurden. Für viele endete die Schulausbildung nach der achten Klasse, und sie erhielten lediglich eine „Teilberufsausbildung“, oft in Hauswirtschaft oder als Gärtner. Vieles bestand aus Putz-, Säuberungsarbeiten oder Gemüseschälen.
Strafen und Misshandlungen: Die Heime waren geprägt von einem System harter Strafen.
• Besenkammern und Keller: Dietmar Hummel erinnert sich, dass fast jedes Kind im Heim Anna Schumann in der Besenkammer unter der Treppe eingesperrt wurde, oft wegen belangloser Vergehen. Dies konnte mehrere Stunden dauern, in einer dunklen Kammer, in der es kein Licht gab. Es gab auch „Gefängnisse“ im Haus, kalte oder extrem heiße Kellerräume, in denen die größte Angst war, „vergessen zu werden“.
• Psychische Folter: Im Durchgangsheim wurde Corinna Thalheim 24 Stunden am Tag gesagt, sie sei „nichts wert“, passe „nicht in diese Welt“ und sei „dumm“, was sie fühlen ließ, „als wäre man ein Stück Dreck“. Das Selbstwertgefühl der Kinder war „gleich null“.
• Körperliche Misshandlung und Demütigung: Corinna Thalheim erlebte ein sogenanntes „Aufnahmeritual“ oder „Reinigungsritual“, bei dem sie sich nackt vor 19 Mädchen ausziehen und unter der Dusche mit Bürsten und Streumittel bis zum Entstehen offener Wunden gereinigt werden musste. Alexander Müller wurde als „konterrevolutionäres Element“ bezeichnet und erlebte, wie Erzieher, die auch Parteisekretäre waren, Jugendliche anstifteten, ihn zu verprügeln, nachdem er eine Bibel erhalten hatte.
Torgau: Das „Schlimmste“ der Heime
Torgau, der Geschlossene Jugendwerkhof, war die Endstation für viele, die sich nicht anpassen wollten. Wer hierher kam, musste zunächst bis zu zwölf Stunden schweigend mit dem Gesicht zur Wand warten. Die Haare wurden geschoren, es gab Anstaltskleidung, und zur Begrüßung Einzelarrest zwischen drei und zwölf Tagen.
• Der „Fuchsbau“: Corinna Thalheim musste drei Tage in einer „Fuchsbau“ genannten Arrestzelle verbringen – ein kleines Loch, in das man kriechen musste und in dem man weder stehen noch liegen konnte. Sie beschreibt, wie sie dort „mit meinem Leben abgeschlossen“ hatte und ihr gesagt wurde: „Du kommst du nicht wieder raus, die Sonne siehst du nie wieder“.
• Exzessiver Sport: Zu den Qualen gehörte exzessiver Sport auf der „Sturmbahn“, oft nach der Arbeit, mit täglich 350 Liegestützen, Strecksprüngen und Kniebeugen.
• Sexueller Missbrauch: Corinna Thalheim berichtet, dass das Schlimmste, was ihr angetan wurde, sexueller Missbrauch durch den Direktor des Hauses war, der seine Machtposition ausnutzte und Handlungen ausüben ließ.
Spurensuche und der Kampf um Aufarbeitung
Viele der ehemaligen Heimkinder können bis heute nicht über ihre Erlebnisse sprechen. Die Traumata haben tiefe Spuren hinterlassen: innere Leere, das Gefühl, „kaputtgemacht“ oder „zerstört“ worden zu sein, und ein Mangel an Selbstwertgefühl. Marianne Kastrati beschreibt, wie sie viele Erinnerungen verdrängt hat und einen „ganz tiefes Loch“ oder „Film riss“ in ihrer Erinnerung an die Heimzeit hat.
Doch es gibt auch Bestrebungen zur Aufarbeitung:
• Rehabilitierung: Marianne Kastrati kämpfte über 40 Jahre später um ihre Rehabilitierung, die ihr 2011 gewährt wurde. Sie empfand den Stempel auf dem Papier als „Befreiung“ und die Anerkennung, zu Unrecht inhaftiert gewesen zu sein, als das Wichtigste, um endlich „ruhiger schlafen“ zu können.
• Gedenkstätte und Zeitzeugen: Die Gedenkstätte Torgau spielt eine zentrale Rolle bei der Aufklärung. Ingolf Nitschke führt Schulklassen durch die Ausstellung, und ehemalige Heimkinder wie Dietmar Hummel und Alex Müller bieten Zeitzeugengespräche an, um ihre Erfahrungen zu teilen und zu verhindern, dass die Geschichte vergessen wird.
• Selbsthilfegruppen: Corinna Thalheim gründete 2011 die bislang einzige Selbsthilfegruppe für Missbrauchsopfer in DDR-Heimen, unterstützt von der Initiativgruppe Torgau.
Trotz dieser Fortschritte gibt es Herausforderungen: Die Meldefrist von nur zwei Jahren für Entschädigungsanträge bei der Bundesregierung ist für viele Betroffene, die erst jetzt beginnen, über ihr Trauma zu sprechen, unrealistisch kurz. Viele leben heute in Obdachlosenheimen und wissen nichts von den Unterstützungsmöglichkeiten.
Ein Appell für die Zukunft
Die Erfahrungen der ehemaligen Heimkinder sind ein Mahnmal. Dietmar Hummel appelliert an die Schülerinnen und Schüler: „Genießt euer Leben, genießt eure Freiheit, denn Freiheit ist das Größte“. Corinna Thalheim fordert, dass das, was in den Heimen der DDR passiert ist, ans Licht kommt. Sie möchte zeigen, dass sie nicht „ganz kaputt gemacht“ wurde und dass die Gesellschaft überdenken sollte, „wie sie eigentlich mit den schwächsten in der gesellschaft umgehen“. Die Aufarbeitung dieser dunklen Kapitel ist entscheidend, damit die Schrecken der Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten.