Erfurt, Thüringens größte Stadt, bekannt für ihren Dom und die Severi-Kirche, hat seit der Wende am 9. November 1989 eine neue, traurige Berühmtheit erlangt: Sie ist die Stadt, in der die meisten Kinder in Heimen leben, weil ihre Väter und Mütter sie verlassen haben. Nicht einfach irgendwohin, sondern in den sogenannten „goldenen Westen“. Rund 100 Kinder in der gesamten DDR, vom Säugling bis zum 16. Lebensjahr, erleben derzeit dieses Schicksal.
Die Heime, in die die Kinder über Nacht von der Polizei oder dem Jugendamt eingewiesen wurden, sind weit um die historische Altstadt verstreut. Die Reportage blickt hinter die Mauern dieser Einrichtungen und gibt den zurückgelassenen Kindern eine Stimme.
Zerbrochene Familien, zerstörte Hoffnungen
Die Geschichten der Kinder sind erschütternd und offenbaren tiefe seelische Wunden:
• Enrico und Sven, beide 16 Jahre alt, wurden morgens von ihrer Mutter mit den Worten geweckt: „Die Grenzen sind offen, schlaft nur weiter, ich gehe mal rüber gucken.“ Sie kam nie wieder. Sven empfindet heute tiefen Groll: Er würde seine Mutter nicht einmal ansehen, sondern ihr den Rücken zukehren für das, was sie ihnen angetan hat. Er würde nicht zu ihr in den Westen gehen, da sie ihre eigene Freiheit wollte und sie nicht Bescheid gesagt hatte. Enrico vermisst seinen Opa und seine Oma, aber zu seiner Mutter gibt es keine Aussicht mehr.
• Sebastian, ebenfalls 16 und im selben Heim, ist oft depressiv. Seine Mutter ist bereits vor der Wende „abgehauen“ und hat in ihm „alles zerstört“. Er spricht nur ungern über seine Gefühle und verzeiht seiner Mutter nicht, dass sie in den Westen gegangen ist.
• Manuela wartet sehnsüchtig auf ihren Vater, der ihr in einem Brief versprach, hundertprozentig im Januar zu kommen, sobald alle Papiere da seien. Er schrieb, es sei vielleicht besser so für sie, sie solle ihre Lehre machen, und erwähnte eine neue Wohnung mit Bad und Warmwasser im Westen. Doch die letzten Zeilen waren eine Lüge – ihr Vater hat sich bis heute nicht gemeldet.
• Der fünfjährige Thomas wurde von seiner Mutter „abgeschoben“, weil er sich zu einem spastisch gehbehinderten Kind entwickelte. Die Mutter floh „feige“ in den Westen und beauftragte ihren Freund, Thomas ins Heim zu bringen. Der Freund setzte den Jungen einfach auf den Schreibtisch der Heimleiterin. Thomas wartet seit Wochen sehnsüchtig auf seine Mutter, da ihm gesagt wurde, sie sei im Urlaub – eine notwendige Lüge, da er die Wahrheit wohl nicht verkraftet hätte.
• Auch der zweijährige Danny wurde mit seinen beiden älteren Brüdern alleingelassen. Morgens fanden sie einen Zettel der Mutter auf dem Küchentisch: „Bin nach Westberlin, Essen ist im Kühlschrank“. Nachbarn brachten die drei zur Polizei. Danny muss sich nun morgens allein anziehen, niemand hilft ihm mehr, niemand nimmt ihn in die Arme oder streichelt ihn. Er weint sich abends oft in den Schlaf und ist nur wenige Minuten glücklich, wenn er seinen zwei Jahre älteren Bruder Markus im Waschraum trifft. Markus, der älteste, liegt nachts lange wach, kann nicht einschlafen und sucht nach einer Erklärung für das Verhalten seiner Mutter, die er bisher nicht gefunden hat. Er möchte seine Mutter anrufen und schreiben, kennt aber weder Nummern noch Adressen.
• Der 12-jährige Andreas erfuhr von seinem Vater, dass seine Mutter mit seinem Bruder in den Westen gefahren war. Er fühlt sich im Heim „gut“ und hat Freunde gefunden, doch die Schule läuft nicht gut und im Heim wird viel gestohlen und kaputt gemacht. Er fragt sich, warum seine Mutter ihn alleine gelassen hat und sucht täglich nach der richtigen Erklärung.
Überforderte Heime, fehlende Unterstützung
Die Heimerzieher in der DDR sind zu wenige und durch die hohe Anzahl der zurückgelassenen Kinder überfordert. Obwohl sie sich größte Mühe geben, können sie das Elternhaus nicht ersetzen. Viele Jugendliche warten noch immer auf Post oder Nachrichten von ihren Eltern, die in die Bundesrepublik gegangen sind.
Eine Heimleiterin fordert dringend ein Rechtshilfeabkommen zwischen beiden deutschen Staaten. Dies würde eine schnelle und unkomplizierte Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden, Polizei und Jugendämtern ermöglichen. Ziel ist es, gewissenlose Väter und Mütter in der Bundesrepublik aufzuspüren und wegen Vernachlässigung ihrer Fürsorgepflicht unter Strafe zu stellen. Solche Eltern, die ihre wehrlosen Kinder „wie ein weggeworfenes Paket“ zurücklassen, müssten durch ein solches Abkommen wieder an die DDR ausgeliefert werden. Ohne dies gehen die Eltern kein Risiko ein und können ihre Kinder einfach abschieben und vergessen.
Das Versagen des Systems
Ein gravierendes Problem liegt auch in den Anreizen des Westens: Eltern erhalten bei der Übersiedlung bis zu 6000 Mark zinsloses Darlehen und zusätzlich 3000 Mark von der Bundesrepublik als sogenannte Eingliederungshilfe. Diese Hilfen werden gewährt, ohne zu prüfen, ob die in den elterlichen DDR-Papieren aufgeführten Kinder auch tatsächlich mitgenommen werden. Solange dies so bleibt, werden weitere Kinderschicksale dieser Art entstehen.
Der Fall Andreas: Eine bittere Wahrheit
Im Fall des 12-jährigen Andreas suchten Reporter seine Mutter und fanden sie in einem kleinen Ort bei Celle in der Bundesrepublik, arbeitslos und zur Untermiete wohnend. Als ihr Aufnahmen ihres Sohnes vorgespielt wurden, reagierte sie ungerührt. Sie erklärte, Andreas sei „bockig“ gewesen, habe schon im Kindergarten Probleme gemacht und in der Schule seine Hausaufgaben nicht erledigt. Es stellte sich heraus, dass sie seine Adoptivmutter war, aber dieselben Rechte und Pflichten hatte wie eine leibliche Mutter. Dennoch wirkte ihre Flucht in den Westen wie eine passende Gelegenheit, den Jungen ins Heim abzuschieben. Andreas ist noch heute im Heim.
Es ist höchste Zeit, diesen seelisch geschädigten, wehrlosen Kindern zu helfen, aus ihrem „unzumutbaren, anonymen Heimleben“ herauszukommen und ein menschenwürdiges Zuhause zu finden. Dies geschieht jedoch nur, wenn die Eltern sich freiwillig melden, ihre Kinder reumütig zurückholen oder sie schriftlich gegenüber dem Heim adoptieren lassen. Nur dann haben diese Kinder vielleicht eine hoffnungsvollere Zukunft.