Moskau, 1990 – In der sowjetischen Hauptstadt endete 1990 offiziell der Kalte Krieg in Europa und eine neue Friedenszeit begann. Hier wurde vor 30 Jahren der Vertrag unterzeichnet, der die Grundlage für die Einheit Deutschlands schuf – ein historischer Sieg der Demokratie und die Überwindung der Teilung Europas. Doch dieser Erfolg war das Ergebnis eines komplexen und oft geheimen Ringens, das von Machtkämpfen, wirtschaftlichem Druck und tiefem Misstrauen geprägt war. Die weltpolitischen Entscheidungen von damals wirken bis heute nach.
Der Fall der Mauer und Kohls Zehn-Punkte-Plan
Im Herbst 1989 erfasste Deutschland eine Welle der Euphorie nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Eisernen Vorhangs. Doch die entscheidende Frage war, wie Moskau auf diese Entwicklung reagieren würde. Viele befürchteten, Michail Gorbatschow würde die DDR niemals freigeben, zu groß waren die Opfer der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg.
Einen Tag nach dem Mauerfall begannen in Berlin bereits die Feiern zur deutschen Einheit, an denen Bundeskanzler Helmut Kohl teilnahm. Doch Kohls Weg zur Einheit begann mit einem Paukenschlag: Ohne Absprache mit seinen westlichen Bündnispartnern oder gar dem Koalitionspartner FDP, stellte er am 28. November 1989 einen Zehn-Punkte-Plan zur deutschen Einheit im Bundestag vor. Diese eigenmächtige Vorgehensweise verärgerte nicht nur die westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, sondern führte auch zu einem diplomatischen Eklat mit Gorbatschow, der Kohl vorwarf, sich in die inneren Angelegenheiten der DDR einzumischen.
Misstrauen unter den Verbündeten: Die Sorgen des Westens
Besonders die britische Premierministerin Margaret Thatcher und der französische Präsident François Mitterrand zeigten sich anfangs tief beunruhigt über die Entwicklungen in Deutschland. Thatcher hegte von Anfang an eine feindselige Einstellung gegenüber den Deutschen und hatte kein Vertrauen, während Mitterrand zunächst ihre Sorgen teilte, dass Deutschland erneut hegemoniale Bestrebungen an den Tag legen könnte. Das Bruttosozialprodukt Deutschlands entsprach dem von Frankreich und England zusammen, was ein „Bedrohungspotenzial“ darstellte.
Mitterrand stellte drei Bedingungen für die französische Billigung der deutschen Einheit: die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, die Denuklearisierung Deutschlands und die Einführung des Euro. Kohl zögerte jedoch, die Oder-Neiße-Grenze öffentlich anzuerkennen, da er die CDU-Wähler im Blick hatte, die auf die alten deutschen Ostgebiete in Polen noch nicht verzichten wollten. Dies führte beinahe zu einem Streit zwischen Franzosen und Deutschen.
Die USA als „unabdingbarer Helfer“ und die Geburt der 2+4-Formel
In Washington erkannte man schnell, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands den USA eine strategische Möglichkeit eröffnete, ihre Führungsrolle in Europa zu stabilisieren und das vereinigte Deutschland im westlichen Militärbündnis NATO zu halten. Die USA, so Außenminister James Baker, wollten „die Deutschen in unserem Lager halten und kein eigenes aufschlagen“.
Unter der Federführung von Baker und dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher entstand die Idee der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Hier sollten nur die beiden deutschen Staaten und die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs (USA, Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich) über das Schicksal Deutschlands entscheiden, um langwierige Verhandlungen mit rund 100 Staaten über Reparationen und andere Ansprüche zu vermeiden. Die USA setzten sich entschieden gegen eine große Friedenskonferenz durch.
Ein entscheidender Stolperstein war jedoch die Forderung der US-Regierung, dass das vereinte Deutschland Mitglied der NATO sein würde. Dies stieß im Kreml auf massiven Widerstand, da die NATO dort als „gegnerisches Bündnis“ wahrgenommen wurde.
Das NATO-Versprechen – ein Streitpunkt bis heute
Um Gorbatschow zu überzeugen, boten Genscher und Baker mündliche Zusicherungen an. Baker versprach Gorbatschow, dass die NATO sich „nicht weiter nach Osten ausdehnen“ würde, „kein Zentimeter“. Gorbatschow antwortete, jede NATO-Erweiterung nach Osten wäre „selbstverständlich inakzeptabel“, doch er würde darüber nachdenken.
Diese Zusicherungen wurden jedoch nicht schriftlich festgehalten. Heute will Baker nichts mehr von seinem damaligen Versprechen wissen, und der sowjetische Botschafter Wladislaw Terechof kritisiert, dass dieses Versprechen gebrochen wurde. Russlands Präsident Wladimir Putin wirft dem Westen heute vor, sein Versprechen nicht eingehalten zu haben. Viele sehen es als einen „sehr großen Fehler“, dass diese Zusagen nicht schriftlich festgehalten wurden, dessen Folgen man heute noch auslöffeln müsse.
Sowjetunion in Not: Wirtschaftlicher Druck als Beschleuniger
Die Verhandlungen waren geprägt von der desolaten wirtschaftlichen Lage der Sowjetunion. Im Mai 1990 stand die Sowjetunion kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Dies wussten die westlichen Verhandlungspartner und nutzten es als „einmalige Gelegenheit“.
Im Mai 1990 reiste Kohls Vertrauter Horst Teltschik mit deutschen Bankern heimlich nach Moskau, um einen 5-Milliarden-Kredit zu verhandeln. Auch US-Präsident Bush bot Gorbatschow ein Handelsabkommen an. Unter diesem finanziellen Druck und nach einem entscheidenden Dialog mit Bush, in dem Gorbatschow bekräftigte, dass jedes Land wählen dürfe, welchem Sicherheitsbündnis es sich anschließen wolle, kam es zum diplomatischen Durchbruch in Washington. Trotz der sichtbaren Unruhe bei seiner Delegation gab Gorbatschow damit im Prinzip grünes Licht für die NATO-Mitgliedschaft.
Die 2+4-Gespräche: Ein Tauziehen um Souveränität
Die erste Verhandlungsrunde der 2+4-Gespräche in Bonn offenbarte die Spannungen. Die USA und die westlichen Alliierten bildeten eine „diplomatisch kaschierte Front gegen die Sowjetunion“. Die DDR-Delegation unter Außenminister Markus Meckel fühlte sich isoliert und ohne Einfluss. Sie war von der Idee einer NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands nicht begeistert und plädierte für die Neutralität. Markus Meckel beschrieb die Situation im Ministerium als „feindliches Haus“ und fühlte sich von der westdeutschen Delegation wie ein „Dackel“ behandelt. Die Franzosen betrachteten die Ostdeutschen ebenfalls als „Besiegte“.
Der entscheidende Durchbruch kam im Juli 1990 beim Treffen zwischen Kohl und Gorbatschow im Kaukasus. Nach Gorbatschows Sieg im innerparteilichen Machtkampf auf dem 28. Parteitag der KPdSU, wo er seine Politik gegen konservative und radikale Reformer verteidigen musste, konnte er mit „großer Freiheit“ das, was er im Mai schon gesagt hatte, auch Helmut Kohl bestätigen. Kohl konnte dort verkünden, dass einer NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands nichts mehr im Wege stehe. Die Sowjetunion erhielt im Gegenzug etwa 13 Milliarden Mark für den Abzug ihrer Truppen aus der DDR.
Die letzte Hürde: Dramatik in Moskau
Am Vorabend der Vertragsunterzeichnung in Moskau im September 1990 kam es beinahe zum Scheitern. Der britische Außenminister Douglas Hurd forderte plötzlich, dass spezielle Manöver auf ostdeutschem Territorium stattfinden sollten – eine Position, die die Russen „absolut nicht haben wollten“. Margaret Thatcher hatte bis zuletzt Bedenken wegen des zu großen Gewichts eines vereinten Deutschlands in der Europäischen Union.
Die Sowjets drohten daraufhin, den Vertrag nicht zu unterschreiben. In einer dramatischen nächtlichen Aktion mussten Hans-Dietrich Genscher und James Baker den US-Außenminister Baker, der eine Schlaftablette genommen hatte, wecken, um die Krise zu lösen. Schließlich wurde dem Vertrag eine Protokollnotiz angefügt: Solange sowjetische Truppen in der DDR stationiert seien, würden dort keine NATO-Truppen mit Ausnahme der Bundeswehr stationiert.
Das Ergebnis: Volle Souveränität und ein „unverdientes Geschenk“
Der Vertrag, der lediglich zwölf Artikel und eine Protokollnotiz umfasste, besiegelte nicht nur die deutsche Einheit, sondern beendete auch den Kalten Krieg und legte den Grundstein für eine neue Ära des Friedens, der Freiheit und der Zusammenarbeit in Europa. Es war der erste Fall in der Geschichte, dass Deutschland seine volle Souveränität nicht durch militärische Siege oder Niederlagen erhielt, sondern im Einverständnis mit all seinen Nachbarn.
Der sowjetische Botschafter Wladislaw Terechof beschrieb es als das „wichtigste unterschriebene Dokument in meinem Leben“ und als ein „unverdientes Geschenk“. Doch die Freude über die deutsche Einheit wurde von den langfristigen Folgen überschattet.
Kalter Frieden: Die Langzeitfolgen
Nach dem Zerfall der UdSSR 1991 traten Ungarn, Polen und Tschechien 1999 der NATO bei, später folgten zehn weitere Länder. Dies führte zu einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, die in einer „alten Rivalität um Einfluss und Macht“ mündete. Aus dem Kalten Krieg und der neuen Freundschaft entstand ein „kalter Frieden“.
Die Erinnerungen an die mündlichen Zusicherungen, die nicht schriftlich festgehalten wurden, bilden heute einen Kern des Misstrauens. Viele fordern heute, zu einer „klugen Diplomatie“ und vertrauensbildenden Maßnahmen zurückzukehren, um aus dem kalten Frieden wieder einen wahrhaftigen Frieden entstehen zu lassen, wie es 1991 durch gegenseitiges Verständnis und Vertrauen gelungen ist. Die 2+4-Verhandlungen bleiben ein Vorbild für erfolgreiche Entspannungspolitik, doch ihre Geschichte ist auch eine Mahnung an die Komplexität internationaler Beziehungen und die Notwendigkeit klarer Vereinbarungen.