Wenn das eigene Kind kurz nach der Geburt verstirbt, gerät die Welt jeder Mutter aus den Fugen. Doch was ist, wenn plötzlich Ungereimtheiten auftreten? Was ist, wenn es sich um staatlich organisierten Kindesentzug handelt? Was nach dem Plot eines Krimis klingt, könnte sich so in der ehemaligen DDR abgespielt haben. Hunderte Mütter sind heute auf der Suche nach ihren vermutlich geraubten Kindern. Das „akte. Spezial – Die gestohlenen Kinder der DDR“ begleitet drei von ihnen.
Frankfurt an der Oder – Seit Jahrzehnten quält Sabine Zapf, heute 59 Jahre alt, die Ungewissheit über das Schicksal ihres erstgeborenen Kindes, das ihr 1980 unter mysteriösen Umständen in einem Krankenhaus in Eisenhüttenstadt weggenommen wurde. Was damals geschah, ist bis heute ein Rätsel, doch neue Erkenntnisse und der Mut einer Ärztin lassen Sabines Hoffnung auf Antworten wieder aufleben. Ihre Geschichte ist exemplarisch für die Skrupellosigkeit des DDR-Systems gegenüber sogenannten „kriminellen Bürgern“.
Ein Leben im Widerstand gegen das System
Sabine hatte es von Kindheit an nicht leicht. Schon früh wurde sie vom Jugendamt ihrer leiblichen Mutter entzogen und in ein Heim gesteckt, da ihre Mutter als nicht fähig erachtet wurde, sie im sozialistischen Sinne zu erziehen. Später wurde sie adoptiert, doch auch ihre Adoptiveltern waren sehr streng und schlugen sie angeblich als Teenager. Sabine galt als rebellisch und stellte sich gegen das Regime. Dies führte dazu, dass sie in ihren Stasi-Akten als „nicht staatstreu“ oder „kriminelle Bürgerin“ geführt wurde – eine Einschätzung, die ihr später zum Verhängnis werden sollte. Ihre Adoptivmutter reiste zudem oft in den Westen und hatte offenbar gute Kontakte zur Parteispitze, was später eine wichtige Rolle spielen sollte.
Das Verschwinden des ersten Kindes
Im Alter von 18 Jahren wurde Sabine 1980 mit ihrem Freund Frank zum ersten Mal schwanger. Vier Wochen vor dem Geburtstermin erlitt sie bei einer Routineuntersuchung im Krankenhaus einen stechenden Schmerz, der möglicherweise auf ein angekratztes Fruchtwasser zurückzuführen ist. Vorsichtshalber sollte sie in der Geburtsklinik bleiben. In einem Einzelzimmer ging plötzlich alles sehr schnell: Ihr Kind drückte sich heraus. Sie rief nach einer Schwester, doch ein Assistenzarzt weigerte sich, sie in den Operationssaal zu begleiten. Danach verlor Sabine das Bewusstsein.
Als sie am nächsten Tag erwachte, war ihr Kind verschwunden. Eine Schwester verweigerte jegliche Auskunft und verwies auf eine Ärztin, die nie kam. Eine Woche lang blieb Sabine im Krankenhaus, doch niemand erklärte ihr, was passiert war oder wo ihr Kind war. „Es ist dann einfach weg und wo ist es hin?“ fragt Sabine verzweifelt. Sie hat keine Narben und weiß nicht, wie ihr Baby überhaupt zur Welt kam. Von ihrem ersten Kind blieben ihr lediglich ein Schwangerschaftsfoto und Seiten aus ihrem Sozialversicherungsausweis, die ihren Krankenhausaufenthalt und gynäkologische Untersuchungen belegen. Diese Seiten fehlten zunächst aus ihrem Ausweis und wurden später in ihrer Haftakte gefunden – ein klares Indiz für eine Vertuschungsaktion. Ihr wurde sogar gesagt, sie müsse beweisen, überhaupt schwanger gewesen zu sein.
Spurensuche und schockierende Vermutungen
Sabine forderte ihre Krankenakte von 1980 an, doch es gibt keinerlei Unterlagen mehr. Laut deutscher Gesetzgebung müssen solche Akten nur 30 Jahre aufbewahrt werden, was Sabines Suche erschwert. Die große Frage bleibt: Warum sollte man ihr das Kind weggenommen haben? Ihre Einstufung als „kriminelle Bürgerin“ in der Schulzeit, weil sie sagte, was sie dachte, könnte eine Rolle gespielt haben.
Eine unglaubliche Entdeckung machte Sabine beim Durchforsten ihrer Stasi-Akten: Sie fand Beweise dafür, dass ihre Adoptivmutter und das Jugendamt zusammengearbeitet hatten, um ihr andere Kinder wegzunehmen. Ihre Adoptivmutter hatte beispielsweise eine Urlaubskarte an eine Mitarbeiterin des Jugendamtes geschickt, in der sie über das Wohl von Sabines Tochter Maren berichtete, die ihr nach einem Fluchtversuch weggenommen worden war. Henriette, die Journalistin, hegt nun den schlimmen Verdacht, dass diese Zusammenarbeit bereits beim ersten Kind begonnen haben könnte. Sabine erinnert sich, dass ihre Adoptivmutter sie kurz nach der Geburt unerwartet im Krankenhaus besuchte, ohne dass Sabine sie benachrichtigt hatte. „Es muss ja definitiv so sein, dass irgendjemand, wenn dein erstes Kind noch leben sollte, unsere Adoption hinter deinem Rücken freigegeben wurde,“ vermutet Sabine. Leider ist ihre Adoptivmutter 2006 verstorben, sodass Sabine sie nicht mehr zur Rede stellen konnte.
Hoffnung durch eine Ärztin und die Wiedervereinigung mit einer Tochter
Ein Termin in dem damaligen Geburtskrankenhaus in Eisenhüttenstadt bringt Licht ins Dunkel. Eine Ärztin, die bereits damals dort tätig war, trifft sich unter Ausschluss der Kamera mit Sabine und Henriette. Obwohl sie selbst keine konkreten Fälle erlebt hat, bestätigt die Ärztin, dass es „vorstellbar [ist], dass Kinder verkauft wurden“ oder dass das Jugendamt einer volljährigen Mutter das Kind wegnahm, wenn beispielsweise eine Großmutter die Mutter für unfähig hielt. Statistiken des Krankenhauses zeigen, dass im Juni 1980, als Sabine entband, kein Kind in diesem Krankenhaus verstorben ist. Die Ärztin vermutet, dass Sabines Kind noch leben könnte.
Diese Aussage ist für Sabine einerseits eine Bestätigung, andererseits weckt sie tiefe Wut und den Wunsch nach Gerechtigkeit. Sie fragt sich: „Wieso habt ihr mir eigentlich die ganzen Jahre geklaut mit welchem Recht eigentlich?“.
Trotz dieser traumatischen Erfahrungen gibt es für Sabine auch einen Lichtblick: Drei ihrer Kinder wurden ihr in der DDR weggenommen, doch ihr vierter Sohn fand Jahre später ihre dritte Tochter Michaela wieder. Im Jahr 2019 kam es nach 34 Jahren zu einem emotionalen Wiedersehen zwischen Sabine und Michaela. Michaela hatte in ihrer Pflegefamilie keine Liebe erfahren und wurde angeblich geschlagen. Diese Wiedervereinigung stärkt Sabines Entschlossenheit, auch ihr erstgeborenes Kind zu finden.
Der Kampf geht weiter
Sabine und ihr Ehemann Rainer suchen weiterhin nach dem verschwundenen Kind und wollen das Krankenhaus nun juristisch belangen, um an die fehlenden Unterlagen von 1980 zu gelangen. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, da viele Akten bereits vernichtet sein könnten. Die Hoffnung liegt nun auf Menschen, die sich über Verschwiegenheitspflichten hinwegsetzen und den Frauen, die ihre Kinder suchen, endlich Antworten geben.