Das Erbe des Mauerfalls: Die Kinder, die zurückblieben

Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 war für viele ein Moment der Freude und des Aufbruchs. Doch für Hunderte Kinder in der ehemaligen DDR bedeutete er den Beginn eines Traumas, das bis heute nachwirkt: Ihre Eltern nutzten die neu gewonnene Freiheit zur Flucht in den Westen und ließen ihre Kinder zurück. Eine offizielle Statistik über diese „verlassenen Kinder der DDR“ gibt es nicht, doch schon einen Monat nach der Wende gab es allein in Berlin 50 solcher Fälle.

Katharina Ferner war zweieinhalb Jahre alt, als ihre Mutter in den Westen verschwand und sie zurückließ. „Man kann es gar nicht wirklich sagen, wie man sein muss, um so zu sein. Einfach nur kalt, abgeklärt und egoistisch“, reflektiert die heute 31-jährige Katharina. Ihr Leben begann im Kinderheim Makarenko in Berlin-Treptow-Köpenick, dem größten Kinderheim der untergegangenen DDR. Bei den Aufnahmen des Spiegel TV-Teams am Nikolaustag 1989 war Katharina eines der Heimkinder.

Lisa Hübner, Leiterin der Säuglingsstation, kümmerte sich damals auch um Katharinas neun Monate alten Bruder Steffen. Die Großmutter der Kinder informierte sie, dass die Mutter in der Bundesrepublik sei und ihre Kinder allein gelassen hatte. Da die Großeltern zu alt waren, um die Kinder aufzunehmen, blieben Katharina und Steffen vorerst im Heim. Die Mutter meldete sich nie wieder.

Die kleine Katharina war zu diesem Zeitpunkt „schwer traumatisiert“ und „sehr verstört“. Sie litt besonders unter der Abwesenheit der Mutter und verlangte immer wieder nach ihr. Die Heimleitung sprach von einem „verwaisten Kind, dessen Mutter nicht tot, sondern abgegangen ist“. Das Schlimmste für Katharina war der Verlust des Urvertrauens, dass Mütter nur das Beste für ihr Kind wollen.

Ein Leben gezeichnet von Misstrauen und dem Wunsch nach Kontrolle
Katharina wuchs später mit ihrem Bruder bei einer Adoptivfamilie auf, doch auch dort ging sie irgendwann auf Distanz, und der Kontakt brach ab. Von ihrer leiblichen Mutter weiß sie heute nicht viel, nur dass sie angeblich in Bayern auf einer Kinderstation gearbeitet haben soll. Gesucht hat Katharina sie nie.

Heute, 31 Jahre später, sieht Katharina Ferner die einzigen Kinderbilder aus jener Zeit zum ersten Mal. Ihre Reaktion ist geprägt von Unverständnis: „Wie kann man das ein Kind einfach [verlassen]? Ich verstehe es nicht“. Die Erfahrung der frühen Verlassenheit prägt ihr gesamtes Leben: „Ich kann also keine Nähe zulassen, ich kann sie nicht geben. Ich kann auch keinen an mich ranlassen, ich vertraue niemandem“. Besonders in Beziehungen fällt es ihr schwer, die Kontrolle abzugeben: „Ich brauche die Kontrolle, dass ich die Kontrolle nicht verliere, weil natürlich immer die Angst für mich da ist, dass, wenn ich mich nicht drum kümmere, dass es keiner macht“.

Weitere Schicksale und ein Appell an die Politik
Katharinas Geschichte ist kein Einzelfall. Im ehemaligen Kinderheim Fritz Weineck in Berlin-Friedrichsfelde landeten drei weitere Geschwister, die ebenfalls von einer Mutter zurückgelassen wurden, die den Westen spannender fand als ihren Nachwuchs. Fünf Tage nach der Maueröffnung hatte die Volkspolizei die Kinder in einer verlassenen Wohnung im Prenzlauer Berg entdeckt. Wie lange sie dort allein waren, konnte nicht mehr festgestellt werden. Der achtjährige Mag fühlte sich verantwortlich für seine jüngeren Brüder Steve (5) und Martin (3). Martin litt am meisten unter der Abwesenheit der Mutter und sprach kaum noch.

Christine Brand, ehemalige Leiterin eines Säuglingsheims in Erfurt, erinnert sich, wie auch ihre Einrichtung nach dem Exodus der Eltern Zulauf bekam – allein zwölf Kinder waren es bei ihr. Sie hat viel über die Ursachen nachgedacht: „Ursache war damals das, ja, die Grenzen offen waren, ein freudiges Ereignis für alle DDR-Bürger, und mancher waren dann so überschwänglich und sind verschwunden, haben aber das Beste, was sie hatten, hier gelassen“. Sie betont die Hilflosigkeit und Fassungslosigkeit der Kinder, für die „eine Welt zusammengebrochen“ sei.

Schon damals richtete die Leiterin eines Säuglingsheims einen dringenden Appell an die Politik: „Ich bitte deswegen dringend einmal unsere beiden Staaten gegenseitig aufeinander zuzugehen, um mit den örtlichen Organen der Jugendhilfe ein Rechtshilfeabkommen abzuschließen, um für diese Kinder eine Lösung zu finden“.

Ein Trauma, das bis heute nachwirkt
Katharina Ferner lebt heute selbst in Bayern und hat fünf Kinder. Das erste kam, als sie 18 war. Sie kümmert sich pflichtbewusst, fragt sich aber immer wieder: „Warum setzt man ein Kind in die Welt, wenn man es nicht will? Wenn man nicht mit allen Konsequenzen sich um dieses Kind kümmern möchte?“. Sie arbeitet hart an sich, um eine liebevolle Mutter sein zu können, die sie selbst nie hatte. Doch emotionale Nähe zu zeigen, fällt ihr schwer: „Ich unterdrücke ihre eigentlichen Gefühle unterdrückt und das ist halt ein auch manchmal ein Problem“. Sie bedauert, dass sie in manchen Situationen „kalt“ oder „abweisend“ reagiert, obwohl sie gerne anders handeln würde, aber nicht kann.
Die verlassenen Kinder der DDR – eine Geschichte, die auch 31 Jahre später noch nachwirkt und fassungslos macht.