Kerstin Meisners Flucht vor einem Staat, der „irsinnige Angst“ hatte

Kerstin Meisner sehnte sich nach Meinungsfreiheit, Demokratie und weniger Reglementierungen in der DDR. Im Frühjahr 1983 fasste sie einen weitreichenden Entschluss: Sie wollte die Deutsche Demokratische Republik verlassen. Gemeinsam mit ihrem Verlobten und einem Bekannten plante sie einen Fluchtversuch, der sie über die Tschechoslowakei und Österreich in die Bundesrepublik führen sollte.

Die drei waren sich der immensen Risiken bewusst. Eine Flucht über die Westgrenze der DDR, sei es nach Westdeutschland oder Berlin, schlossen sie schnell aus. Sie hatten die Grenzanlagen in Berlin-Friedrichstraße besichtigt und wussten um Stacheldraht, die Mauer, Selbstschussanlagen, Minen und breite, überwachte Grenzstreifen. Die Gefahr, erschossen zu werden, war real und keine Option. Auch ein offizieller Ausreiseantrag kam für sie nicht infrage, da dies jahrelanges Warten, Repressalien und möglichen Arbeitsplatzverlust bedeuten konnte.

Der Plan: Verhaftung einkalkuliert, auf Freikauf gehofft
So kristallisierte sich heraus, dass nur der Weg über das „sozialistische Ausland“ blieb. Ihnen war klar, dass der Fluchtversuch zu 80 % nicht funktionieren würde und sie ins Gefängnis kommen würden. Doch genau das war Teil ihres Plans: Sie wollten sich verhaften lassen, um dann durch die Bundesrepublik freigekauft zu werden und so nach Westdeutschland zu gelangen.

Am 13. April 1983 wurde Kerstin Meisner in der Tschechoslowakei festgenommen. Bei den Verhören, die nicht besonders lange oder schlimm waren, legte sie sofort die Wahrheit auf den Tisch. Sie bestätigte, dass sie nach Bratislava, Österreich und schließlich nach Bayern wollte und ihr bewusst war, dass dies „Republikflucht“ nach Paragraph 213 war.

Einzelhaft unter schwierigen Bedingungen
Zunächst verbrachte Kerstin Meisner zwei Wochen in Einzelhaft in der Tschechoslowakei. Die Bedingungen dort waren extrem unangenehm:
• Alle Bediensteten waren Männer, und es gab Sprachbarrieren.
• Die Zelle im Erdgeschoss war trotz Mitte April sehr kalt, möglicherweise wegen der dicken Mauern.
• Sie durfte sich tagsüber nicht aufs Bett legen.
• Es gab nur kaltes Wasser, und die hygienischen Bedingungen waren schlecht; sie erhielt keine Zahnbürste und ihre private Kleidung wurde zwei Wochen lang nicht gewaschen.
• Die kombinierte Toilette und Waschgelegenheit mit einem kalten Wasserstrahl empfand sie als eklig.

In dieser Zeit, beim Blick aus dem Fenster auf Frauen, die Wäsche aufhingen, begriff sie zum ersten Mal, „was Freiheit eigentlich bedeutet“.

Von Hohenschönhausen bis zum Freikauf
Nach der Einzelhaft in der Tschechoslowakei wurde Kerstin Meisner in die DDR überstellt. Ihre erste Station war die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Berlin-Hohenschönhausen. Dort musste sie sich einer kompletten Entkleidung und Untersuchung aller Körperöffnungen unterziehen. Dies empfand sie als „sehr, sehr unangenehm“ und gleichzeitig als „paradox und albern“, da sie sich fragte, wovor der Staat Angst hatte, was sie aus dem Gefängnis hätte mitbringen sollen. Sie sah darin ein Zeichen der „irsinnigen Angst“ des Staates vor oppositionellen Menschen.
Anschließend wurde sie nach Potsdam verlegt. Im Juli 1983 erfolgte die Verurteilung wegen „ungesetzlichen Grenzübertritts“ zu einem Jahr und fünf Monaten Haft. Ihre Strafzeit verbrachte sie in einem Frauenarbeitskommando in einer Wäscherei in Leipzig-Markkleeberg. Dort stellte sie auch einen Ausreiseantrag.

Ein Jahr nach ihrer Festnahme, im April 1984, wurde Kerstin Meisner schließlich von der Bundesrepublik freigekauft. Die Ausreisehaft erfolgte im Kaßberg-Gefängnis Karl-Marx-Stadt. Ihr wohlüberlegter und riskanter Plan war aufgegangen.