Der Aufstand vom 17. Juni 1953 markiert einen Wendepunkt in der frühen Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und offenbarte die tiefe Spaltung zwischen der regierenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und großen Teilen ihrer Bevölkerung. Was als Arbeiterprotest begann, entwickelte sich zu einem landesweiten Volksaufstand, der nur durch massive sowjetische Militärintervention niedergeschlagen werden konnte.
Die Gründung der SED und erste Widerstände
Die Wurzeln der SED-Herrschaft reichen zurück bis in den April 1945, als die „Gruppe Ulbricht“, benannt nach ihrem Leiter Walter Ulbricht, aus Moskau nach Berlin eingeflogen wurde. Ihr Ziel war die Errichtung der Alleinherrschaft einer Partei unter dem Schutz der sowjetischen Besatzungsmacht. Ein Jahr später, im Frühjahr 1946, hielt Walter Ulbricht dieses „Herrschaftsinstrument“ in der Hand, nachdem die SPD und die KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zwangsvereinigt worden waren. Das erklärte Ziel der SED war eine planorientierte Zentralverwaltungswirtschaft nach sowjetischem Vorbild und die Überführung aller Produktionsmittel in staatliches und kollektives Eigentum – die „sozialistische Revolution“ in Etappen.
Doch die Geschichte der SED ist auch die Geschichte der Opposition, und das von Anfang an. Wolfgang Leonhard, ein Angehöriger der Gruppe Ulbricht, der als Sohn deutscher Kommunisten in der Sowjetunion aufgewachsen war, bemerkte erste Anzeichen parteiinterner Opposition bereits im Juni 1945. Er berichtete von Gründungsveranstaltungen der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) in Berlin, wo Diskussionen nicht über das Programm, sondern über die schauderhaften Vergewaltigungen und Übergriffe sowjetischer Soldaten stattfanden. Ein Genosse forderte gar, den Kommunismus in Deutschland „ohne die Rote Armee als notwendig, ja gegen die Rote Armee“ aufzubauen – eine Haltung, die Leonhard damals noch scharf ablehnte, ihn aber später zum Nachdenken brachte.
Vielfältige Oppositionsströmungen
Leonhard identifizierte mehrere frühe Strömungen der Opposition, die sich ab 1947 herauszubilden begannen:
• Sozialdemokraten: Jene, die in die SED gegangen waren, bemerkten mit Enttäuschung, Schrecken und Entsetzen, wie die Partei immer mehr in ein „kommunistisch-stalinistisches Fahrwasser“ geriet und sehnten sich nach den „guten Zeiten der Sozialdemokratie“ zurück.
• Selbstständig denkende, kritische Kommunisten: Diese hatten die These vom „selbstständigen Weg zum Sozialismus“ ernst gemeint und bemerkten nun, wie die SED immer mehr zu einem Sprachrohr der sowjetischen Besatzungsmacht wurde und sich dagegen aufzulehnen begann.
• Potenzielle Trotzkisten und Angehörige früherer Oppositionen.
Wolfgang Leonhards eigener Weg zur bewussten Opposition war ein Prozess:
• Kritische Regungen hatte er bereits in der Sowjetunion während der Großen Säuberung (1936-1938) und beim Hitler-Stalin-Pakt (August 1939).
• Der Übergang zur bewussten Opposition erfolgte jedoch an einem Tag im Oktober 1948. Als er jugoslawische Broschüren auf dem Gelände der SED-Parteischule versteckte, verstand er plötzlich am eigenen Leibe, was Unterdrückung ist: „Ich erkannte, dass das ein diktatorisches System ist, dass man Dinge verstecken muss“.
• Das entscheidende Ereignis, das seine kritischen Gedanken zu bewusster Opposition werden ließ, war der Bruch Titos mit der Sowjetunion am 28. Juni 1948. Jugoslawien weigerte sich, Stalins Anschuldigungen anzuerkennen, und stellte zum ersten Mal ein „selbstständiges sozialistisches Land“ dar, das sich nicht der stalinistischen Führung unterordnete. Diese mutige Haltung brachte viele Menschen innerhalb der Partei, insbesondere langjährige Kommunisten, zum Nachdenken.
• Leonhard versuchte daraufhin, als „bewusst kommunistischer Oppositioneller“ alternative Ideen zum Stalinismus zu besprechen und konspirative Freundesgruppen aufzubauen. Als seine Aktivitäten aufflogen, floh er am 12. März 1949 unter Lebensgefahr aus der sowjetischen Zone nach Jugoslawien. Er betonte, dass er nicht in den Westen fliehen wollte, sondern eine „Alternative zum Stalinismus auf dem Boden von Marx, Engels und Lenin“ suchte.
Die Eskalation vor dem Aufstand
Währenddessen festigte die SED ihre Macht. Der bürgerliche Widerstand, etwa von Jakob Kaiser, dem Vorsitzenden der Ost-CDU, gegen Enteignungen und die Planwirtschaft, wurde 1948 von der sowjetischen Militäradministration unterdrückt. Die bürgerlichen Parteien wurden in die „Zwangsjacke des antifaschistisch-demokratischen Blocks“ gepresst.
Im Juli 1952 proklamierte Walter Ulbricht den „Aufbau des Sozialismus in der DDR“. Die Folgen waren verheerend: Zwischen Herbst 1952 und Frühjahr 1953 verließ eine halbe Million Menschen die DDR, vertrieben durch Zwangsmaßnahmen in der Landwirtschaft, Boykottpolitik gegen kleinere Unternehmen, erhöhten politischen Terror und zunehmenden Mangel an Lebensmitteln. Die Fluchtbewegung in den Westen nahm ungeahnte Ausmaße an.
Der Tod Stalins am 5. März 1953 brachte einen neuen Kurs in Moskau mit sich, der auf Entspannung und Zugeständnisse an die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung zielte. Dies traf Ulbricht und die SED völlig unvorbereitet, da sie gerade die Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent bei gleichem Lohn beschlossen hatten. Obwohl die SED-Führung am 11. Juni 1953 gezwungen war, einen „Neuen Kurs“ mit Verbesserungsversprechen zu verkünden, hielt sie an den erhöhten Arbeitsnormen fest. Dies schuf eine „hochexplosive Lage“, die sich in dem Ausspruch „die SED ist pleite“ zusammenfasste.
Der 16. und 17. Juni 1953: Tage des Aufruhrs
Der 16. Juni, ein Dienstag, war der Tag der Politbürositzungen. Bauarbeiter von der Stalinallee zogen zur Regierung, um ihre Forderungen nach Rücknahme der Lohnerhöhungen vorzutragen. Die SED-Führung, deren Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung bereits zutiefst erschüttert war, wurde beschuldigt, sich nicht im Regierungsgebäude aufzuhalten, was den Unmut weiter anheizte.
Die sogenannte Volkspolizei war „moralisch gebrochen“ und wagte es nicht, gegen die Demonstration vorzugehen. Die Arbeiter sahen, dass sie sich frei formieren konnten, und die Demonstration wuchs unaufhaltsam an. Fritz Schenk, damals persönlicher Berater des Vorsitzenden der staatlichen Planungskommission, erlebte, wie sich die Menschen „wie von einer inneren Kraft getrieben“ fühlten und sich ihrer kollektiven Stärke bewusst wurden.
Am Abend des 16. Juni waren die „hohen Genossen“ alarmiert. In der Nacht zum 17. Juni beriet das SED-Politbüro im Hauptquartier des sowjetischen Hochkommissars in Karlshorst und traf die Entscheidung, die Sowjetarmee zu Hilfe zu rufen.
Am Morgen des 17. Juni rollten bereits in den frühen Stunden sowjetische Panzer nach Ost-Berlin. Das Regierungsgebäude wurde von sowjetischen Sondereinheiten abgeriegelt, und die Fenster wurden von den Demonstranten mit Steinen beworfen. Im Laufe des Vormittags erschienen die ersten sowjetischen Panzer mitten unter den Demonstranten. Die Losungen begannen sich zu verändern: Es war zum ersten Mal von „freien Wahlen“ und dem „Rücktritt der Regierung“ die Rede. Die Forderungen gingen über rein materielle Anliegen hinaus. Schüsse fielen, Panzer setzten sich in Bewegung und drängten die Demonstranten ab.
Der Journalist I Brand, damals Mitglied der Berliner Bezirksleitung der SED, erlebte den Aufstand bei Bergmann-Borsig. Dort strömten Tausende Arbeiter spontan zusammen und äußerten konkrete Schilderungen von Rechtsverletzungen, Unterdrückung, willkürlichen Verhaftungen und Prügeln. Um 13 Uhr verkündete der russische Militärchef den militärischen Ausnahmezustand. Sowjetische Truppen lösten die Demonstrationen auf, verhafteten und verprügelten Arbeiter – ein „grausiges und absurdes“ Schauspiel, da die angebliche „Rätemacht“ ihre eigenen Arbeiter auseinandertrieb.
Die bleibende Erkenntnis
Ohne die russischen Panzer wäre das SED-Regime in Stunden hinweggefegt worden. Die oft verbreitete „Agentenlegende“, wonach der Aufstand von westlichen Agenten initiiert wurde, ist laut I Brand ein „SED-Märchen“ und „absolut unsinnig“. Während natürlich immer Agenten konkurrierender Mächte bei inneren Unruhen anwesend sein könnten, hätten sie ohne die „Zündmasse“ und die „eigenständige originäre Arbeitererhebung“ nichts ausrichten können.
Der 17. Juni 1953 war eine Tragödie. In 250 Ortschaften der DDR wurde gestreikt oder demonstriert. Es gab 21 Todesopfer und über 1300 Verurteilungen, darunter sechs Todesstrafen. Der Aufstand hatte keine zentrale Führung, sondern entstand spontan aus der Verbitterung über ein unfähiges und gewalttätiges Regime. Er offenbarte auch eine tiefe Spaltung in der SED-Führung, doch Walter Ulbricht, der die Katastrophe ausgelöst hatte, blieb mit voller Deckung der sowjetischen Führung an der Macht.
Für Fritz Schenk führte die Desillusionierung, die bereits im Frühjahr 1952 eingesetzt hatte, zu der Erkenntnis, dass das von der Sowjetunion übernommene sozialistische System niemals ein demokratischer Sozialismus werden könnte, solange die sowjetische Bevormundung anhielt. Er wurde später wegen Verbindungen zum Ostbüro der SPD und der Verbreitung „hetzerischer Schriften“ (wie Milovan Djilas‘ „Die Neue Klasse“) verhaftet, konnte aber nach seiner Freilassung im Rahmen eines Disziplinarverfahrens fliehen.
Für I Brand war der 17. Juni die vollständige Abkehr von der Vorstellung, dass es sich beim sowjetischen Gesellschaftssystem um eine Form des Sozialismus handelte; er sah es als eine „andere Art von Ausbeutung und Unterdrückungssystem“. Die Erfahrungen des 17. Juni und die darauf folgende Machtlosigkeit angesichts der sowjetischen Bevormundung führten dazu, dass sich nach den späteren Ereignissen in Ungarn 1956 oder dem Prager Frühling 1968 keine stärkeren oppositionellen Gruppen in der DDR bildeten, da „alles Auflehnen hinterher wahrscheinlich wieder mündet in noch tiefere Demütigung“.
Der 17. Juni 1953 bleibt ein Denkmal der Volksverbitterung und des mutigen Aufstands gegen ein diktatorisches System, dessen Fundamente ohne die Stütze fremder Panzer wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen wären. Er war ein lauter Schrei nach Freiheit und Selbstbestimmung, der von der Macht brutal erstickt wurde, aber die tiefe Risse im Gebilde der DDR hinterließ. Es war, als ob ein Ventil bei übermäßigem Druck gewaltsam verschlossen wurde, statt den Druck abzulassen – die Explosion wurde verhindert, aber das System blieb unter immenser Spannung.