AfD-Kurs und die Zukunft Europas: Eine Debatte über Links-Rechts, Krieg und Utopien

In einem aktuellen Streitgespräch des YouTube-Kanals „Flavio von Witzleben“ trafen Dr. Ulrike Guérot, Politikwissenschaftlerin und Publizistin, und Björn Höcke, AfD-Fraktionsvorsitzender in Thüringen, aufeinander, um über die Ausrichtung der AfD, die Erosion politischer Kategorien und die Zukunft Europas zu diskutieren. Das Gespräch, das in einem historischen Schloss in Thüringen stattfand, beleuchtete fundamentale Fragen der deutschen und europäischen Politik.

Das Ende von Links und Rechts? Eine veraltete Kategorisierung
Ein zentraler Konsens des Gesprächs war die Beobachtung, dass die klassischen politischen Kategorien von Links und Rechts an Bedeutung verloren haben. Dr. Guérot argumentierte, dass die Linke ihren Kernbestand – die Klassen- oder soziale Frage – aufgegeben und sich stattdessen in postmodernen Debatten wie Genderfragen, Klima und Diversität erschöpfe, die sie als „Ablenkungsdebatten“ bezeichnete. Der Begriff des Konservatismus sei ebenfalls verloren gegangen, wodurch heute alles als „rechts“ tituliert werde. Guérot verwies auf den französischen Autor Bruno Amable, der von einem „Block Bourgeois“ spreche, wo sich die traditionellen Parteien vereint hätten und die politische Achse sich von „rechts-links“ zu „oben-unten“ verschoben habe.

Björn Höcke pflichtete bei, dass die Begriffe „links“ und „rechts“ ihre historische Bedeutung verloren hätten, die ursprünglich aus der Sitzordnung der französischen Nationalversammlung von 1789 stammte. Er bot eine kantianische Einordnung von Erkenntnisfragen an, um grundlegende Haltungen zu skizzieren (Wissensoptimismus vs. Skeptizismus, Solidarität vs. Selbstverantwortung, Transzendenz vs. Kollektivität, positives vs. pessimistisches Menschenbild). Beide Gesprächspartner waren sich einig, dass diese Begriffe „hohl“ geworden seien und für Verwirrung sorgten.

Die AfD: Eine echte Alternative oder eine neue Systempartei?
Die Frage nach der Rolle und Ausrichtung der AfD war ein Kernpunkt der Debatte. Dr. Guérot äußerte erhebliche Zweifel daran, dass die AfD noch eine „tatsächliche Alternative“ sei. Sie beobachte eine „Neoliberalisierung“ der AfD sowie anderer populistischer Parteien in Europa (wie Rassemblement National oder FPÖ). Guérot kritisierte, dass die AfD, die einst für Frieden mit Russland, gegen die NATO und die EU angetreten sei, sich nun pro-amerikanisch und pro-NATO positioniere, wie im Falle von Alice Weidel, die als erste die 5%-NATO-Zielsetzung propagierte. Sie hatte das Gefühl, dass die AfD sich „aufhübschen“ wolle, um koalitionsfähig zu werden, und dabei Begriffe wie „deutsche Leitkultur“ und „Remigration“ aus ihren Papieren streiche. Guérot warnte, dass die AfD in diesem Fall zu einer „Systempartei“ würde, die den „Grundfragen“ wie dem emanzipierten Europa oder dem Ende des Krieges nicht mehr nachgehe. Sie sah in der Entwicklung der AfD eine Tendenz hin zu einem „autoritären Kapitalismus“ und einer „proto-faschistischen Agenda“, die den Staat im Interesse einer „internationalen Oligarchie“ abschaffen wolle.

Björn Höcke widersprach dieser Einschätzung vehement und erklärte, wenn die Zukunft der AfD „melonisiert“ wäre, „dann wäre das nicht mehr meine Partei“. Er sah die AfD als Vertreter der „Sumwheres“ – der lokal verwurzelten Menschen, im Gegensatz zu den „Anywheres“ der globalen Elite. Höcke betonte, dass die AfD eine „klar kontuierte sozialkonservative Kraft“ sei, die sich an einer sozialen Marktwirtschaft orientiere und auch libertäre Mitglieder habe, diese aber nicht die programmatische Dominanz gewinnen dürften. Er hob hervor, dass die Partei daran arbeite, die NATO irgendwann der Vergangenheit angehören zu lassen, Europa als eigenständigen Pol zu etablieren und eine Kooperation mit Russland herbeizuführen. Die Streichung von Begriffen wie „Remigration“ und „deutsche Leitkultur“ aus einem Fraktionspapier erklärte er mit Platzgründen und einer Schwerpunktsetzung auf Energie- und Wirtschaftspolitik; „Remigration“ sei weiterhin im Europa- und Bundestagswahlprogramm platziert, „Leitkultur“ sei ohnehin kein originärer AfD-Begriff. Höcke sah die Partei „auf Kurs“ und betonte, dass die AfD „die letzte evolutionäre Chance“ sei, die die Bundesrepublik habe.

Die „extremisierte Mitte“ und der umgekehrte Totalitarismus
Ein bemerkenswerter Punkt, in dem sich Guérot und Höcke einig waren, war die Analyse einer „extremisierten Mitte“. Guérot führte den Begriff des „umgekehrten Totalitarismus“ von Sheldon Wolin an, der beschreibt, wie eine politisch am Ende befindliche, liberalisierte Mitte innere und äußere Feinde erfindet (z.B. AfD als „rechts“, Putin als „Hitler“), um eine „autoritäre Schließung“ (Einschränkung von Meinungskorridoren, Wissenschaftsfreiheit) zu rechtfertigen. Sie argumentierte, dass diese Mitte den Krieg zur Kapitalisierung der liberalen Gesellschaft brauche. Höcke stimmte Wolins Analyse zu und beschrieb dieses System als postdemokratisch oder postmodern, in dem Menschen durch digitale Gefängnisse, ständige Angst und Ablenkung (z.B. „Klimahysterie“) demobilisiert und vom Staat abhängig gemacht werden.

Krieg und Frieden: Europa am Scheideweg
Die zunehmende Aufrüstung und die Eskalation des Ukraine-Krieges bereitete beiden Gesprächspartnern große Sorge. Dr. Guérot kritisierte die „Kriegstüchtigkeitsnummer“ der deutschen Politik scharf und sah darin ein „Verderbnis“ für Europa. Sie betonte, dass die EU diesen Krieg nicht überleben würde, da sie nicht souverän sei und keine eigene Budgethoheit oder Truppen habe. Guérot forderte eine Rückkehr zum Völkerrecht und direkte Verhandlungen mit Russland, auch im Hinblick auf das historische Versprechen der KSZE/OSZE, eine europäische Sicherheitsarchitektur mit und nicht gegen Russland zu schaffen.

Höcke teilte die Sorge vor einem Krieg mit Russland und betonte den deutschen Schwur „nie wieder Krieg“. Er sah in Russland einen „natürlichen Partner“ Deutschlands und Europas, der uns mentalitätsmäßig sehr nah sei. Ein Europa ohne Russland sei für ihn nicht denkbar. Höcke forderte, dass die Politik über die Links-Rechts-Schemata hinausdenken müsse, um „große überparteiliche Friedensdemonstrationen“ zu ermöglichen.

Die Zukunft Europas: Republik oder Rückbau?
Dr. Guérot stellte ihre Vision einer „Europäischen Republik“ vor, die sie bereits 2013 skizziert hatte. Dabei handele es sich nicht um einen EU-Superstaat, sondern um eine föderale, subsidiäre, dezentrale und regionale Republik, ähnlich einer „großen Bundesrepublik“, die aus den 50 Regionen Europas bestehe. Sie argumentierte, dass ein „Rückbau“ der EU, wie von einigen gefordert, problematisch sei, da Europa ohne eine gemeinsame Währung im Dollarkomplex landen und seine Souveränität in Sicherheits-, Finanz- und Digitalfragen verlieren könnte. Guérot plädierte für ein großes, kreatives Projekt, das Europa als souveränen Akteur in einer multipolaren Welt positioniere, um gegenüber Mächten wie den BRICS-Staaten bestehen zu können.

Björn Höcke bezeichnete Guérots Vision als einen „beachtlichen utopischen Überschuss“. Er sah die EU als „völlig degeneriert“ und „nicht mehr reformierbar“ an. Sein Ansatz war pragmatischer: Er plädierte für einen „Rückbau“ der EU in einem ersten Schritt. Anschließend sollten nur Kernbereiche wie der gemeinsame Außenschutz der Grenze, der gemeinsame Binnenmarkt, der Erhalt europäischer Identitäten und die Erlangung einer strategischen militärischen Option für Europa wieder europäisiert werden. Höcke zweifelte an der Existenz eines ausreichenden gesamteuropäischen Bewusstseins im Volk, das einen solchen Schritt hin zu einer europäischen Republik ermöglichen würde, und verwies auf historische und regionale Konflikte sowie die noch jungen nationalen Identitäten in Osteuropa.

Das Gespräch schloss mit dem Appell, trotz unterschiedlicher Herangehensweisen den Dialog fortzusetzen und sich auf die gemeinsamen Ziele von Freiheit und Frieden zu konzentrieren. Die Debatte machte deutlich, dass die aktuellen politischen Herausforderungen komplexe Antworten erfordern, die über traditionelle politische Schubladen hinausgehen.