Zwischen Klischee und Realität: Junge Stimmen aus Ostdeutschland räumen auf

Mühlhausen/Sömmerda, Thüringen. „Die Ossis können nicht richtig reden, die haben so einen Akzent.“ „Ihr seid doch alle rechts.“ „Ein dummes, zurückgebliebenes Volk.“ – Dies sind nur einige der Stereotypen, mit denen Menschen aus Ostdeutschland immer noch konfrontiert werden. Doch Mareike (25) aus Mühlhausen und Paul (26) aus Sömmerda, beide aus Thüringen, treten in einem Video des YouTube-Kanals „follow me.reports“ an, um mit diesen Vorurteilen aufzuräumen. Sie betonen die Wichtigkeit, über die fortbestehenden Kategorien Ost- und Westdeutschland zu sprechen, da diese weiterhin existieren.

Paul identifiziert sich stark mit seiner Heimat und möchte anderen zeigen, wie schön es dort ist. Er fährt stolz einen Trabi seines Vaters, den er als „schönen Gag“ oder „Spielzeug“ beschreibt, obwohl das Auto früher eher als unpraktisch galt. Auch Mareike, die aus Hessen nach Mühlhausen gezogen ist, spricht über ostdeutsche Traditionen wie die Jugendweihe, die im Westen weniger bekannt ist. Sie bestätigt, dass die Thüringer Bratwurst, oft klischeehaft mit der Region verbunden, tatsächlich ein beliebtes Gericht ist, obwohl sie selbst nicht unbedingt Senf dazu isst.

Tiefergehende Unterschiede jenseits der Stereotypen
Die beiden jungen Thüringer machen deutlich, dass das Leben im Osten keineswegs „schlimm“ ist, auch wenn sie selbst in einem Plattenbau aufgewachsen ist, der nicht immer „super“ war. Dennoch fühlen sie sich ihrer Heimat sehr verbunden. Sie erkennen an, dass Ost-West-Unterschiede in vielerlei Hinsicht weiterhin bestehen.

Im Rahmen eines „Fakt oder Fake“-Spiels beleuchten sie strukturelle Ungleichheiten. So wird ein anfänglich als „Fake“ deklarierter Lohnunterschied von 8.000 Euro brutto pro Jahr zwischen Ost- und Westdeutschland schnell als „Fakt“ entlarvt, dessen tatsächlicher Wert sogar bei 13.000 Euro brutto jährlich liegt – fast 1.000 Euro pro Monat mehr im Westen. Diese finanzielle Diskrepanz wird als „sehr krass“ empfunden, da die Lebenshaltungskosten, insbesondere für Lebensmittel, im Osten nicht wesentlich niedriger sind.

Ein weiterer drastischer Unterschied zeigt sich beim Erbe: Während in Bayern und Baden-Württemberg nach Steuerabzug im Schnitt 250.000 Euro pro Sterbefall vererbt werden, sind es in Ostdeutschland lediglich 10.000 Euro. Dies wird als „heftig“ und „ungerecht“ empfunden.

Besonders besorgniserregend ist die Tatsache, dass 43 Prozent der Ostdeutschen sich als Bürger und Bürgerin zweiter Klasse sehen – eine Zahl, die Mareike als „viel zu viel“ bezeichnet. Die mangelnde politische Mitbestimmung, insbesondere die geringe Präsenz ostdeutscher Politiker in großen Parteien, trägt dazu bei, dass sich viele Menschen von der Politik nicht repräsentiert fühlen.

Zwischen Vorurteilen und Identität
Das Klischee vom „rechtsradikalen Osten“ wird ebenfalls angesprochen. Mareike räumt ein, dass es Entwicklungen wie Pegida oder Ereignisse in Sonneberg gibt, die wahrgenommen werden. Dennoch sei Radikalität in jeder Form nicht gesund, und die Wahlergebnisse in Deutschland seien mittlerweile überall ähnlich. Paul findet es schade, dass solche Vorkommnisse dazu führen, dass Menschen Angst haben, in den Osten zu reisen. Er selbst verbindet Dresden, eine Stadt, in der er seinen Meister gemacht hat, überhaupt nicht mit Pegida, sondern sieht sie als eine der schönsten Städte überhaupt. Andere Community-Stimmen bestätigen, dass es im Osten auch viele Menschen gibt, die sich gegen rechte Tendenzen engagieren.

Die Identifikation mit „dem Osten“ ist generationsabhängig. Mareike, die sieben Jahre nach der Wende geboren wurde, meint, man könne eigentlich nicht mehr von „dem Osten“ oder „dem Westen“ sprechen. Auch Wolfgang, der die DDR als Bäcker erlebte und die Waffe aus christlichen Gründen verweigerte, sehnt sich nicht nach der DDR zurück und schätzt die Freiheit zu reisen und alles sagen zu dürfen in einer Demokratie. Er empfand die DDR als Zeit des Mangels und der Planwirtschaft, die er nicht wiederhaben möchte.

Eine sehr persönliche und bewegende Anekdote teilt Mareike, deren Vater Ende der 90er-Jahre einen Übergriff von Neonazis erlebte. Dies prägte ihre Kindheit mit der Sorge, dass so etwas wieder passieren könnte. Sie betont die Tragik, dass ein Kind in Deutschland Angst um seine Eltern haben muss aufgrund von Aussehen oder Herkunft. Sie erwähnt, dass in Ostdeutschland der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund geringer ist.

Trotz der Unterschiede gibt es eine starke ostdeutsche Identität. Paul und Mareike identifizieren sich beide als ostdeutsch und betonen, dass diese Identifikation im Osten oft stärker ausgeprägt ist als die regionale Zugehörigkeit im Westen. Sie fühlen sich in der Region wohl und möchten dort bleiben. Für sie bedeutet es, ostdeutsch zu sein, sich der Historie der Region bewusst zu sein und zu seinem Dialekt zu stehen. Die Beobachtung, dass in ostdeutschen Haushalten meist die „Mutti das Sagen“ hat, wird darauf zurückgeführt, dass Mütter oft Haushalt und Arbeit gleichermaßen meistern mussten.

Der Weg nach vorn: Offenheit und Verständnis
Für das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland wünschen sich Mareike und Paul vor allem Offenheit, Kommunikation, Verständnis und Interesse aneinander. Wer über Ostdeutsche urteilt, sollte sich deren Alltag ansehen. Sie hoffen, dass Kamerateams nicht nur dann kommen, wenn die AfD gewinnt, und dass im Westen mehr über das Leben in der DDR in den Schulen gelehrt wird.

Letztlich sollte es keine Ungerechtigkeiten und krassen finanziellen Unterschiede mehr geben. Kulturelle und regionale Besonderheiten hingegen empfinden sie als schön und wünschenswert. Ihre Botschaft lautet: „Kommt vorbei, besucht uns. Und wir kommen im Gegenzug auch euch besuchen“. Mareike und Paul zeigen, dass junge Menschen im Osten reflektiert und gerne in ihrer Heimat leben können, und sie treten aktiv für ein vielfältigeres und vorurteilsfreies Bild Ostdeutschlands ein.