Chemnitz 2025: Kulturhauptstadt zwischen Aufbruch und Schatten der Vergangenheit

CHEMNITZ Die Augen reiben, das muss man sich in Chemnitz dieser Tage wohl öfter. Die Stadt, die lange unter dem Namen Karl-Marx-Stadt bekannt war, trägt 2025 den Titel Europäische Kulturhauptstadt. Doch der Weg dorthin und das Jahr selbst sind geprägt von Kontrasten: zwischen Aufbruchstimmung, kreativer Energie und dem beständigen Kampf gegen ein negatives Image, das eng mit rechtsextremen Tendenzen verbunden ist.

Das Klischee, dass aus Chemnitz „doch nur Nazis herkommen“, hält sich hartnäckig. Zwar mögen Klischees „sowieso kaum nichts“ bedeuten, wie eine Passantin meint, doch die Gefahr des Rechtsextremismus ist in Chemnitz nicht nur ein Klischee, sondern „generell ein ostdeutsches, ein deutsches Problem“ und etwas „alltägliches“, das man immer wieder hört. Diese Herausforderung wird im Kulturhauptstadtjahr „überdeutlich“. Engagierte Bürgerinnen und Bürger sehen es als ihre Pflicht, etwas dagegen zu unternehmen.

Ein starkes Zeichen gegen Rassismus und für ein tolerantes Chemnitz setzte bereits 2018 die in Chemnitz verwurzelte Band Kraftclub, die als Reaktion auf rechtsextreme Aufmärsche das Konzert „Wir sind mehr“ initiierte. Diese Solidarität, das Gefühl, sich nicht allein zu fühlen und nicht alleingelassen zu werden, ist wichtig. Die Musikerinnen der Chemnitzer Bands Blond und Kraftclub stammen aus der Kummer-Familie, die oft als die „Kardashians von Chemnitz“ bezeichnet wird. Vater Jan Kummer, Mitbegründer des Kultur-Hotspots Atomino, und seine Partnerin Beate Düber sind als bildende Künstler ebenfalls Teil des Kulturhauptstadtprogramms.

Doch selbst im Kulturhauptstadtjahr gibt es Reibungspunkte. Es scheint, als werde der Rotstift angesetzt, „wenn es um Kultur geht“. Kulturkürzungen treffen ausgerechnet das finanzgebeutelte Schauspielhaus Chemnitz, ein Ort, an dem „Kunst und Theater tapfer ankämpfen gegen die Gefahr des Rechtsextremismus“. Dieses „Hängenlassen“ des Theaters wird als Widerspruch gesehen, da die Kulturhauptstadt gleichzeitig zu einer offenen Stadtgesellschaft aufruft. Eine zentrale Frage bleibt, was von den Projekten und der Dynamik nach dem Kulturhauptstadtjahr bleiben wird, wenn der Countdown abgelaufen ist.

Ein Pilotdokumentationszentrum zum NSU-Komplex mit dem Namen „Offener Prozess“ wurde in Chemnitz eröffnet, was ohne die Kulturhauptstadt „wahrscheinlich nicht gegeben hätte“. Es erinnert an die Schauplätze und Taten des rechtsextremen Terrors, die lange verdrängt wurden. In Chemnitz, Jena und Zwickau waren die NSU-Terroristen gut vernetzt und hatten rassistische Unterstützer. Das Zentrum gibt Angehörigen und Betroffenen des NSU-Komplexes Gehör. Es geht darum, Verantwortung zu zeigen und die bis heute unerfüllten Forderungen der Opfer und ihrer Familien ernst zu nehmen. Oberbürgermeister Sven Schulze hofft, dass das Zentrum hilft, „eine Scheu zu verlieren“ sich mit diesem unangenehmen Teil der Geschichte auseinanderzusetzen. Überlebende wie Abdullah Öskan stellen persönliche Erinnerungsstücke aus und empfinden es als schön, dass „so viele schöne Menschen“ ihre Erfahrung anhören wollen. Die Eröffnung des Zentrums fand großen Andrang.

Die Kulturhauptstadt will nicht nur das Stadtzentrum beleben, sondern auch die ländliche Region des Erzgebirges einbeziehen. Der Purple Path, ein Skulpturen- und Wanderweg, verbindet 38 Orte und bringt moderne Kunst in die Region. Ein Beispiel ist der „Coinstack“ des Künstlers Sean Scully in Schneeberg, der eine Debatte auslöste und dessen Wellenlinie den Künstler an die Wirbelsäule erinnerte und das Auf und Ab von Bergbau und Wohlstand in der Region symbolisiert. Im nahen Ölsnitz wird im Bergbaumuseum „Kohlewelt“ die Geschichte des Steinkohlenbergbaus lebendig. Drei berühmte Männer – Otto Lilienthal, Karl May und Karl Marx – werden hier mit dem Schacht verbunden; Marx inspirierte nachweislich die Gründung der ersten Bergarbeitergewerkschaft Deutschlands in dieser Region. Die „Sensation“ des Purple Path in der Kohlewelt wird der Lichtdom von James Turrell in der sanierten Halle 18 sein, dessen Arbeit für ein Bergwerk erstmals die eminente Wichtigkeit des Lichts für Bergleute aufgreift.

Auch am sächsischen Jakobsweg, der sich mit dem Purple Path kreuzt, wird „Machaergie“ (Macherenergie) lebendig. Auf dem Biobauernhof der Gebrüder Bochmann entstehen mobile Pilgerhütten, entworfen von jungen Designern der Hochschule Zwickau. Diese „bewohnbare Kunst“, wie das „Fass des Diogenes“ oder die „Schubkarre“, ist Teil des größten Mitmachprojekts der Kulturhauptstadt und nutzt die „Pole Position“ am Jakobsweg.

Ein weiteres großes Mitmachprojekt ist #3000 Garagen. Einst gab es 30.000 Garagen in Chemnitz, viele stehen heute leer oder wurden abgerissen. Das Projekt nimmt sowohl die Garagen als auch ihre Besitzer unter die Lupe. Es geht um Hobbys wie Filzen in der „Wollgarage“ oder das Sammeln von Mitropa-Stücken, die sonst weggeworfen worden wären. Das Projekt beleuchtet auch die Unsicherheit der Garagenbesitzer, denen oft der Grund und Boden nicht gehört. Eine französische Künstlerin, Kosima Terrass, wurde eingeladen, eine partizipative Arbeit zu machen und fasste dabei ein wichtiges Wesensmerkmal der Chemnitzerinnen und Chemnitzer auf: „aus Scheiße Gold machen“.

Die Stadt ringt mit dem Strukturwandel, der hart war und weitergeht. Der Exodus nach dem Verlust Zehntausender Industriearbeitsplätze wurde bis heute nicht aufgeholt. Doch es gibt Anfänge: Große Fabrikhallen verwandeln sich in „spacige urbane Räume“. Die Kulturhauptstadt erzählt mit Ausstellungen wie „Tales of Transformation“ von der einst reichen Industriestadt und dem, was davon geblieben ist.

Chemnitz ehrt im Kulturhauptstadtjahr auch seinen „größten Künstlersohn“, den Expressionisten und Mitbegründer der Brücke, Karl Schmidt-Rottluff. Ein nigelnagelneues Museum im Wohnhaus seiner Eltern wurde durch „sehr starkes bürgerliches Engagement“ und die Kulturhauptstadt möglich. Es zeigt erstmals auch sein weniger bekanntes designerisches Werk. Das Museum beleuchtet auch die Verfolgung des Künstlers in der NS-Zeit und das Malverbot von 1941, was die Frage der Kunstfreiheit aufwirft – ein Thema, das laut Museumsdirektorin heute „fast wieder ein bisschen“ relevant ist und die Demokratie mitgefährdet.

Die Kulturhauptstadt soll nicht nur Außenwirkung erzielen, sondern den Chemnitzerinnen und Chemnitzern einen Schub für Selbstbewusstsein, für Stolz geben, trotz aller Problemlagen. Ziel ist es, ein neues Wirgefühl zu erzeugen. Programmchef Stefan Schmidte sieht die Kulturhauptstadt als Hebel für Stadt- und Regionalentwicklung und als Booster fürs Wirgefühl. Er wirbt in Brüssel dafür, die Erfahrungen anderer Kulturhauptstädte zu nutzen und den Titel vielleicht sogar weiterzugeben, da Kultur eine Kraft ist, die zusammenführt, „wenn die Gesellschaft auseinandertreibt“.

Bleiben wird hoffentlich „eine Menge“. Für Projekte wie das neue Schmidt-Rottluff Museum und die Brücke zur sanierten Wohnmühle, seinem Geburtshaus, wird Nachhaltigkeit über das Jahr hinaus angestrebt. Nirit Sommerfeld plant, ihr Kaffee Julius im Schocken, einem früheren jüdischen Kaufhaus, das heute für Vielfalt steht, mindestens bis nächsten Sommer weiterzubetreiben.

Chemnitz möchte nicht länger „See the unseen Chemnitz – die Ungesehene“ bleiben. Trotz Kulturkürzungen, der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und den Herausforderungen des Strukturwandels zeigt die Stadt im Kulturhauptstadtjahr eine enorme „Machaergie“ und kreative Vielfalt. Der Wunsch am Ende ist klar: weiter so viel Energie und endlich die Anbindung, damit sich das genaue Hinsehen in Chemnitz für mehr Menschen lohnt.