Rainer Eppelmann über die Arbeitsatmosphäre in der Volkskammer 1990

Interview mit Rainer Eppelmann: Arbeitsatmosphäre in der Volkskammer 1990

Das Interview „Arbeitsatmosphäre in der Volkskammer 1990“ mit Rainer Eppelmann vermittelt eindrucksvoll, wie der tiefgreifende politische Wandel in der DDR zu einer radikalen Veränderung der Arbeitsweise und der internen Strukturen im Parlament führte. Eppelmann schildert, dass alle Sitzungen der Volkskammer live übertragen wurden und somit Hundertetausende DDR-Bürger jeden Schritt der parlamentarischen Arbeit verfolgten. Diese permanente Beobachtung und der damit verbundene öffentliche Druck resultierten in einer Atmosphäre, in der das gesamte, ohnehin hochpolitische Volk nicht nur Zuschauer, sondern ein aktiver und kritischer Teil des Prozesses war.

Ein zentrales Element der Veränderungen war die Entscheidung von Lothar de Maizière, eine große Koalition zu bilden – statt sich auf eine kleinere, exklusivere Gruppe zu stützen. De Maizière erkannte, dass in den kommenden Monaten zahlreiche grundgesetzverändernde Entscheidungen anstehen würden, die weitreichende Konsequenzen hatten. Um diesen enormen Herausforderungen gerecht zu werden, war es notwendig, dass alle wichtigen politischen Akteure in einem gemeinsamen Rahmen zusammenkamen und Kompromisse fanden. Es reichte nicht mehr, wenn ein einzelner Führungsstil oder eine autoritäre Anweisung – etwa die des Generalsekretärs – die Richtung vorgab. Stattdessen musste innerhalb der Koalitionssitzungen der Konsens hergestellt werden, sodass Entscheidungen in einem geschützten Rahmen, fernab der täglichen öffentlichen Inspektion, vorbereitet und diskutiert werden konnten.

Eppelmann erinnert sich daran, wie man als Parlamentarier gezwungen war, individuelle Zielsetzungen zurückzustellen und sich stattdessen auf das gemeinsame Erreichen politischer Ziele zu konzentrieren. Dieses Zurückrücken auf den anderen, das Suchen nach Kompromissen, war entscheidend, um handlungsfähig zu bleiben. Es ging dabei nicht darum, persönliche Ambitionen zu verwirklichen, sondern darum, die kollektiven Interessen zu vertreten und als Parlament in einer historisch einmaligen Situation fundierte Entscheidungen zu treffen. Die enge Zusammenarbeit und der intensive Austausch innerhalb der Koalition stellten dabei einen fundamentalen Bruch mit den bisherigen Arbeitsweisen dar.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt, den Eppelmann hervorhebt, ist der Wechsel in der Einstellung zur parlamentarischen Arbeit. In der DDR herrschte früher eine Art Bequemlichkeit, in der Abgeordnete oft nur ihre Position durch das richtige Heben des Arms absicherten, ohne wirklich aktiv arbeiten zu müssen. Wer an der richtigen Stelle den Arm hob, war automatisch auf der sicheren Seite – das politische System belohnte Loyalität und Konformität mehr als echtes Engagement. Mit der Wende kam jedoch ein Umdenken: Plötzlich musste man „ackern“ und tatsächlich arbeiten. Besonders auffällig war, dass auch langjährige Abgeordnete aus den Reihen der SED, PDS und sogar einige CDU-Mitglieder sich auf diese neue, arbeitsintensivere Realität einstellen mussten. Die bisherigen, fast rituellen Abläufe wichen einem System, das echte Leistung, aktive Mitarbeit und die Bereitschaft, sich auch auf unpopuläre Kompromisse einzulassen, erforderte.

Diese Umstellung war nicht nur eine Frage des persönlichen Einsatzes, sondern auch eine strukturelle Veränderung im parlamentarischen Alltag. Die Arbeitsweise wandelte sich grundlegend: Es galt, in kurzer Zeit Gesetze zu verabschieden, die zum Teil von verfassungsrechtlicher Tragweite waren. Dies stellte alle Beteiligten vor große Herausforderungen und erforderte eine bislang unbekannte Intensität und Konzentration. Eppelmann betont, dass die damalige Leistung – in einem einzigen, historischen Parlament – herausragend war. Selbst im Vergleich zu modernen Demokratien, die derzeit durch Krisen wie die Corona-Pandemie enorm belastet sind, sei die damalige Arbeitsintensität kaum zu übertreffen.

Zusammenfassend zeichnet das Interview ein Bild von einer Zeit des tiefgreifenden Umbruchs, in der das politische System der DDR von einer eher passiven, mechanischen Arbeitsweise zu einer Ära intensiver, kollaborativer und kompromissbereiter Entscheidungsfindung transformiert wurde. Die live übertragenen Debatten, der direkte Einfluss der Öffentlichkeit und der dringende Bedarf, grundlegende verfassungsrechtliche Veränderungen herbeizuführen, machten diese Phase zu einer der herausforderndsten und zugleich bedeutendsten Perioden in der Geschichte des Parlaments. Die erlebte Transformation zwang alle Beteiligten – ob „die Neuen“ oder „die Alten“ – sich neu zu orientieren und ihre Arbeitsweise grundlegend zu ändern, um den hohen Ansprüchen eines sich rapide wandelnden politischen Systems gerecht zu werden. Diese Erfahrungen prägten nicht nur den Übergang von einem autoritären zu einem demokratischen System, sondern setzten auch Maßstäbe für die zukünftige Gestaltung demokratischer Prozesse in Deutschland.

Autor/Redakteur: Arne Petrich
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