Ullrich Nitsch, ein Unternehmer aus dem Westen, der nach eigener Aussage nie zuvor in der DDR gewesen war, aus Sorge, in alten Papieren aufzutauchen, fand Anfang der 90er Jahre seinen Weg nach Halberstadt. Ursprünglich wollte er mit seinem Sohn, der gerade Semesterferien hatte, auf dem Weg nach Nordhausen nur die Stadt durchqueren. Doch die Erwähnung der Halberstädter Würstchen weckte sein Interesse und wurde zum „Aufhänger“, sich den Betrieb anzusehen.
Nitsch, der aus der Fleischbranche stammte und bereits Erfahrung mit zwei Betrieben im Westen gesammelt hatte, sah in den neuen Bundesländern die Möglichkeit, etwas zur Wiedervereinigung beizutragen. Er nahm Kontakt mit Herrn Krone, dem damaligen Direktor des VEB-Betriebs, auf. Obwohl ein erstes Gespräch mit einem Juristen und Wirtschaftsprüfer, der den Betrieb und seine Zahlen nicht kannte, als „unmöglich“ beschrieben wurde, setzte sich Krone für weitere Gespräche in Berlin ein.
Der Kampf gegen die Liquidation
Die Situation des Betriebs war kritisch. Laut Nitsch hatte die Treuhand bereits geplant, den Betrieb zu liquidieren. Nitsch argumentierte vehement dagegen: „Wie kann man ein Betrieb der zwei Weltkriege überstanden hat Wirform und Enteignung überstanden hat gerade zur Wiedervereinigung plattmachen ein Betrieb der 1883 gegründet war und so ein Weltbild abgegeben hat über die Würstchen“. Diese Argumentation beeindruckte offenbar Frau Breu von der Treuhand, die weitere Termine anberaumte. Ihre frühere Tätigkeit als Wirtschaftsministerin in Niedersachsen half ihr wohl, Referenzen über Nitsch einzuholen, da Lehrte, wo er einen Betrieb geführt hatte, ein Vorort von Hannover ist.
Eine Übernahme unter Bedingungen
Trotz des desolaten Zustands des Betriebs, der laut Nitsch „abgeschrieben war zum Abbruch“, wollte er ihn nur mit dem alten Gebäude übernehmen. Seine Bedingung war die Mitübernahme des „alten Betriebs“. Nitsch war überzeugt, dass die besondere Qualität der Halberstädter Würstchen nicht nur im Dosenverfahren und Geschmack lag, sondern wesentlich von der „Flora“, dem Umfeld, den Arbeitsräumen und vor allem dem Rauch abhing. Er stellte fest, dass der Betrieb eine einzigartige Methode nutzte, um die Würstchen im Rauch auf über 100°C zu erhitzen und vorzukonservieren, was er in seiner Lehre nie erlebt hatte. Diese traditionelle Methode musste seiner Meinung nach aufrechterhalten werden.
Die Übernahme erfolgte im Wesentlichen in drei Rubriken: der Kauf der GmbH, die Übernahme und Renovierung der Immobilien sowie die benötigten Investitionen. Der Kaufpreis und die notwendigen Mittel beliefen sich auf rund 30 Millionen. Diese Mittel wurden von den Banken, der Deutschen Bank und der Commerzbank, die Nitsch von früheren Tätigkeiten kannten, durch Bürgschaften zur Verfügung gestellt. Die Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsämter gaben ihm zwei Jahre Zeit, den Betrieb zu sanieren und an die EG-Verordnungen anzupassen.
Eine unerwartete Herausforderung ergab sich, als im fertigen Vertrag ein Passus erschien, der Nitsch verpflichtete, zusätzlich zu den bereits gezahlten Abfindungen für etwa 400 bis 500 Mitarbeiter weitere 1,8 Millionen Euro zu zahlen, wenn der Betrieb schwarze Zahlen schreiben würde. Dies war nicht Teil der ursprünglichen Verhandlungen.
Widerstände und Erfolge im Neuanfang
Der Betrieb war bei der Übernahme „ausgelutscht“ und es war wenig investiert worden. Nitsch ließ die Produktion weiterlaufen, lehnte aber Ratschläge ab, zuerst die Fassade zu renovieren, da für ihn der Betrieb selbst Priorität hatte. Er erkannte schnell, dass er mit dem alten Betrieb nicht weiterarbeiten konnte, wie er war. Angesichts seines Alters (Anfang 50) und seines guten Rufs erhielt er die notwendige Zustimmung der Banken.
Eine zentrale Aufgabe war der Wiederaufbau des Umsatzes. Nitsch und Herr Krone reisten gemeinsam, um den Betrieb im Handel im Westen neu vorzustellen. Nitschs Bekanntheit und sein Selbstbewusstsein halfen dabei. Während Konkurrenten unkten, er werde nur zwei Jahre durchhalten, war Nitsch überzeugt und konnte nachts gut schlafen.
Er stellte fest, dass er sehr positive Mitarbeiter vorfand. Ehemalige Führungskräfte wie Herr Krone (ehemaliger Direktor) und Herr Erdman (technischer Leiter) wurden in neue Positionen als Geschäftsführer für Vertrieb bzw. Produktion übernommen.
Nitsch investierte auch in andere Projekte in Halberstadt, wie ein Wellness-Hotel mit Schwimmbecken, was bei den Einheimischen zunächst auf Skepsis stieß, da sie bereits ein Bad hatten. Ihm war bewusst, dass die Bedeutung der Halberstädter Würstchen seit der Wiedervereinigung nachgelassen hatte. Während sie früher im Osten ein Markenzeichen waren und Menschen im Westen stolz davon sprachen, war der Verzehr stark zurückgegangen.
Aktuelle Herausforderungen und Insolvenz
In jüngerer Zeit sah sich das Unternehmen mit erheblichen Problemen konfrontiert. Der Verzehr war um 30% gesunken. Noch gravierender waren die Preissteigerungen, insbesondere seit dem Ukrainekrieg. Materialkosten für Fleisch, Hilfsstoffe und Verpackungen stiegen um über 100%, und auch die Energiepreise explodierten. Die Dampferzeugung, die mit Gas erfolgte, wurde teurer. Eine erste Preiserhöhung reichte nicht aus, und der Handel lehnte eine zweite ab.
Der Umsatzrückgang um 30-40% war nicht mehr zu verkraften. Trotz der Hoffnung einer vom Gericht eingesetzten Kommissarin, die meinte, das Unternehmen könne noch zahlen, meldete die Halko, die Nachfolgerin des 1883 gegründeten Betriebs, Anfang Januar offiziell Insolvenz an. Die Konten wurden gesperrt und trotz des Bedarfs und der Möglichkeit, Sicherheiten wie Grundschuldbriefe zu stellen, wurden keine Kredite mehr vergeben. Nitsch äußerte Unverständnis, da er 30 Jahre zuvor problemlos 30 Millionen Kredit erhalten hatte.
Zukunftsaussichten und Familie
Trotz der Schwierigkeiten besteht der Wille, das Unternehmen fortzuführen. Es wird als Familienunternehmen betrachtet, in das sich auch die Enkelkinder bereits einbringen. Angebote von Firmen, die nur an der Marke, nicht aber am Betrieb selbst interessiert waren, wurden abgelehnt. Nitsch ist überzeugt, dass die Halberstädter Würstchen untrennbar mit diesem Betrieb verbunden sind und hat dies durch das geschützte GG-Zeichen (Geografisch Geschützte Angabe) verankert.
Die geplante Nachfolge sieht vor, dass Nitschs Tochter seine Position als Geschäftsführerin der KG übernimmt und sein Sohn die technische Leitung, einschließlich der Immobilien und Energiefragen. Im Bereich Wasser und Energie hat das Unternehmen bereits seit den 90er Jahren in Regenwassernutzung und Wärmerückgewinnung investiert.
Ullrich Nitsch, der sich nach eigenen Worten in Halberstadt wohlgefühlt hat und es als seine zweite Heimat betrachtet, blickt auf 30 Jahre zurück, die er nicht nur als die schönsten, sondern vor allem als die interessantesten bezeichnet. Der Kampf um die Halberstädter Würstchen geht weiter.