Eisleben, Sachsen-Anhalt. Felix Banaszak, der neue Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, hat sich auf eine ungewöhnliche Mission begeben: In einer Stadt, in der seine Partei bei der letzten Bundestagswahl gerade einmal 2 Prozent der Zweitstimmen erhielt, sucht er nach den „letzten grünen Wählern Eislebens“. Begleitet wurde er dabei vom YouTuber „Der Dunkle Parabelritter“, der die Probleme seiner Heimatstadt Eisleben beleuchtet und fragt: „Kann man diese Stadt noch retten?“. Die Reise offenbart tiefe Gräben zwischen Bundespolitik und ostdeutscher Realität, aber auch eine wachsende Bereitschaft der Grünen, zuzuhören und zu lernen.
Eisleben: Eine Stadt im Abwärtstrend
Eisleben, gelegen im Landkreis Mansfeld-Südharz, ist ein Symbol für viele Orte in Ostdeutschland, die in den letzten Jahren schiefgelaufen sind. Der Zukunftsatlas 2022 listete Mansfeld-Südharz auf Platz 400 von 400 – ein düsteres Bild. Die Region kämpft mit drastischem Bevölkerungsrückgang: Lebten 1990 noch über 34.000 Menschen in Eisleben, werden es 2040 voraussichtlich nur noch knapp über 18.700 sein. Der gesamte Kreis ist die fünftälteste Region Europas, mit der Hälfte der Bevölkerung über 55 Jahre alt. Zudem herrscht ein deutlicher Männerüberschuss bei den 18- bis 29-Jährigen, was die Geburtenrate weiter belastet.
Die wirtschaftliche Lage ist ebenfalls angespannt. Im Juni 2023 lag die Arbeitslosenquote im Kreis Mansfeld-Südharz bei überdurchschnittlichen 10 Prozent, verglichen mit 6,2 Prozent bundesweit. Mehr als jeder zweite Haushalt hatte 2022 ein niedriges Einkommen unter 25.000 Euro netto pro Jahr. Historisch gesehen war das Mansfelder Land über 800 Jahre lang ein Zentrum des Kupfer- und Silberbergbaus. Nach der Wende 1990 wurden die Betriebe jedoch stillgelegt, was zu einem massiven Strukturwandel führte, der vielen Menschen ihre Arbeit, Perspektive und sogar Identität nahm. An die Stelle alter Gaststätten sind oft Dönerläden oder Sushi-Bars getreten, was bei vielen Menschen ein Gefühl des Verlusts und der Veränderung hervorruft.
Die Grünen: Eine „Westpartei“ im ostdeutschen Gegenwind
Die geringe Wählerzustimmung für die Grünen in Eisleben – nur 276 Menschen wählten sie bei der Bundestagswahl – ist symptomatisch für ihre bundesweiten Schwierigkeiten im Osten. Selbst im Nachbarort Wimmelburg erreichten sie lediglich 1,4 Prozent der Zweitstimmen. Banaszak selbst spricht von einem „eisigen Wind“, der ihnen im Osten entgegenschlägt. Kommentare in sozialen Medien reichen von „Wir hatten schon eine Diktatur, nein danke“ bis zu Vorwürfen, die Grünen hätten sich nie für die Probleme der Menschen interessiert.
Ein möglicher Grund für die fehlende Popularität ist die Wahrnehmung der Grünen als „Westpartei“. Die historische Ablehnung der schnellen Wiedervereinigung durch Teile der Partei wirkt bei vielen noch nach, ebenso wie das Fehlen von ostdeutschem Spitzenpersonal. Banaszak räumt ein, dass der „Bündnis 90“-Teil der Partei im kollektiven Gedächtnis nicht so präsent ist, wie er sein sollte. Er betont, dass die westdeutsche Partei lernen müsse, „gesamtdeutsch zu denken“ und ostdeutsche Biografien, Mentalitäten und historische Erfahrungen stärker aufzugreifen.
Hoffnung und Vertrauensverlust: Stimmen aus Eisleben
Die Suche nach grünen Wählern gestaltet sich schwierig. Viele Eislebener sind AfD-Wähler oder wollen ihre Wahlentscheidung nicht preisgeben. Eine Gruppe Rentnerinnen, die die Grünen ebenso ablehnt wie die AfD, bringt die Lage auf den Punkt: Nach der Wiedervereinigung gab es hier 20.000 bis 30.000 Arbeitslose; sie mussten Umschulungen machen und haben „sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen“. Heute jedoch sehen sie Eisleben schlechter aufgestellt als vor 20 Jahren: weniger Geschäfte, weniger Kultur und vor allem: „die jungen Leute sind ja auch alle weg“. Trotz der düsteren Aussichten bleiben sie optimistisch: „Pessimistisch hätten wir das ja gar nicht überlebt,“ so eine Anwohnerin. Sie hoffen auf die neuen Fördergelder für den Strukturwandel, fordern aber „Arbeitsplätze“ statt nur der Renovierung von Denkmälern.
Ein Anwohner, der sich als Grünwähler aus Hannover outet, kann jedoch nicht als „Eisleber Grünwähler“ gewertet werden. Erst am Ende der Mission findet sich ein Eisleber, der die Grünen wählt – allerdings nur bei der Europawahl und primär wegen der Förderung von Solarenergie: „Grüne Energie das ist Zukunft grüne Energie das ist weltfreundlich“.
Politik am Scheideweg: Zuhören als erster Schritt
Felix Banaszak erkennt die Ursachen für den Vertrauensverlust: Es sei eine Mischung aus konkreten Erfahrungen von Verlust, Abstiegsängsten und Sorgen, aber auch kulturellen Veränderungen. Er kritisiert, dass populistischere Parteien eine einfache Orientierung bieten, indem sie versprechen, dass alles so bleibt wie es ist oder sogar wieder wie früher wird. Die etablierten Parteien dringen kaum noch zu den Menschen durch, da die Mediennutzung sich geändert hat und Algorithmen bestehende Weltbilder bestätigen. Er als Grüner sei oft damit beschäftigt, Vorurteile und „propagandistische Inhalte“ über seine Partei aus dem Weg zu räumen, bevor er überhaupt über Inhalte sprechen könne.
Banaszak betont, dass die Transformation des Ostens in den 90er Jahren für viele Menschen „einfach nur Verlust“ bedeutete, weil Versprechen nicht eingehalten wurden und keine neuen Industrien entstanden. Die Politik müsse dafür sorgen, dass der notwendige Wandel „fair ist und tatächlich abgefangen und aufgefangen wird“, ohne die Fehler der 90er Jahre zu wiederholen, die zu einem massiven Vertrauensverlust geführt haben.
Als konkreten Schritt kündigt Banaszak an, ein Regionalbüro in Brandenburg an der Havel zu eröffnen, um auch über einzelne Tage hinaus die Entwicklungen und Diskussionen im Osten mitzubekommen. Er ist überzeugt, dass der Rest Deutschlands viel vom Osten lernen kann: „dass so ein Wandel nicht im Nichts endet“ und wie Menschen sich neu organisiert und aufgebaut haben. Das Wichtigste sei, den Menschen zuzuhören, denn dies sei eine grundlegende Sache, die lange gefehlt habe und viel verändern könne.
Eisleben steht somit nicht nur für eine „No Future Town Nummer 1“, sondern auch für Menschen, die trotz allem Hoffnung haben. Die Politik muss sich dieses Vertrauen durch echtes Zuhören und das Einlösen von Versprechen neu erarbeiten – ein langer Prozess, der nicht in einer Legislaturperiode abgeschlossen sein wird.