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Anklam – Wie eine Zuckerfabrik eine ganze Region verbindet

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Anklam – Inmitten von Mecklenburg-Vorpommern, in der charmanten Stadt Anklam, schlägt das Herz einer Region im Takt einer traditionsreichen Zuckerfabrik. Was vor fast 140 Jahren begann, hat sich heute zu einem komplexen Netz aus Wirtschaft, Landwirtschaft, Naturschutz und lokaler Gemeinschaft entwickelt, das weit über die reine Zuckerproduktion hinausgeht. Eine gemütliche Runde im Hofcafé von Stefan Krüger bringt alle Akteure an einen Tisch und verdeutlicht eindrucksvoll die tiefen Wurzeln der Fabrik in ihrer Heimat.

Eine Lebensader für Anklam und die Region
Die Zuckerfabrik Anklam ist nicht nur ein Unternehmen, sondern eine wahre Lebensader für die Stadt und die umliegende Region. Im kommenden Jahr, 2023, feiert sie ihr 140-jähriges Bestehen und ist damit das wichtigste oder zumindest eines der wichtigsten Unternehmen Anklams. Sie ist die letzte Zuckerfabrik in Mecklenburg-Vorpommern und ein bedeutender industrieller Arbeitgeber, dessen Fortbestand für die Region von immenser Bedeutung ist. „Wenn ein Unternehmen 140 Jahre an einem Standort ist, ist es sicherlich zu den wichtigsten Unternehmen oder das wichtigste Unternehmen der Stadt eigentlich“, fasst Herr Galander, einer der Gäste der Kaffeerunde, zusammen.

Mehr als nur Zucker: Innovation und Diversifizierung
Die Bedeutung der Zuckerrübe reicht in Anklam weit über die klassische Zucker- und Futterproduktion hinaus. Bereits seit 2008 stellt die Fabrik Bioenergie aus Reststoffen her. Diese Weitsicht führte zu einer umfassenden Diversifizierung: Mittlerweile ist die Fabrik nicht nur auf Zucker, sondern auch auf Bioethanol und Biogas spezialisiert. Herr Fink, Produktionsleiter für Bioethanol- und Biogasanlage, betont, dass diese drei Säulen – Zucker, Bioethanol, Biogas – eine unauflösliche Symbiose bilden und die Existenz des Standortes sich nur so aufrechterhalten lässt. Man habe hier bereits vor seiner Zeit, also vor 2008, sehr visionär gedacht, um Anklam zu einem ganzheitlichen Standort zu machen. Aktuell laufen sogar Forschungsaktivitäten für die Entwicklung von Fleischersatzprodukten in Zusammenarbeit mit einem Berliner Unternehmen.

Regionale Verbundenheit: Vom Bäcker bis zum Imker

Die enge Verbindung zur Region zeigt sich in zahlreichen Facetten:

Hofcafé Krüger: Stefan Krüger, der Betreiber des Hofcafés, bezieht seinen Zucker direkt von der Fabrik, die nur einen Steinwurf entfernt liegt. Für ihn ist es eine Herzensangelegenheit, mit Produkten aus der Region zu arbeiten und diesen Vorteil für seine Torten zu nutzen.

Landwirtschaft im Wandel: Frau Schäfer, eine Landwirtin aus Groß Kieso, betreibt einen sogenannten Hybridbetrieb, der auf eine Ökologisierung der Produktion abzielt und den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln minimiert. Ihr Betrieb baut seit 1990 Zuckerrüben für die Anklamer Fabrik an, und die Beziehung intensivierte sich mit der Idee der Biorüben. Frau Koppe, eine Gemüselandwirtin aus Blesewitz, nutzt ebenfalls den regionalen Zucker für ihre eingeweckten Produkte wie Rote und Gelbe Bete. Sie legt Wert auf Regionalität und kurze Wege, auch wenn sie keine Bio-Zertifizierung anstrebt, die sie zu Biozucker von weiter her zwingen würde.

Die Schnittstelle zur Landwirtschaft: Agronomin Sabine Kromwijk bildet die wichtige Schnittstelle zwischen den Landwirten und der Fabrik. Sie kümmert sich um Vertragswesen, Saatgutbegleitung, Logistik während der Kampagnenzeit und die stetige Verbesserung des Rübenanbaus, insbesondere im Biobereich. Das Ziel sei, den Rübenanbau langfristig und angepasst an politische Rahmenbedingungen zu betreiben, sowohl konventionell als auch biologisch.

Naturpark Peenetal und Zuckerfabrik als Partner: Der Naturpark Flusslandschaft Peenetal, der jüngste Naturpark Mecklenburg-Vorpommerns, kooperiert seit 2015 eng mit der Zuckerfabrik. Die Fabrik stellt finanzielle Mittel zur Verfügung, die zu 50 Prozent die An- und Abreise von Schulklassen, benachteiligten Gruppen oder Selbsthilfegruppen zu den Bildungsangeboten des Naturparks mitfinanzieren.

Historische Verbindung der Imker: Auch die Imker der Region, vertreten durch Herrn Dr. Schulz, den ersten Vorsitzenden des Imkervereins Anklam, pflegen eine über 100 Jahre alte Beziehung zur Zuckerindustrie. Der Zucker wird traditionell als Winterfutter für die Bienen verwendet, eine Praxis, die seit Generationen besteht.

Ein Blick in die süße Zukunft
Die Gesprächsrunde im Hofcafé Krüger hat eindrucksvoll die vielfältige Bedeutung der Zuckerfabrik für Anklam und die gesamte Region beleuchtet. Sie ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie ein großes Industrieunternehmen sich nicht nur wirtschaftlich diversifiziert, sondern auch tief in der lokalen Gemeinschaft verwurzelt ist und zu einem Motor für regionale Wertschöpfung und Zusammenarbeit wird. Mit den Worten von Stefan Krüger, nach dem Genuss der Torte: „Vielen Dank für diese nette, gesellige Runde. Es hat mir ganz viel Spaß gemacht, Euch alle kennenzulernen.“. Diese gemeinsamen Anstrengungen versprechen eine weiterhin süße und erfolgreiche Zukunft für Anklam.

Holmers Gnade für Honecker: Ein Akt der Vergebung, der die DDR-Geschichte prägte

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Lobetal. Anfang 1990 rückte Pastor Uwe Holmer über Nacht ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Der Grund: Er gewährte dem früheren DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker und dessen Ehefrau Margot Obdach in seinem Haus. Diese Entscheidung war umso bemerkenswerter, als Holmers eigene Familie unter dem DDR-Regime schwer gelitten hatte.

Holmer, tief verwurzelt in seinem Glauben, erinnert sich an die stetige Botschaft seiner Kindheit: Das Leben ist ein Weg zum Himmel, und wahre Freude liegt im inneren Besitz und in der Liebe, nicht im Äußeren. Seine Mutter lehrte ihn bereits als Fünfjährigen, keine Angst vor dem Tod zu haben, wenn man dem Herrn Jesus angehört, denn „dort ist viel schöner als hier“. Dieser Wunsch, in den Himmel zu kommen und viele mitzubringen, begleitete ihn sein ganzes Leben und gab ihm Klarheit über seinen Weg.

Leid unter dem Regime und die Kraft des Glaubens
Trotz seiner Überzeugung, dass die DDR als „Schaufenster“ des Sozialismus noch Vorteile gegenüber anderen östlichen Ländern bot, blieb Holmer und seiner Familie persönliches Leid nicht erspart. Seine Kinder, selbst mit guten Leistungen, wurden der Oberschule verwiesen, und er selbst war mit Gefängnis bedroht. Als Christ war er jedoch überzeugt, dass man die DDR mit einer solchen Ausrüstung gut bestehen konnte, wenn man sich auf inneren Besitz und die Liebe konzentrierte.

Das unerwartete Ersuchen
Die Wiedervereinigung Deutschlands war für Holmer ein Wunder, besonders nachdem Honecker noch im Januar 1989 verkündet hatte, die Mauer werde 100 Jahre stehen. Doch die größte Überraschung kam zwischen Weihnachten und Neujahr 1989/90, als ihn ein Vertreter des Konsistoriums in Berlin fragte, ob er bereit sei, Erich und Margot Honecker aufzunehmen. Honecker hatte seine Wohnung in der aufgelösten Funktionärssiedlung Wandlitz nicht angenommen, aus Furcht, eine Stadtwohnung in Berlin könnte von wütenden Bürgern gestürmt werden.

Die Entscheidung für die Vergebung
Die Direktorenrunde in Lobetal beriet drei Stunden lang über das Ansinnen. Die erste Reaktion war Ablehnung, aus Sorge vor Unruhen und Protesten. Doch dann erinnerte sich Holmer und seine Kollegen an ein zentrales Gebot ihres Glaubens: „Wir beten jeden Sonntag in unserer vollbesetzten Kirche: Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern“. Jesus‘ Worte, dass der himmlische Vater denen nicht vergeben wird, die selbst nicht vergeben, wogen schwer. Nach drei Stunden war die Entscheidung klar: Sie mussten der Bitte nachkommen.

Das Zusammenleben mit Honecker
So zogen die Honeckers bei Familie Holmer ein. Beim ersten gemeinsamen Abendessen bat Holmer um ein Tischgebet, dem Honecker zustimmte. Ein Arzt riet Holmer, täglich mit Honecker spazieren zu gehen, da dessen Nieren geschädigt waren und er frische Luft brauchte. Bei diesen Spaziergängen, oft abends oder wenn Journalisten das Haus belagerten, sprach Honecker gerne über private Dinge, vermied aber Gespräche über religiöse oder politische Themen. Als Holmer einmal äußerte, der Sozialismus sei gescheitert, reagierte Honecker wütend. Holmer beschrieb Honecker als keinen brutalen, sondern einen empfindsamen, aber fanatischen Typen, der überzeugt war, der Sozialismus sei die Lösung für die Probleme seiner Zeit. Honecker war fest davon überzeugt, dass der Sozialismus wiederkehren würde.

Ein Zeichen setzen für den Frieden
Die Reaktionen auf Holmers Entscheidung waren gemischt; einige Freunde brachen den Kontakt ab. Doch Holmer war sich gewiss, dass es richtig war, dieses Zeichen zu setzen. Es ging ihm nicht nur um Honecker selbst, sondern auch um andere Funktionäre in den Dörfern. Holmer betonte: „Ich habe Honecker nur vergeben, was er mir angetan hat“. Für ihn ist Vergebung der einzige Weg, den Hass aus dem Herzen zu vertreiben und Frieden zu schaffen. Die Vergebung Jesu, wenn man sie weitergibt, löse Verkrampfungen im Herzen und zwischen Menschen auf.

Uwe Holmers Geschichte ist ein eindringliches Zeugnis dafür, wie tief verwurzelter Glaube und die Bereitschaft zur Vergebung selbst in den schwierigsten Situationen einen Weg zu innerem Frieden und zur Heilung gesellschaftlicher Wunden ebnen können.

Markus Wolf im Gespräch über die DDR, Mielke und seine eigene Rolle

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Berlin, 1990 – Im Jahr des Umbruchs, kurz nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik, blickt einer der geheimnisvollsten Geheimdienstchefs Europas, Markus Wolf, zurück auf sein Leben und das System, dem er über Jahrzehnte diente. In einem bemerkenswerten Interview mit Günter Gaus stellt sich der ehemalige Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), des Auslandsnachrichtendienstes der DDR, der Öffentlichkeit und dem Misstrauen, das ihm als „Meister der Tarnung“ und „Mischer“ entgegengebracht wird.

Zwischen Misstrauen und Wahrheitsanspruch Wolf, 1923 geboren in eine bekannte kommunistische Intellektuellenfamilie, war jahrelang stellvertretender Minister für Staatssicherheit und eine Ikone der Spionage. Gaus konfrontiert ihn direkt mit dem Vorwurf der Doppelzüngigkeit, doch Wolf sieht dies anders: Er müsse um Vertrauen werben, wie er es schon in seiner Tätigkeit als Geheimdienstchef tat, um Menschen zu gewinnen, die der DDR politisch fernstanden. Er betont, dass er Doppeldeutigkeit als seinen größten Fehler ansieht und Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit am meisten schätzt. Wolf will sich so darstellen, wie er ist, und dem Zuschauer die Meinungsbildung überlassen.

Die „Elite“ der Auslandsaufklärung Die Auslandsnachrichtendienstler, so Wolf, nahmen eine besondere Stellung ein – nicht nur im Staat, sondern auch innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Die Auswahl des Personals war streng: Es waren oft sehr junge FDJ-Funktionäre, die Vertrauen genossen und keine West-Verwandtschaft ersten Grades hatten. Sie wurden speziell geschult, mit einer Grundausbildung, die durchschnittlich ein Jahr dauerte. Wolf ist überzeugt, dass das Gros dieser Mitarbeiter im Glauben handelte, „etwas Gutes zu tun“, im Interesse des Friedens und der Verteidigung des Sozialismus. Er räumt ein, dass vieles im Rückblick pathetisch klinge und individuelle Karriereaspekte eine Rolle spielten, aber der Glaube an die gute Sache überwog für die Mehrheit.

Die „Ideologische Diversion“: Ein „Größtes Übel“ Auf Gaus‘ Frage nach der moralischen Rechtfertigung einer Trennung zwischen der „rüden“ Repression im Inland und der vermeintlich „nobleren“ Auslandsaufklärung, geht Wolf auf die Integration des Dienstes in das MfS ab 1953 ein. Er bezeichnet das Konzept der „ideologischen Diversion“, das Minister Erich Mielke zugeschrieben wird, als das „größte Übel“, das in der DDR eingeleitet wurde. Dieses Konzept habe es ermöglicht, Andersdenkende zu kriminalisieren und wurde zur zentralen Aufgabe des gesamten Ministeriums.

Wolf bestätigt, dass die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) zwar auf die Abwehr von äußeren Gefahren wie militärische, wissenschaftlich-technische oder politische Überraschungen ausgerichtet war, aber dennoch Teil dieses Systems war. Er habe vom Kern der zunehmenden Repression gewusst, auch wenn er das Ausmaß der Einzelheiten erst nach den Ereignissen von Oktober/November 1989 erfuhr. Wolf beschreibt, wie er sich eine „sehr große Nische“ im Nachrichtendienst schuf, um seine Arbeit, die er für richtig und notwendig hielt, fortzusetzen. Jeder Versuch, von diesem Pfad abzuweichen, hätte seinen sofortigen Ausschluss bedeutet.

Erich Mielke und die Tragödie der Inkompetenz Erich Mielke charakterisiert Wolf als tief misstrauisch und den „Träger, Verantwortlichen, Verfechter dieser verhängnisvollen Sicherheitsdoktrin“. Mielke sei flexibel gewesen, besonders bei „Hofintrigen“ innerhalb der Führung, und stets seinen Vorgesetzten (Ulbricht, Honecker) gegenüber absolut loyal. Wolf stuft Mielkes Intelligenz nicht in die oberen Ränge ein.

Das Jahr 1989 markierte für Wolf eine Zäsur. Nach einem letzten Gespräch mit Erich Honecker Anfang 1989 wurde ihm klar: Honecker verstand die Welt nicht mehr und war „fest entschlossen, einen anderen Weg zu gehen“, als den der dringend notwendigen Veränderungen im Sinne von Perestroika und Glasnost. Wolfs Hoffnung auf Reformen zerbrach. Er stimmt dem Dramatiker Heiner Müller zu, der von einer „Tragödie der Inkompetenz“ bei Honecker sprach, obwohl Honecker in außenpolitischen Fragen durchaus kompetent war. In Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik treffe diese Einschätzung jedoch voll zu.

Familienbande und die Ferne zur Arbeiterklasse Als Spross des „kommunistischen Hochadels“ – sein Vater, Friedrich Wolf, war ein gefeierter kommunistischer Dramatiker und Intellektueller – wuchs Markus Wolf in der Sowjetunion auf und kehrte 1945 mit der Gruppe Ulbricht nach Deutschland zurück. Obwohl sein Vater eine enge Bindung zur Arbeiter- und Bauernschaft förderte, gibt Wolf zu, dass ihm die Arbeiterklasse „im Grunde doch fremdartig“ blieb und es eine „intellektuelle Ferne“ gab. Er habe selbst nie an der Werkbank gearbeitet. Nach 1945 wünschte er sich eine Tätigkeit, die ihn näher an die Menschen gebracht hätte, wie etwa als Parteifunktionär.

Das Festhalten am Ideal und die fatalen Fehler Wolf reflektiert über das Festhalten seiner Vätergeneration am kommunistischen Ideal, auch nach den Schrecken des Stalinismus. Der Antifaschismus war ein stärkeres Motiv als die Eindrücke der sowjetischen Prozesse. Wolf selbst sah den Weg der Abkehr vom Ideal nicht als Alternative, sondern eher als „Verrat an der Idee“. Die Parteidisziplin bezeichnet er als „unser Übel“, die viele davon abhielt, ihre abweichenden Ansichten in die Tat umzusetzen.

Die entscheidenden Fehler des untergegangenen Regimes lagen für Wolf in der fehlenden Bindung zum Volk und dem Nichtvertreten der tatsächlichen Interessen des Volkes. Er räumt ein, dass er die Sehnsucht nach nationaler Einheit in der Bevölkerung falsch eingeschätzt hat. Den größten Fehler, der in Richtung Verbrechen des Stalinismus ging, sieht er in der bereits erwähnten Sicherheitsdoktrin der „ideologischen Diversion“ und der Mystifizierung des Machtbegriffs.

Wolf glaubte bis Oktober 1989 an eine Erneuerung aus der SED heraus und wollte an ihr teilnehmen. Im Rückblick hält er dies jedoch für unmöglich, da die SED eine Folge der Wurzeln des Stalinismus war und die Mischung aus Parteidisziplin, Gläubigkeit, Opportunismus, Arroganz und Ignoranz von Apparaten zu stark war.

Späte Einsichten und das Schicksal der Agenten Wolf räumt ein, dass er „zu wenig Widerstand geleistet“ hat. Er gesteht auch, dass er auf der Suche nach Verbündeten für Reformen war, aber letztlich niemand, auch nicht in den oberen Etagen, etwas tat – er schließe sich selbst dabei ein.

Als oberstes Anliegen betrachtet Wolf es, seinen ehemaligen Mitarbeitern, die er in „gutem Glauben“ für eine „gute Sache“ angeworben hatte, einen Platz im vereinigten Deutschland zu sichern, der sie vor Strafverfolgung, Ausgrenzung und Diffamierung schützt. Er schätzt die Zahl der bedeutenden Quellen in der Bundesrepublik, die tatsächlich Zugang zu Geheimnissen hatten, auf unter 500, möglicherweise um die 500.

Auf die Frage nach der menschlichen Seite der Spionage, etwa nach tragischen Fällen wie dem Suizid der Sekretärin von Günter Gaus, betont Wolf, dass er sich oft Gedanken gemacht habe über die Konsequenzen wie lange Haftstrafen, auch wenn es nicht immer um den Tod gehe. Er befürwortet das „Aussteigen“ ehemaliger RAF-Terroristen aus dem Terrorismus als „auf jeden Fall richtig“, auch wenn er die individuellen Beweggründe nicht nachvollziehen kann.

Sorge um die Sowjetunion und persönliche Bilanz Markus Wolf, der die Sowjetunion kennt und liebt, zeigt sich in großer Sorge über die Entwicklungen dort und in Osteuropa, die ganz Europa destabilisieren könnten. Er befürchtet, dass die Hoffnung, Sozialismus mit Demokratie und Humanismus zu verbinden, aufgegeben werden muss. Gorbatschow stehe vor einer Fülle von Problemen – Nationalitäten, Demokratie, Wirtschaft – und es gebe „keine echte Alternative“ zu seinem eingeschlagenen Weg. Ein Auseinanderfallen der Sowjetunion, auch wenn er es sich nicht vollständig vorstellen kann, würde zu „echter Instabilität und konventioneller Kriegsgefahr“ führen.

Am Ende des Interviews zieht Wolf eine persönliche Bilanz. Viele seiner Vorsätze und Ideale seien gescheitert, das Entscheidende sei nicht erreicht worden. Doch er glaube nicht, dass sein Leben „umsonst gelebt“ war. Er habe viel Gutes und Schönes erfahren und hofft, dass die Ideale und besonders die „negativen Erfahrungen“ an die jüngeren Generationen weitergegeben werden können, um daraus zu lernen.

Geteilte Welt, geteilte Wahrheiten: Zwei Journalisten im Kalten Krieg

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Die Geschichte der deutschen Teilung und des Kalten Krieges ist reich an unterschiedlichen Lesarten und Interpretationen, die bis heute nachwirken. Zwei prägende Journalistenpersönlichkeiten dieser Ära, Klaus Bölling und Karl Eduard von Schnitzler, verkörpern wie kaum andere die tiefen Gräben zwischen Ost und West, sowohl in ihren Biografien als auch in ihren beruflichen Überzeugungen. Ihre Lebenswege und Ansichten sind ein Spiegel der politischen und ideologischen Konflikte eines Jahrhunderts.

Klaus Bölling: Vom überzeugten Kommunisten zum Sozialdemokraten und kritischen Staatsdiener
Klaus Bölling, Jahrgang 1928, wuchs als Sohn eines preußischen Beamten in Berlin auf. Die Schrecken des Nationalsozialismus und des Krieges bewegten ihn, sich von 1945 bis 1947 den Kommunisten anzuschließen, da er glaubte, der Kommunismus könne alle Ungerechtigkeiten der Welt überwinden und die Welt einfach erklären. Doch schon bald wurde er desillusioniert: Er erkannte, dass an die Stelle einer faschistischen Diktatur eine neue Art von Diktatur trat, die den Menschen willenlos machen und Freiheit als „totale Unterordnung unter eine Ideologie“ definierte. Diese Erkenntnis führte ihn dazu, die KPD und später die SED zu verlassen und Sozialdemokrat zu werden, nicht aber ein „wütender Antikommunist“.

Böllings journalistische Laufbahn führte ihn zunächst zum Berliner Tagesspiegel, dann zu Hörfunk und Fernsehen. Ein Höhepunkt war seine Zeit als ARD-Korrespondent in Washington von 1969 bis 1973, bevor er sieben Jahre lang Regierungssprecher der Regierung Helmut Schmidt wurde. Seine journalistischen Vorbilder waren Karl von Ossietzky und Kurt Tucholsky.

Prägend waren für Bölling persönliche Erlebnisse: Seine Mutter wurde ins Konzentrationslager Auschwitz verbracht, sein Vater mehrfach verhaftet und bei einem Verhör misshandelt, weil er mit einem der wichtigsten Männer des 20. Juli befreundet war. Diese Erfahrungen bestärkten ihn in dem Wunsch, dazu beizutragen, dass sich die Schrecken der Vergangenheit in Deutschland niemals wiederholen.

Kritische Wendepunkte seiner politischen und journalistischen Sichtweise waren mehrfach in den Quellen zu finden:

• Der 17. Juni 1953 in der DDR, bei dem er in Berlin miterlebte, wie die Volkspolizei auf demonstrierende Arbeiter schoss, bestätigte seine Abkehr vom Kommunismus.

• Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 weckte zunächst „ungeheuren Zorn“ und „ohnmächtige Wut“ in ihm. Er sah die Mauer als „Bankrotterklärung des Kommunismus“ und als Reaktion auf die tiefe Existenzkrise des „Kommandosozialismus“ in der DDR, der bereits zwei Millionen Menschen entlaufen waren.

• Der Vietnamkrieg: Anfangs glaubte er als „Mauerberliner“, dass die USA die Freiheit West-Berlins in Vietnam verteidigen würden. Erst während seiner Zeit in Amerika und nach einem dreiwöchigen Aufenthalt in Vietnam 1971, wo er das Elend der Bevölkerung und das Leid der US-Soldaten sah, wurden ihm „buchstäblich die Augen geöffnet“. Besonders beeindruckten ihn Demonstrationen von Vietnamveteranen, die ihre Auszeichnungen als Zeichen des Protests gegen einen ungerechten Krieg über Zäune warfen.

• Als Regierungssprecher während der RAF-Terrorwelle im Herbst 1977 erkannte Bölling zwar die idealistischen Beweggründe vieler RAF-Terroristen, betonte aber, dass der Staat „keine andere Wahl“ hatte, als dem Terrorismus mit „aller Härte entgegenzutreten“ und lehnte die Einschätzung ab, der Staat sei dadurch repressiv geworden.

• Während seiner Zeit als Ständiger Vertreter in Ost-Berlin (1981-1982) interpretierte er die Politik der „friedlichen Koexistenz“ zunächst positiv. Später erkannte er jedoch, dass diese in Wirklichkeit ein „Klassenkampf auf allen Gebieten“ war, eine leninsche Strategie, die bei manchen westlichen Führungsfiguren fälschlicherweise zu einem „Revisionismus“ und zu echter Zusammenarbeit führte.

Bölling sah seine journalistische Pflicht in der „Aufklärung und in der Verteidigung der Freiheit der Meinungsfreiheit“, nicht im Agitieren oder Aufreden einer Doktrin, sondern im Erklären der Welt. Nach dem Ende der DDR bemühte er sich, im Gespräch mit ehemaligen DDR-Bürgern zu bleiben, und stellte fest, dass die Kontakte damals oft intensiver waren als heute.

Karl Eduard von Schnitzler: Der „Frontoffizier“ und schärfste Polemiker des Ostens
Karl Eduard von Schnitzler, Jahrgang 1918, beschritt einen völlig anderen Weg. Schon mit 13 oder 14 Jahren wurde er Sozialist, beeinflusst von seinem älteren Bruder, der als Student Marx widerlegen sollte, aber zum überzeugten Marxisten wurde. Er trat mit 14 Jahren der sozialistischen Arbeiterjugend bei. Als Kind hatte er sogar auf den Knien Konrad Adenauers gesessen, der aufgrund seiner Bekanntschaft mit Schnitzlers Vater oft in ihrem Haus in Dahlem verkehrte.

Ende 1947 wurde Schnitzler beim von den Alliierten gegründeten Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) entlassen, wo er als Mitarbeiter der ersten Stunde tätig war. Er hatte Illusionen über Antifaschismus und Demokratie in Westdeutschland, wurde jedoch schnell desillusioniert durch die aus seiner Sicht „Nazibande in Hamburg“, die den Sender aufbaute und in der er keine Zukunft sah.

In der DDR stieg Schnitzler zum Topjournalisten auf und betreute jahrzehntelang „Der Schwarze Kanal“, die berühmt-berüchtigte Hetzsendung des Ostens gegen die westlichen Medien. Ende Oktober 1989 wurde er fristlos entlassen, ein „Hinauswurf“ und eine „Rache“ für seine kompromisslose Haltung.

Schnitzlers Sicht auf die Geschichte und seine Rolle:

• Die Berliner Mauer war für ihn das „humanistischste Bauwerk dieses Jahrhunderts“, da sie einen Krieg verhindert habe. Er sah sie als „Zeichen der Stärke“ und als notwendige Konsequenz von Adenauers Verfassung, die zur Spaltung Deutschlands führte, und der „Frontstadt Westberlin“.

• Konrad Adenauer war für ihn ein „Feind“, da er Deutschland gespalten, die Westbindung, die Militarisierung und vor allem die von Schnitzler „besonders übel genommene“ „Renazifizierung“ betrieben habe.

• Den Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in Prag 1968 verteidigte er als notwendig, um eine „Konterrevolution“ zu verhindern, die er mit dem 17. Juni 1953 in Berlin und 1956 in Ungarn verglich. Er sah darin eine Niederlage des Imperialismus.

• Sein journalistisches Selbstverständnis beschrieb er als „Frontoffizier“ im Kalten Krieg. Dieser sei in Deutschland ein „Bürgerkrieg“ gewesen, der von den Aktionen des Westens verursacht wurde, während der Osten nur reagiert habe. Er bezeichnete sich als den „konsequentesten“ und „schärfsten Polemiker“ gegen das westdeutsche Gesellschaftssystem.

• Die Sendung „Der Schwarze Kanal“ sah er als Beitrag zur „Hygiene im Äther“ für die DDR-Bürger, die der Berieselung westlicher Fernsehstationen ausgesetzt waren. Er betonte, niemals zu Streiks oder zum Sturz der Kohl-Regierung aufgerufen zu haben.

• Nach dem Ende der DDR bedauerte er, den Kapitalismus nicht „dreckig genug dargestellt“ zu haben. Er war der Meinung, dass der Kalte Krieg und der Klassenkampf auch nach dem 3. Oktober 1990 fortgesetzt wurden, sowohl innerhalb als auch zwischen Ost und West.

Die Mauer in den Köpfen
Während Klaus Bölling die Mauer als Bankrotterklärung des Kommunismus erlebte und seine journalistische Arbeit als Aufklärung im Dienste der Freiheit verstand, sah Karl Eduard von Schnitzler sie als Notwendigkeit zum Krieg verhindern und sich selbst als „Frontoffizier“ im permanenten Klassenkampf. Die Geschichten dieser beiden Männer zeigen, wie tief die ideologischen Gräben des Kalten Krieges waren und wie unterschiedlich ein und dasselbe historische Ereignis wahrgenommen und interpretiert werden konnte. Die „Mauer in den Köpfen“, so die Quellen, ist bis heute längst nicht überwunden.

Telefonieren in der DDR: Ein Trauerspiel mit Selbstwählautomaten und Stasi-Ohren

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Für viele Bürger der Deutschen Demokratischen Republik war der Telefonanschluss zu Hause ein unerfüllter Traum, ein Symbol für Knappheit und verpasste Anschlussmöglichkeiten. Während man auf einen Trabant schon lange wartete, konnte die Wartezeit auf einen Telefonanschluss noch wesentlich länger sein – bis zu 25 Jahre waren keine Seltenheit. Die Geschichte des Telefonierens in der DDR war denn auch „mehr ein Trauerspiel als eine Komödie“.

Ein Netz im Rückstand
Selbst 1990 besaßen in den Dörfern gerade einmal 4% der Haushalte ein Telefon, und 3600 Gemeinden hatten nicht einmal einen öffentlichen Fernsprecher. Die DDR, die sich gerne zu den zehn führenden Industrienationen zählte, rutschte mit ihrem Telefonnetz auf den 30. Platz unter 34 europäischen Staaten ab. Dieser Rückstand hatte tiefe Wurzeln. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Infrastruktur vielerorts zerstört oder wurde als Reparationsleistung demontiert – so ging etwa eine moderne Vermittlungsstelle von 1940 als Reparation nach Kiew. Einige beherzte Postler retteten, was zu retten war, wie die Ruf- und Signalmaschine (RSM) aus Klotzsche. Doch der Wiederaufbau gestaltete sich mühsam. Alte Systeme aus dem Jahr 1922, wie in Dresden-Neustadt und Dresden-Süd, blieben bestehen, da sie selbst den Russen zu alt zur Demontage waren.

Von Klingelfeen und Warteschleifen
In den 1950er Jahren war das Telefonieren vor allem personalintensiv. Die sogenannten „Klingelfeen“ oder „Fräulein vom Amt“ verbanden die Gespräche manuell. Diese oft jungen, unverheirateten Frauen waren nicht nur für Verbindungen zuständig, sondern boten auch Dienste wie den Weckdienst oder Auskunft an. Es gab sogar Ansagedienste für Wetterberichte, Veranstaltungsinformationen und Lotterieergebnisse, die von Kundendienstmädchen auf Tonband gesprochen wurden.

Mitte der 50er Jahre begann die Ära des Selbstwählverkehrs im Ortsnetz, was die Klingelfeen teilweise überflüssig machte. Doch überörtliche und internationale Anrufe mussten weiterhin über das Fernamt angemeldet werden, was zu langen Wartezeiten führte. Das Netz blieb löchrig, es fehlte an allem: Kabeln, Vermittlungsstellen und vor allem Kupfer, das seit 1950 auf der Embargoliste stand und als militärisch wichtig eingestuft wurde. Der politische Wille, das Telefonnetz flächendeckend auszubauen, fehlte ebenfalls. „Wir brauchen Wohnung und kein Telefon“ – so oder ähnlich lautete die Devise, die Telekommunikation sollte in Grenzen gehalten werden.

Abenteuer im Telefonnetz: Freileitungen und Sonderanschlüsse
Telefonieren war in der DDR ein Abenteuer. Freileitungen, die blank durch die Luft verliefen, waren den Widrigkeiten der vier Jahreszeiten schutzlos ausgeliefert. Raureif oder Schnee führten zu Leitungsrissen, die unter widrigsten Bedingungen, oft bei Minusgraden und ohne Handschuhe, repariert werden mussten. Kupfer wurde durch Stahl ersetzt, was die Leitungsqualität zusätzlich verschlechterte. Die Folge waren schlechte Verbindungen, die zu Späßen wie „die reinste Reichsbahnverbindung“ Anlass gaben.

Auch das System der Ortskennzahlen war historisch gewachsen und verwirrend, da es keine einheitliche Struktur gab. Ein besonderes „Highlight“ waren die Mehrfachanschlüsse: „Zweitanlagen“ bedeuteten, dass sich zwei Teilnehmer eine Leitung teilten. Noch schlimmer waren die „Viereranschlüsse“, bei denen vier Haushalte eine Leitung nutzten und nicht erkennen konnten, ob ihr Telefon gestört war oder ein anderer sprach. Der sogenannte „Mondscheinanschluss“ erlaubte es, eine Firmenleitung nach Feierabend privat zu nutzen.

Öffentliche Telefone und Vandalismus
Für die Mehrheit der Bevölkerung, die kein eigenes Telefon hatte, waren öffentliche Münzfernsprecher oft die einzige Möglichkeit zu telefonieren. Doch auch diese waren ein Ärgernis. Ein Viertel der wenigen Telefonzellen war ständig außer Betrieb, sei es durch technische Störungen oder Vandalismus. Reparaturen waren aufwendig, und die Post durfte nicht einmal den Grund der Störung – Vandalismus – benennen, sondern musste Schilder anbringen: „Fernsprecher ist gestört, an der Instandsetzung wird gearbeitet“. Erfindungsreiche Bürger nutzten sogar Fäden, um Münzen mehrmals zu verwenden, was die Post mit Schneidevorrichtungen zu unterbinden versuchte.

Die „Sondernetze“ und das WG-Telefon
Während die Normalbevölkerung unter Versorgungsengpässen litt, existierten parallel dazu zahlreiche Sondernetze. Armee, Polizei, Staatssicherheit und Partei hatten eigene, vom öffentlichen Netz unabhängige Kommunikationswege. Hinzu kamen Netze für Wirtschaftszweige wie die Bauwirtschaft, Chemie oder die Kaliindustrie, die auch die Wohnungen ihrer Mitarbeiter versorgten. All diese Sondernetze beanspruchten Technik, die dem öffentlichen Netz entzogen wurde.

An der Spitze dieser Netze stand das geheimnisvolle „WG-Netz“ – eine „innere geheime außerordentliche Einrichtung“. Dieses Netz war für die oberste Nomenklatura, die Politbüro-Mitglieder und den Generalsekretär, reserviert. Erich Honecker besaß einen solchen „WG-Apparat“, der neben den anderen Telefonen stand und einen besonderen Klang hatte. Es war quasi ein auf 26 Personen verbreitertes „Rotes Telefon“, das direkte und schnelle Verbindungen, auch nach Moskau, ermöglichte.

Die Ohren der Stasi
Das Misstrauen der Führung ihrem Volk gegenüber war immens, und die Staatssicherheit (Stasi), auch „Horch und Guck“ genannt, hörte mit unvorstellbarem Aufwand Telefongespräche ab. Dies geschah systematisch über die Abteilung 26 des MfS, oft mit Hilfe inoffizieller Mitarbeiter in den Fernmeldeämtern, die Telefonanschlüsse heimlich anzapften und Gespräche auf Tonband aufzeichneten. Zusammenfassende Mitschnitte oder Wortprotokolle wurden angefertigt.

Es gab sogar spezielle Fernsprechapparate vom Typ TW70, die bereits konstruktionsbedingt eine integrierte Schnittstelle zur Überwachung besaßen. Ein einziger Draht genügte, um selbst bei aufgelegtem Hörer alles im Raum mithören und aufzeichnen zu können. Da Tonbandkassetten Mangelware waren – der einzige Hersteller ORWO konnte den Bedarf kaum decken – griff die Stasi auf eine perfide Methode zurück: Sie konfiszierte Tonbandkassetten aus Westpaketen, die gemäß Zollgesetz nicht versandt werden durften. So wurden „aus Liebesgaben in Westpaketen Waffen im Kampf gegen den inneren Feind“. Selbst Erich Honecker wurde nach der Wende mit Tonbändern seiner abgehörten Gespräche konfrontiert, als Reiner Eppelmann ihm diese als „Opfer des Systems“ überreichte.

Der Aufbruch und die neue Zeit
In den 1980er Jahren führten Entspannungspolitik und Devisenbedarf zu einer leichten Verbesserung der deutsch-deutschen Telefonverbindungen. Über 102 zusätzliche Leitungen ermöglichten nun direkte Wahlen in bestimmte Bezirke. Doch es blieb ein Geduldsspiel, da viel zu viele Menschen über viel zu wenige Leitungen miteinander sprechen wollten.

Nach dem Fall der Mauer waren die Erwartungen an die Post riesig. Doch die Bestandsaufnahme durch Bundespostminister Christian Schwarz-Schilling war ernüchternd: Die vorgefundene Infrastruktur war „schlimmer als wenn ein ausgebautes Gebiet durch ein Erdbeben total zerstört wurde“. Veraltete Technik aus dem Jahr 1922 war noch immer im Einsatz, und es gab lediglich 205 direkte Leitungen für Direktwählgespräche von Ost nach West. Wartezeiten von fünf Stunden für ein handvermitteltes Gespräch in die Bundesrepublik waren Normalität.

Doch diese desolate Ausgangslage bot auch eine riesige Chance. Über 30 Milliarden D-Mark wurden in den ersten Jahren investiert, um das modernste Telefonnetz Europas aufzubauen. Aus dem oft zitierten „Fasse dich kurz“ wurde schließlich ein befreites „Ruf doch mal an“. Das Telefon, einst ein knappes Gut, wurde zum Symbol der neuen Freiheit und unbegrenzter Kommunikation.

Hans Modrow – Der letzte DDR-Premier blickt zurück auf die Wendezeit

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Berlin, 1990 – Die Volkskammerwahl der DDR ist vorüber, und für Hans Modrow, den scheidenden Ministerpräsidenten der DDR während der Übergangszeit, geht ein politischer Lebensabschnitt zu Ende. Im Gespräch kurz nach der Wahl am 18. März 1990 reflektiert er, der oft als „Nothelfer in schwieriger Lage“ bezeichnet wurde, über persönliche Empfindungen und die tiefgreifenden politischen Umwälzungen, die Deutschland für immer verändert haben.

Das Ende einer Ära und die PDS-Bilanz
Modrow, der das Regierungsamt nun abgibt, aber der Politik treu bleiben will, beschreibt seine Gefühle nach der Volkskammerwahl als das Ende eines Abschnitts seines politischen Wirkens, auf den er eingestellt war. Er hatte den 18. März als Termin selbst beeinflusst und damit ein Zeitmaß gesetzt. Hinsichtlich des Wahlergebnisses seiner Partei, der PDS, zeigt er sich pragmatisch: „Wir haben erreicht, was möglich war“. Doch die politische Lage erfordere noch viel Analyse und Überlegung. Die vergangenen Monate waren kräftezehrend, mit zu wenig Schlaf und einem deutlichen Gewichtsverlust. Seine Frau habe sich in dieser Phase, in der er drei Monate allein in einem Berliner Hotel lebte, Sorge, aber kein Mitleid gemacht.

Der Weg zur Einheit: Von der Vertragsgemeinschaft zum Vaterland Deutschland
Ursprünglich verfolgte Modrow die Vorstellung einer länger andauernden „Vertragsgemeinschaft“ zwischen den beiden deutschen Staaten. Die entscheidende Wende in seiner Einschätzung kam jedoch Ende Januar 1990, nach einer Reise in die Sowjetunion. Dort erkannte er die Notwendigkeit, ein neues Konzept zu finden, was schließlich zu seiner Initiative „Für Deutschland, einig Vaterland“ führte.

Mehrere Faktoren trugen zu dieser Erkenntnis bei: Nach Mitte November 1989 wurde klar, dass die Vorstellung einer eigenen DDR-Nation nicht vollzogen war; es sei stets eine Nation geblieben, was die Frage einer Zweistaatlichkeit als nicht weitreichende Perspektive erscheinen ließ.

Zudem war der Wunsch nach Vereinigung insbesondere im Süden der DDR, etwa in Leipzig, unübersehbar. Schließlich diskutierte er auch in der Sowjetunion Standpunkte und entwickelte seine Initiative, nicht um vorzugreifen, sondern um Verantwortung in einem Prozess zu übernehmen, der Frieden und Vertrauen in Europa schaffen sollte. Er erinnert sich, dass Michail Gorbatschow bereits im Vorfeld der Moskauer Gespräche erklärt hatte, die Frage der Vereinigung sei „Sache der Deutschen selber“ und die Sowjetunion werde einem solchen Schritt nicht im Wege stehen, wenn er sich unter Beachtung europäischer Friedensinteressen vollziehe.

Modrow sieht nach der Volkskammerwahl das Problem darin, dass das atemberaubend schnelle Tempo der innerdeutschen Entwicklung nicht synchron ist mit der noch weitgehend offenen außenpolitischen Regelung der deutschen Frage. Er appelliert an die vier Siegermächte: „Sie müssen [die Synchronisierung] herbeiführen“, denn sie müssten die Interessen Europas im Auge behalten. Er spürte in Gesprächen mit Nachbarn, wie Polen und Frankreich, die Erwartung, dass der Prozess synchron verlaufe.

Kohls Wahlkampf versus nationale Verantwortung
Deutlich kritisch äußert sich Modrow über die Zusammenarbeit mit Bundeskanzler Helmut Kohl. Bei ihren Treffen in Dresden (Dezember 1989) und Bonn (Februar 1990) ging es unter anderem um den „Lastenausgleich“ und „Solidarhilfe“, Begriffe, die Kohl selbst auf einer Pressekonferenz prägte. Modrow fühlt, dass Kohl „nicht Modrow im Regen stehen lassen“, sondern „im Prinzip die Bürger der DDR im Regen stehen lassen“ und alles für den Wahlkampf nutzen wollte. Er könne nicht verstehen, wie Kohl mitten im Wahlkampf Konzepte vor die eigentliche nationale Verantwortung stellen konnte. Als „Bittsteller“ habe er sich in Bonn jedoch nicht gefühlt, da die Bürger der DDR ein Recht auf klare Forderungen gehabt hätten. Dass die DDR diese Phase ohne Solidarbeitrag überstand, spreche für den Fleiß und die Verantwortung der Bürger. Er beklagt eine fortbestehende Polarisierung und „Feindbilder“ aufseiten westdeutscher Medien und teils der Behandlung, die sich nach der Wahl voraussichtlich noch verstärken werde.

Der Mauerfall: Eine „Panikentscheidung“
Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989, beiläufig von Politbüromitglied Schabowski verkündet, war für Modrow keine geplante Öffnung. Er beschreibt den internen Prozess als „aus der Panik entstanden“, nicht aus einem „wirklichen Konzept“, gewachsen aus den Ereignissen in Ungarn und Prag. Er selbst sei zu diesem Zeitpunkt in keiner verantwortlichen Position gewesen, die ihn einbezog, er habe die Entscheidung lediglich miterlebt. Eindrucksvoll schildert er eine Begegnung am Abend des 9. November mit einem jungen Mann vor dem Gebäude des Zentralkomitees, der ihn fragte, ob er gehört habe, dass die Grenzen offen seien. Der Jugendliche, der eigentlich weg wollte, aber es dann doch nicht tat, fragte ihn nach seinem Namen. Als Modrow antwortete, sagte der Jugendliche überrascht: „Ach so, dann sind Sie wohl der Dresdner Oppositionelle“.

Dresden im Herbst ’89: Zwischen Gewaltlosigkeit und Anfeindung
In seiner Rolle als Erster Parteisekretär der SED für den Bezirk Dresden im Oktober 1989 stand Modrow in einem Spannungsfeld. Während manche ihm eine verantwortliche Mitwirkung an „Knüppeleinsätzen“ vorwerfen, betonen andere seine vermittelnde, dämpfende Wirkung. Modrow selbst weist die Vorwürfe zurück und erklärt, er habe „in keiner Weise in Befehlsstrukturen dieser Art eingegriffen“ und sei nicht einbezogen gewesen. Er habe stets versucht, Gewaltlosigkeit zu erreichen. Insbesondere kritisiert er die Entscheidung, Züge mit Prager Flüchtlingen durch Dresden fahren zu lassen, was zu gefährlichen Paniksituationen führte. Seine Bitten an den Verkehrsminister, dies zu ändern, wurden mit Verweis auf „Aufträge“ abgelehnt. Modrow vermutet, dass seine „Gegner im Politbüro“ ihm bewusst Schwierigkeiten bereiten wollten. Er bekräftigt, dass in Dresden zum ersten Mal die Entscheidung zur Gewaltlosigkeit fiel, indem Gespräche mit Kirchenvertretern und der „Gruppe der Zwanzig“ initiiert wurden, die in die Stadtverordnetenversammlung eingebunden wurden.

Honeckers Ende und das „Erzübel“ des Regimes
Die „Entmachtung“ Erich Honeckers am 18. Oktober 1989 beschreibt Modrow nicht als Sturz, sondern als einen Versuch, einen Übergang zu schaffen. Nach einer „sehr kläglichen Erklärung“ des Politbüros und Honeckers eigener Darstellung im Sekretariat des ZK, ergriff Modrow als Erster das Wort und hinterfragte die Beratungen. Honecker unterbrach ihn, unterstellte ihm „Plattformen“ und „Fraktionsbildung“. Dies führte dazu, dass andere wie Egon Krenz Honecker in einer nachfolgenden Politbürositzung zum Rücktritt aufforderten.

Das „Erzübel des alten Regimes“, dem er lange diente, sah Modrow darin, dass vieles übernommen wurde, „was man heute mit Recht als Stalinismus als stalinistische Züge bezeichnet“. Vor allem sei Recht und Gesetz nicht für die eigene Führung angewandt worden. Zudem hätten die „Herren zu dem was im Lande vor sich geht keinerlei Beziehungen besessen“. Dieser Abstand zwischen Realität und Parteispitze sei ihm ab den frühen 80er Jahren bewusst geworden. Er habe sogar an einen Rückzug aus der Politik gedacht, etwa als Botschafter in der Mongolei. Ein „Knick in der Karriere“ und anhaltende Differenzen mit Honecker gab es bereits nach 1952, verstärkt durch eine Auseinandersetzung um den Wiederaufbau des Dresdner Schlosses im Januar 1985.

Persönliche Ideale und der Kampf gegen den Zynismus
Modrow, der als Sohn eines Seemanns, Bäckermeisters und späteren Arbeiters im polnischen Jasenitz aufwuchs, absolvierte nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft und einer antifaschistischen Umerziehungsschule eine zügige Parteikarriere. Seine Nachkriegsideale, zunächst beeinflusst vom sowjetischen Befreier und Stalin als Symbol der Zukunft, wandelten sich nach dem 20. Parteitag der KPdSU unter Chruschtschow. Seine wichtigste Schlussfolgerung: Man müsse sich mit einem Ideal und einer Partei verbinden, aber „man kann sich niemals an Menschen binden, es gibt keine Götter“.

Die „bekömmliche Distanz“ der DDR-Bevölkerung zur herrschenden Ideologie und die nur noch als Lippenbekenntnisse wahrgenommene Treue waren ihm nicht verborgen geblieben. Er habe persönlich keinen Zugang mehr zu Massenkundgebungen gefunden und sich dabei nie wohlgefühlt. Er erkannte, dass die „ideologische Basis ihrer politischen Arbeit für die Mehrheit im Land nichts Wesentliches war“, sondern sogar abgelehnt wurde. Er hoffte jedoch, dass mit der Perestroika nicht die Ideologie, aber die Ideale neu begründet werden könnten.

Honeckers Lebensleistung beurteilt Modrow als ein „Menschenschicksal, wie es kaum tragischer sein kann“. Er respektierte den Antifaschisten und Revolutionär, erkannte aber, dass Honecker „sich von all dem selber gelöst hat, was scheinbar noch sein Ideal war“. Die Isolation des Politbüros von der Realität begann seiner Meinung nach Mitte der 70er Jahre, was sich etwa an Diskussionen über die Brotversorgung zeigte.

Hans Modrow ist ganz offenbar kein Zyniker. Er führt dies auf Charaktereigenschaften und vor allem auf das Verhältnis zu Menschen zurück: „dort wo man zynisch wird, verliert man vor allem an sich selber etwas“.

Die Frage nach dem schmerzlichsten Verlust eines Ideals bewegt ihn zutiefst. Er hofft, dass Menschen, die wie er an das Gute glauben und etwas für andere bewirken wollen, wieder zusammenfinden. Als Atheist betont er, dass er die Kirche dafür achtet, seit 2000 Jahren das Ziel zu haben, den Menschen Gutes zu tun. Am meisten schmerzt ihn, dass es Menschen „so schwer zur Versöhnung finden, so schwer es haben, auch Menschen, die schuldig geworden sind, am Ende doch irgendwo so etwas wie Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen“. Hier möchte er sich auch weiterhin mit Vertretern der Kirche und allen, die Gutes tun wollen, verbinden.

Hans Modrow, der „Nothelfer“ und Politiker in einer Zeit des Umbruchs, hinterlässt ein komplexes Bild, geprägt von Idealismus, Ernüchterung und dem unbedingten Wunsch nach einem friedlichen und verantwortungsvollen Weg für Deutschland in Europa.

Das dunkle Erbe des DDR-Zwangsdopings im Eiskunstlauf

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Berlin – Das Zwangsdopingsystem der DDR hat tiefe, bis heute spürbare Wunden hinterlassen. Besonders perfide war die systematische Verabreichung von Dopingmitteln an Minderjährige, wie es im Eiskunstlauf praktiziert wurde. Während die Opfer des Systems mit schweren Krankheiten und psychischen Leiden kämpfen, verharren die Täter und der Sportverband weiterhin in einer Mauer des Schweigens oder agieren defensiv.

Der Preis der Medaillen: Eine Kindheit im Dienst des Staates
Die Sichtung talentierter Kinder für den Eiskunstlauf begann in der DDR bereits im Kindergarten. Die begabtesten wurden frühzeitig in die Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) delegiert, die als Kaderschmieden des DDR-Sports fungierten. Dort erwartete sie hartes Training rund um die Uhr, alles im Streben nach Medaillen für den SED-Staat. Obwohl der Eiskunstlauf zahlreiche Welt- und Europameister sowie olympische Medaillen hervorbrachte, blieben viele Athleten auf diesem Weg „auf der Strecke“.

Susanne Schniirder war ein solches vielversprechendes Talent. Schon als junges Mädchen musste sie zusätzlich zum harten Training zahlreiche Medikamente einnehmen. Darunter befand sich auch das berüchtigte Anabolikum Oral Turinabol, eine blaue Tablette, die in der DDR flächendeckend eingesetzt wurde. Ihre Mutter, eine Krankenschwester, erinnerte sich an die ungewöhnliche Farbe der Tablette, die männliche Sexualhormone enthielt und oft als Vitaminpräparat getarnt wurde. Susanne Schniirder leidet noch heute an den Nachwirkungen – Essstörungen, Angstzustände, Lebertumore – und wurde ärztlich davon abgeraten, Kinder zu bekommen. Ihre Eltern zogen die Notbremse, als ihr Wachstumshämmer verschrieben wurden, um sie für das Paarlaufen klein und zierlich zu halten.

Ein Schock und lebenslange Schmerzen
Marie-Kathrin Karnitz, eine Weltklasse-Paarläuferin, die an zahlreichen internationalen Wettbewerben teilnahm, erfuhr erst Jahre später, 1997, dass sie 1986 als 16-Jährige und somit minderjährig Oral Turinabol erhalten hatte. Dies war ein „Riesenschock“ für sie. Heute ist Karnitz als Dopingopfer anerkannt und kämpft tagtäglich mit Schmerzen. Sie engagiert sich im Dopingopferhilfeverein, der über 700 ehemalige Sportler, darunter mehrere Eiskunstläuferinnen, unterstützt. Lange Zeit konnte sie nicht glauben, dass der Eiskunstlauf, wie auch das Turnen, genauso „verseucht“ war wie Kraftsportarten, doch es ging nicht nur um den Muskelaufbau, sondern um Athletik, Ausdauer und die Aufrechterhaltung eines niedrigen Körpergewichts.

Auch Karin Miegel, die mit elf Jahren als jüngste weltweit einen Dreifach-Flip sprang, wurde Opfer des Systems. Ihr Dopingprogramm begann bereits mit 13 Jahren. Ein Vergabeplan, explizit mit Medikationstagen und der Menge des Anabolikums Oral Turinabol versehen, zeugt davon. Miegel leidet heute unter unheimlichen Muskelschmerzen, gynäkologischen und psychischen Problemen sowie Schlafstörungen. Sie betont, dass alle Verantwortlichen wussten, welche Nebenwirkungen die Dopingmittel hatten und dass Kinder, insbesondere Mädchen, in diesem Alter noch schlimmer betroffen waren.

Das Schweigen der Verantwortlichen und die Suche nach Gerechtigkeit
Trotz der erdrückenden Beweise und der Aufarbeitungsarbeit von Wissenschaftlern wie Werner Franke, der geheime Dopingunterlagen sichern konnte, wurde keiner der Ärzte, die im DDR-Eiskunstlauf Doping anordneten, strafrechtlich verurteilt. Das Schweigen der damals zuständigen Sportmediziner hält auch 25 Jahre nach dem Mauerfall an. Einige äußern sich nur über Anwälte und behaupten, der Einsatz der Mittel habe rein medizinische Gründe gehabt.

Der gesamtdeutsche Verband, die Deutsche Eislauf-Union (DEU), hat zwar die Erfolge der DDR-Zeit in ihre eigene Geschichte integriert, nahm aber lange Zeit keinen Kontakt zu den Opfern auf. Erst nach mehrmaliger Anfrage teilte die DEU mit, dass sich Opfer direkt an sie wenden könnten und man nach Möglichkeit Hilfe leisten werde – 25 Jahre nach dem Mauerfall, als die Leiden der Opfer bereits massiv zugenommen hatten.

Katharina Witt, die erfolgreichste Eiskunstläuferin der DDR, erklärte vor Jahren, dass ihr nie Dopingmittel angeboten oder verordnet wurden, und vertritt die Ansicht, Doping mache im Eiskunstlauf keinen Sinn. Sie lehnte es ab, mit der Sendung „Sport inside“ über die Schattenseiten des DDR-Eiskunstlaufs zu sprechen. Viele ihrer ehemaligen Kolleginnen, die heute leiden, bedauern, dass sie in Witt keine Fürsprecherin finden. Susanne Schniirder, die Witt von gemeinsamen Wettkämpfen gut kannte, zeigte sich enttäuscht und wütend über die fehlende Unterstützung.

Ein Kampf gegen das Vergessen
Die jungen Athleten waren Funktionären, Ärzten und Betreuern schutzlos ausgeliefert. Sie mussten einen hohen Preis für den angestrebten Erfolg zahlen. Die Leiden der Dopingopfer, wie Susanne Schniirder, Marie-Kathrin Karnitz und Karin Miegel, sind ein Mahnmal für die dunkle Seite des Leistungssports in der DDR und ein fortwährender Appell, das Schweigen zu brechen und den Opfern endlich umfassende Gerechtigkeit und Anerkennung zukommen zu lassen.

Ingrid Krämer-Gulbin, das erste Cover-Girl der DDR und dreifache Olympiasiegerin

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Dresden/Rom/Tokio – Im Sommer 1960 verzauberte sie ganz Deutschland und wurde über Nacht zum Weltstar: Ingrid Krämer-Gulbin, damals noch Ingrid Krämer, eine 17-jährige Oberschülerin aus Dresden, gewann bei den Olympischen Spielen in Rom zweimal Gold im Wasserspringen. Nun feiert die dreimalige Olympiasiegerin ihren 80. Geburtstag und blickt auf eine einmalige Karriere zurück, die sie zum ersten „Cover-Girl der DDR“ machte.

Ein kometenhafter Aufstieg in Rom
Die Spiele von Rom 1960 markierten den Durchbruch für die junge Dresdnerin. Mit 17 Jahren, jung, hübsch und blond, beendete sie die Dominanz der amerikanischen Springerinnen, indem sie das schwierigste Wettkampfprogramm der Welt sprang. Ihr Erfolg war so überwältigend, dass sie in ihrer Heimatstadt Dresden bei ihrer Rückkehr empfangen wurde, als wäre „nahezu die ganze Stadt“ auf den Beinen gewesen. „Ich wurde auf dem Altmarkt empfangen mit Pauken und Trompeten, und wirklich ganz Dresden schien auf den Beinen, als die Doppel-Olympiasiegerin von den Spielen in Rom zurückkehrt“, erinnert sie sich.

Ein Beweis ihrer Popularität und ihres sportlichen Ausnahmezustandes: Ingrid Krämer-Gulbin wurde 1960 sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik zur Sportlerin des Jahres gewählt – eine Leistung, die bis heute keinem anderen Sportler und keiner anderen Sportlerin gelungen ist.

Angst als Triebfeder und harter Trainingsaufwand
Dabei war ihr Weg zum Erfolg keineswegs einfach. Die gebürtige Dresdnerin, die mit zwölf Jahren mit dem Wasserspringen begann, musste sich stets selbst überwinden. „Anfangs sei die kleine Ingrid nämlich ein großer Angsthase gewesen, bin ich eigentlich auch immer geblieben, aber ich glaube, das ist eigentlich in unserer Sportart gar nicht so unüblich, denn wer sehr viel Angst hat, der überlegt auch genau, bevor er einen neuen Sprung probiert“, erklärt sie. Diese vorsichtige Herangehensweise kam ihr im Sport zugute.

Der Trainingsaufwand war enorm. Um die schwierigsten Wettkampfserien der Welt einzustudieren und eine gewisse Sicherheit zu erreichen, musste sie an einem Tag einen Sprung über 200 Mal wiederholen.

Fortsetzung des Erfolgs in Tokio und bleibendes Vermächtnis
1964 setzte Ingrid Krämer-Gulbin ihre Erfolgsgeschichte fort. Bei den Olympischen Spielen in Tokio führte sie das gemeinsame deutsche Team als Fahnenträgerin an. Sie verteidigte ihren Olympiasieg vom Brett und holte zusätzlich Silber vom Turm.

In ihrer Heimatstadt Dresden hat sie ihre Sportart populär gemacht. Dort wurde sogar eine Springerhalle gebaut, auf deren Dach ein lebensgroßes Bronzedenkmal von ihr steht – eine bleibende Erinnerung an die Sportlegende.

Heute feiert die dreifache Olympiasiegerin ihren 80. Geburtstag und kann auf eine Karriere voller Glanz und wegweisender Erfolge zurückblicken, die sie zu einer der größten Sportlerinnen der deutschen Geschichte macht.

Dr. Hans-Joachim Maaz über die DDR

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Frühe Erfahrungen und Stasi-Intervention Maaz erlebte die DDR zunächst als junger Psychiater in den frühen 1970er Jahren. Er und eine kleine Gruppe junger Psychiater versuchten, die sehr autoritären und restriktiven Verhältnisse in der Psychiatrie zu verändern, indem sie Sozialpsychiatrie und Psychotherapie einführen wollten. Dies führte dazu, dass sie nachts von der Staatssicherheit abgeholt wurden, da ihre Bemühungen als „Verschwörungsgruppe gegen die sozialistische Leitungstätigkeit der Psychiatrie“ interpretiert wurden. Diese Erfahrung prägte ihn zutiefst und zeigte ihm, dass die Medizin, insbesondere die Psychiatrie, nicht unabhängig von den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen war. Ihm wurde vorgeworfen, eine staatsfeindliche Einstellung zu haben. Die Stasi versuchte sogar, ihn indirekt anzuwerben, indem sie ihm Unterstützung für eine psychotherapeutische Station anbot, wenn er „im Gespräch bleiben“ würde, was für Maaz ein wichtiger Grund war, die Klinik so schnell wie möglich zu verlassen.

Freiraum in der Diakonie und Einführung neuer Methoden Nach diesen Erfahrungen fand Maaz seine berufliche Hauptzeit in der Diakonie in Halle, wo er einen großen Freiraum genießen konnte. Unter normalen DDR-Verhältnissen wäre er aufgrund seiner kritischen Einstellung nie Chefarzt geworden. In dieser diakonischen Einrichtung konnte er Methoden wie Körperpsychotherapie und Gestalttherapie einführen, die es sonst in der DDR nicht gab. Er verdankte der Diakonie nicht nur seine Karriere bis zum Chefarzt, sondern auch die Möglichkeit, nach seinen Vorstellungen zu leben und zu arbeiten. Er erlaubte sich sogar, nicht zur Wahl zu gehen, was in der DDR zu Schwierigkeiten und Drohungen führen konnte.

Familiärer Hintergrund und „Immunsystem“ Maaz wuchs in einer Familie auf, die den politischen und ideologischen Verhältnissen kritisch gegenüberstand. Sein Vater war Kaufmann im Sudetenland und litt unter den fehlenden Geschäftsmöglichkeiten in der DDR. Seine Eltern waren auch dem nationalsozialistischen System gegenüber kritisch, was eine frühe Sensibilisierung für autoritäre Verhältnisse bedeutete. Schon als Jugendlicher erkannte er die Wiederholung autoritärer Verhältnisse aus dem Nationalsozialismus in der DDR, wenn auch mit anderen Inhalten. Dies war ein entscheidender Beweggrund für ihn, später in die Psychiatrie zu gehen, um solche Phänomene verstehen zu wollen. Dieses familiär geprägte kritische Denken bezeichnet er als sein „Immunsystem“.

Leben in der DDR: Spaltung und Anpassung Maaz beschreibt die in der DDR weit verbreitete Praxis, eine offizielle Meinung für die Öffentlichkeit (Schule, Studium) und eine private Meinung in der Familie zu haben. Diese „Spaltung“ war schwierig, anstrengend und belastend, da sie mit dem Gefühl der fehlenden Ehrlichkeit und Authentizität einherging. Er musste lernen, nicht alles zu sagen, was er dachte, um nicht „behelligt“ zu werden. Dennoch gab es Grenzen für seine persönliche Würde, wie sein Widerwille, einen westlichen Politiker in einem Dramaspiel darzustellen, zeigt.

Denkverbote und Tabus In der DDR waren bestimmte Themen tabu:

• Die kommunistische Ideologie durfte nicht kritisch hinterfragt werden.

• Machtverhältnisse und Machtstrukturen durften nicht in Frage gestellt werden.

• Die Anpassung und das Mitläufersyndrom der großen Masse durften nicht angesprochen werden.

• Themen wie Sterben und Tod waren kein öffentliches Thema, da die DDR sich als „neue Welt, die neue Zukunft, fröhlich und ehrlich“ sah.

• Die Propaganda selbst durfte nicht kritisch beleuchtet werden.

Psychotherapie in der DDR Psychoanalyse war in der DDR nicht verboten, aber auch nicht erlaubt, was bedeutete, dass es keine offiziellen Ausbildungsmöglichkeiten gab. Maaz nutzte seinen Freiraum in der Diakonie, um eine tiefenpsychologische Ausbildung unter dem Namen „psychodynamische Einzeltherapie“ anzubieten, da „analytische Einzeltherapie“ zu sehr an Psychoanalyse erinnerte. Er konnte über 500 ärztliche und psychologische Kollegen in Tiefenpsychologie ausbilden, was für viele nach der Wende eine „Rettung“ darstellte, um in Westdeutschland eine Zulassung für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zu erhalten.

Der „Gefühlsstau“ und das „Wendehals-Syndrom“ Sein erstes Buch, „Der Gefühlsstau,“ das zu DDR-Zeiten nicht gesellschaftskritisch veröffentlicht werden konnte, war eine Auseinandersetzung mit der Psychodynamik der Verhältnisse in der DDR. Es beschrieb Machtstrukturen, Mitläufer, Fanatiker und Verweigerer. Maaz beschäftigte sich besonders mit der Frage, wie Menschen von einem Tag auf den anderen ihre politische Einstellung ändern konnten, dem sogenannten „Wendehals-Syndrom“. Dies bildete die Grundlage für seine spätere gesellschaftskritische Position, um die „Psychodynamik eines solchen verrückten Wandels des Wendehalses“ verstehen zu wollen.

Die Zeit der Wende und Enttäuschung Maaz war aktiv an den Protesten während der Wende beteiligt und beschreibt die anfängliche Aufbruchsstimmung als „großartig“ und „die schönste Zeit seines Lebens“. Er gehörte zu denen, die „Wir sind das Volk“ skandierten, was sich jedoch allmählich zu „Wir sind ein Volk“ wandelte, was eine kritiklose Anbindung an die Bundesrepublik erwartete, der er nicht zustimmte. Er ist der Meinung, dass die Demonstrationen lediglich die „Begleitmusik des Untergangs dieses Systems“ waren, da das eigentliche Ende von der Stasi und der Partei selbst vollzogen wurde, die ideologisch und ökonomisch am Ende waren und ihr Vermögen retten wollten.

Die Integration ostdeutscher Psychotherapeuten in das westdeutsche System erwies sich als enttäuschend. Maaz erlebte es als „Kolonialismus“, bei dem westdeutsche Strukturen und Methoden kritiklos übernommen werden sollten, während ostdeutsche Entwicklungen, wie seine multimodale psychotherapeutische Kompetenz (die verschiedene Therapieformen wie Verhaltenstherapie, Gestalttherapie und Transaktionsanalyse umfasste), nicht akzeptiert wurden. Dies führte zu einer „bitteren Erfahrung von Machtverhältnissen,“ bei denen es nicht um Inhalte, sondern um Einfluss, Macht und Profit ging.

Krippenbetreuung in der DDR und ihre Folgen Maaz kritisiert die Krippenbetreuung in der DDR scharf, bei der bis zu 86% der Kinder, oft sogar in Wochenkrippen, betreut wurden. Er betont, dass die Betreuungsqualität (eine Betreuerin für 10-14 Kinder) keine ausreichenden Bindungschancen bot, was verheerende Folgen für die Entwicklung der Kinder hatte. Er sieht darin eine „dunkle Absicht“: die Entfremdung von Kindern in der frühesten Kindheit macht sie abhängig und schafft „die besten Mitläufer auch einer schwergestörten Gesellschaft“. Die „Herrschaft über die Kinderstube entscheidet über die Zukunft der Gesellschaft“. Er ist enttäuscht, dass diese Erkenntnisse nach der Wende nicht umgesetzt, sondern die Krippenbetreuung aus ökonomischen Gründen wieder in den Mittelpunkt gestellt wurde.

Vergleich mit der heutigen Situation (DDR 2.0) Maaz vermeidet den Begriff „DDR 2.0“, da er Westdeutsche kränken und eine Verharmlosung der DDR darstellen könnte. Er findet die heutige gesellschaftliche Entwicklung jedoch schlimmer als zu DDR-Zeiten. Die Gründe dafür sind:

Unklarheit der Regeln: In der DDR war klar, auf welcher Seite man stand und welche Meinungen tabu waren. Heute ist diese Linie diffus; man kann etwas völlig Normales sagen und wird plötzlich als „rechts,“ „sexistisch“ oder „rassistisch“ abgestempelt. Diese Unsicherheit erzeugt mehr Angst und Ungewissheit als die klareren Verhältnisse in der DDR.

„Demokratie-Betrunkenheit“ des Westens: Viele Westdeutsche glauben immer noch, in einer funktionierenden Demokratie zu leben und können sich nicht vorstellen, dass Regierungen auch andere Interessen als das Gemeinwohl verfolgen. Diese „verordnete Demokratie“ war lange Zeit erfolgreich durch Wohlstand und äußere Freiheiten.

Insidiosität der Macht: Die heutigen Machtstrukturen, Ideologien und ökonomischen Interessen sind weniger offensichtlich als in der DDR. Die Abhängigkeit der Menschen in einem geldorientierten System ermöglicht es, Einfluss zu nehmen, indem Chefs in Politik, Kultur und Wissenschaft gefördert werden, was dann alle Abhängigen dazu zwingt, den Vorgaben zu folgen.

„Falsches Leben“ und Normopathie: Maaz sieht das westliche Leben als ein „falsches Leben“, das Anpassung an menschenfeindliche Verhältnisse, Konkurrenz und Durchsetzung über das natürliche Maß hinaus erzwingt. Diese „kapitalistische finanzkapitalistische Normopathie“ sei an ihrem inhaltlichen Ende und erkläre die zugespitzten Krisen und Absurditäten sowie den Abbau der Demokratie. Die Einsicht in diese Fehlentwicklung würde jeden Einzelnen mit seiner eigenen „Schuld“ und seinem „falschen Leben“ konfrontieren, was die öffentliche Diskussion erschwert.

Aggression und Kriegslust: Er interpretiert die heutige „hohe Aggression,“ die sich in digitaler Lynchjustiz und der Zerstörung des persönlichen Rufes zeigt, als Ausdruck eines „falschen Lebens“. Diese Kompensation durch Geld, Profit, Macht und Einfluss muss ständig gesteigert werden („Dosis erhöhen“), was zu Absurditäten und irrationalem Verhalten führt. Die „soziale Aggression gegen Andersdenkende“ kann sich in einer „Kriegslust“ entladen, indem ein äußerer Feind (z.B. Russland) geschaffen wird, um die Gesellschaft zusammenzubringen und von inneren Problemen abzulenken.

Zusammenfassend empfindet Maaz die aktuelle Situation als bedrohlicher, da die Regeln unklarer sind, die Manipulation subtiler und die Menschen aufgrund ihrer bisherigen positiven Erfahrungen schwerer zu überzeugen sind, dass das System selbst kritisch hinterfragt werden muss.

Wie Roland Schreyer seine Familie aus der DDR holte

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Ein dramatisches Tauchmanöver unter der innerdeutschen Grenze sichert die Freiheit für eine ganze Familie.

Jahrzehntelang teilte eine undurchdringliche Grenze Deutschland, ein System aus Zäunen, Minen und Selbstschussanlagen, streng bewacht von tausenden Soldaten und Zivilisten. Rund 1400 Kilometer lang war dieser Todesstreifen, der für etwa 650 Menschen tödlich endete, so schätzt die Stiftung Berliner Mauer. Doch der Wunsch nach Freiheit war stärker als jede Mauer, jeder Zaun und jede Drohung. Eine Geschichte, die dies eindrucksvoll belegt, ist die von Roland Schreyer und seiner Familie.

Geboren in Oscha und aufgewachsen in Harbe, nur wenige hundert Meter von der innerdeutschen Grenze entfernt, erlebte Roland Schreyer eine Kindheit in einem Sperrgebiet. Seine Eltern hatten schon immer mit dem Gedanken gespielt, in den Westen zu gehen, besonders weil Geschwister und die Großmutter seiner Mutter bereits über Berlin geflohen waren. Doch eine neue Küche hielt seine Mutter damals zurück. Dennoch zirkulierten Gerüchte, der sogenannte „Buschfunk“, über Fluchtversuche. Insbesondere in den 1960er Jahren sollen viele Menschen auf Minen getreten und Gliedmaßen verloren haben, eine traurige Realität, von der Schreyers Mutter als Gemeindeschwester und sein Vater bei der Polizei erfuhren.

Der Grenzübergang Marienborn und eine erste Chance
Später arbeitete Roland Schreyer als Zivilangestellter Elektriker am Grenzübergang Marienborn. Dort rollte der Autoverkehr zwischen der Bundesrepublik und Westberlin über Transitstrecken, überwacht von Stasi, Volkspolizei, DDR-Zoll und freiwilligen Helfern. Schreyer spekulierte, dass sich hier eine Fluchtgelegenheit bieten könnte: Wenn die letzte Ampel hinter den Kontrollen defekt war, fuhr er zur Reparatur hinaus, stets begleitet von zwei Posten mit Maschinenpistolen, die nur wenige Meter hinter ihm standen. Der Bundesgrenzschutz auf der Westseite wartete mit gelöstem Halfter, wie in einem „Cowboyfilm“, wahrscheinlich um ihn zu schützen, sollte er die Flucht wagen. Doch zu diesem Zeitpunkt war Schreyer bereits verheiratet und hatte ein Kind – das Risiko war zu hoch.

Honeckers Besuch und der Wunsch nach Reisefreiheit
Die Stimmung änderte sich dramatisch, als Erich Honecker 1987 die Bundesrepublik besuchte und Reiseerleichterungen besprochen wurden. Eine Welle der Unruhe erfasste die DDR, überall wurde über Westreisen gesprochen. Dies fachte auch Schreyers Fluchtgedanken neu an. Als Pädagoge und Familienvater fasste er einen Plan: Westverwandte täuschten eine Hochzeit vor, Schreyer sollte die Ausreise genehmigt bekommen und dann bleiben. Der Abschied von Frau und Tochter am Bahnhof Marienborn war zutiefst emotional. In Essen angekommen, erklärte er sofort seinen Entschluss, im Westen zu bleiben.

Doch die Hoffnung, dass Frau und Kind bald nachkommen würden, erfüllte sich nicht. Seine Frau beantragte eine Familienzusammenführung, die die DDR jedoch ablehnte. Die Folgen waren gravierend: Rolands Vater wurde entlassen, seine Frau von der Stasi schikaniert. Im innerdeutschen Ministerium in Bonn erfuhr er die bittere Wahrheit: Man könne ihm nicht helfen, da die Bundesrepublik nur Häftlinge freikaufe. Die Worte „Sie werden wahrscheinlich ihre Familie nie wiedersehen“ trafen ihn wie ein Schlag ins Gesicht.

Die „Probeflucht“ durch die Wirbe
Verzweifelt grübelte Schreyer nachts und erinnerte sich an seinen Heimatort Habke und den Bach Wirbe, der Richtung Westen floss. Er wusste, dass die Absicherung eines Baches an der Grenze immer ein Problem darstellte. Die Idee einer „Probeflucht“ war geboren: Er wollte nachts dorthin fahren und einen Weg für seine Familie finden. Mit Neoprenanzug und Werkzeug machte er sich auf den Weg.

Vom Westen her war eine Unterführung, eine Röhre, offen zugänglich. Was Schreyer zunächst für eine durchgehende Röhre hielt, entpuppte sich als vier Abschnitte. Er kroch hinein und stieß auf ein Gitter. Die zwei unteren Gitterstäbe sägte er unter Wasser durch. Währenddessen hörte er Motorräder und sah die Stiefel von Posten über sich auf dem Kolonnenweg vorbeifahren. Er tauchte unter, um unentdeckt zu bleiben.

Nachdem er ein weiteres Gitter entfernt und hochgeschoben hatte, kam er aus der Röhre. Dann sah er einen „Silberstreif“ über dem Bach – einen gespannten Draht mit Signalkugeln, keine Selbstschussanlage, sondern Leuchtkugeln. Er bückte sich und schlüpfte darunter hindurch, um wieder in die Röhre zu gelangen. Ein weiteres, sehr dickes Gitter stellte ihn vor eine scheinbar unüberwindbare Hürde. Unten rechts jedoch fehlte ein dreieckiges Stück. Er versuchte, hindurchzutauchen, doch seine Schultern blieben stecken. In nur 30-40 cm Wassertiefe hing er fest, konnte weder vor noch zurück und drohte zu ertrinken. Mit letzter Kraft befreite er sich und kroch weiter, völlig desorientiert in der Dunkelheit.

Schließlich erkannte er ein Gitter, das er kannte: Es war das an der Sommersdorfer Straße, der einzigen Straße aus Habke heraus. Die „Probeflucht“ war erfolgreich.

Die spektakuläre Rettung der Familie
Nur sechs Tage später kehrte Roland Schreyer zurück. Diesmal unterquerte er die innerdeutsche Grenze zum vierten Mal – begleitet von seiner Frau, seiner Tochter und seinem Vater, für die es das erste Mal war. Staatsicherheit Fotos dokumentieren die spektakuläre Flucht.

Als sie den leichten Berg hinaufliefen und sich setzten, war der Anblick emotional überwältigend. Einerseits die große Freude, es geschafft zu haben, in Freiheit zu sein. Andererseits die tiefe Trauer, die Heimat, Freunde und alles Vertraute zu verlieren, mit dem Wissen, es vielleicht nie wiederzusehen. Noch einmal gingen sie zur Grenze, und wieder wurden die Fotos, die dabei entstanden, von der Stasi gemacht.

Roland Schreyers Geschichte ist ein Zeugnis von unerschütterlichem Mut, Entschlossenheit und der tiefen Verbundenheit einer Familie, die bereit war, größte Gefahren auf sich zu nehmen, um gemeinsam in Freiheit zu leben.