Sahra Wagenknecht, geboren 1969 in Jena (damals DDR), ist seit Langem eine der umstrittensten Figuren in der deutschen Politik. Als führendes Mitglied der Kommunistischen Plattform innerhalb der PDS (heute Die Linke) und mit einer intellektuellen Schärfe, die sie von vielen ihrer Kollegen abhebt, hat sie sich immer wieder als Stimme des Widerspruchs positioniert. In einem tiefgehenden Interview mit Günter Gaus aus dem Jahr 2004 gewährte sie Einblicke in ihre politische Philosophie, ihre Kritik an der Gesellschaft und ihre persönliche Rolle als „Dissidentin“.
Wagenknecht, die im Frühjahr 1989 in die SED eintrat und später in den Vorstand der PDS gewählt wurde, wurde oft als „Dissidentin“ innerhalb ihrer eigenen Partei und der breiteren deutschen Politiklandschaft beschrieben. Ein Attribut, mit dem sie leben kann, da sie das Gefühl hat, nicht nur eine winzige Minderheit zu repräsentieren. „Ich habe sowohl von dem was ich an Post bekomme als auch an ganz direkten Reaktionen tagsüber in der S-Bahn […] das Gefühl, dass eigentlich gar nicht so wenige Leute ähnlich denken“, so Wagenknecht. Besonders in den letzten Jahren vor dem Interview, so beobachtete sie, habe sich die Resonanz verstärkt, insbesondere von jungen Leuten und Schülern. Diese jungen Menschen suchten nicht nach kleinen Steuerkorrekturen, sondern nach „grundsätzlich andere[n] Visionen, andere[n] Alternativen, andere[n] Gesellschaftsvorstellungen“. Ein ungewöhnliches Terrain für die PDS, wie ihre Einladung an ein katholisches Mädchengymnasium in Hessen zeigte, wo sie trotz anfänglicher Skepsis eine gemeinsame Basis im Gefühl fand, „dass es so wie es jetzt läuft nicht weitergeht“.
Die Notwendigkeit des Widerspruchs und die Lehren der Geschichte
Für Wagenknecht nimmt eine Gesellschaft Schaden, wenn sie zu wenig Dissidenten hat. Während die Wirtschaftselite und Lobbys zufrieden sein mögen, dass sie wenig Widerspruch erfahren, so Maaz, leide die große Mehrheit materiell und geistig. „Wenn ich mir die gängigen politischen Diskussionen angucke, es ist ja nicht nur, dass ich die Ansicht nicht teile, sondern es ist ja einfach auch vom Niveau unsäglich“, beklagt sie und sieht darin eine „Leere“ und „Ödnis“.
Sie selbst sieht sich nicht als „geborene Dissidentin“, wünscht sich sogar, in einer Gesellschaft zu leben, in der sie keine sein müsste. Doch betont sie: „ich würde mich nie verbiegen“. Ihre Einschätzung der DDR-Geschichte ist nuanciert. Sie sieht den Prager Frühling als Versuch einer ökonomischen Reform innerhalb eines sozialistischen Rahmens. Sie kritisiert die DDR, da sie mit Kritikern nicht umgehen konnte, was sie als „Zeichen von Schwäche“ und „Angst, nicht mehr argumentieren zu können“ deutet. Im Gegensatz zu vielen sieht sie den DDR-Staatschef Walter Ulbricht als den weitaus bedeutenderen Anführer im Vergleich zu Erich Honecker. Ulbricht habe frühzeitig die Notwendigkeit von Veränderungen im Wirtschaftssystem erkannt, etwa durch das Neue Ökonomische System und die Einbeziehung der Menschen, was später leider abgewürgt wurde.
Jenseits des Profits: Ein anderes Menschenbild und Wirtschaftsmodell
Wagenknecht glaubt nicht an einen „neuen Menschen“, sondern daran, dass der Mensch „immer sehr sehr unterschiedlich [war], je nachdem auch wie Verhältnisse waren“. Die heutige Gesellschaft fördere durch ihre Struktur das Egoistische und Ignorante im Menschen, weil der Einzelne ums Überleben kämpfen müsse. Sie lehnt die Vorstellung ab, dass Profit der einzige oder wichtigste Motor für Motivation sei, kritisiert den Shareholder Value, der zu kurzfristiger Renditemaximierung und Entlassungen führt. Ein sozialistisches Wirtschaftssystem müsse Anreize schaffen, um Menschen zu belohnen, die sich engagieren, ohne sie den „Wolfsgesetzen“ eines entfesselten Kapitalismus auszusetzen, der viele Menschen „kaputt macht“.
Ein ungelöstes Problem der sozialistischen Idee war für Gaus die Kontrolle und Ablösung von Macht. Wagenknecht entgegnet, Macht müsse so strukturiert sein, dass sie „immer von Basisbewegung von von direkten demokratischen Institutionen kontrollierbar bleibt“. Sie verweist auf Venezuela, wo starke basisdemokratische Elemente neben dem Parlament die alte Oligarchie erfolgreich ausgebremst hätten. Sie stimmt Rudi Dutschke zu, dass es langfristig um die Schwächung der Parteiapparate zugunsten von Basisdemokratie gehen müsse und Parteien selbst demokratischer kontrollierbar sein müssen.
Die PDS in der Zerreißprobe und die Zukunft der Gesellschaft
Für Wagenknecht ist die wesentliche Funktion der PDS „Fundamentalopposition“, die in den sozialen Auseinandersetzungen auf der richtigen Seite steht und eine Perspektive jenseits des Kapitalismus vertritt. Kompromissfähigkeit gehöre zur Politik, doch müsse man in den Grundsätzen erkennbar bleiben. Die Beteiligung der PDS an der Berliner Regierungskoalition mit der SPD sieht sie kritisch. Sie war nicht überzeugt, dass die SPD wirklich eine sozialere Politik umsetzen wollte, sondern eher, „eine Partei die im Ostteil Berlins fast 50% hatte dadurch dass man sie in die Regierung hineinnimmt im Grunde als Opposition als Protest Partei als auch mobilisierungsfaktor von Protest auszuschalten“. Dies habe der PDS in ihrer Glaubwürdigkeit zutiefst geschadet.
Die deutsche Gesellschaft stehe an einem Scheideweg, so ihre Prognose. Es gäbe zwei Wege: Entweder ein „viel stärker repressives System“, ein „amerikanisierter entfesselter Kapitalismus“, der Demokratie abbaut und rechte Populisten fördert. Oder, die von ihr erhoffte Variante, in der „starke Gegenbewegungen entwickeln auf der linken“, soziale Rechte erkämpft werden durch Straßenproteste, kämpfende Gewerkschaften und europaweite Bewegungen. Sie glaubt, dass linke Parteien hier eine entscheidende Rolle spielen müssen, und die PDS müsse sich entscheiden, ob sie beides sein wolle: in außerparlamentarischen Bewegungen aktiv und gleichzeitig in einer Regierung, die ihre Glaubwürdigkeit beschädigt.
Trotz aller politischen Kämpfe findet Sahra Wagenknecht Entspannung und Abstand beim Wandern und Lesen. Sie liebt es, Shakespeare oder Goethe zu lesen, da dies hilft, „mit all dem gelassener um[zugehen], weil man weiß natürlich auch, dass es nicht so ganz neu, solche Auseinandersetzung zu führen“. Eine Haltung, die vielleicht auch ihre Fähigkeit erklärt, über Jahrzehnte hinweg eine der lautesten und intellektuell schärfsten Kritikerinnen der herrschenden Verhältnisse in Deutschland zu bleiben.