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Egon Krenz: Eine Nachlese zum Leben des letzten SED-Chefs

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Egon Krenz, geboren 1937 im heutigen Kolberg in Polen, war eine Schlüsselfigur der Deutschen Demokratischen Republik und ihr letzter Staatsratsvorsitzender. In einem Interview von 2017 blickt er auf sein Leben, seine Karriere und die turbulenten Ereignisse der Wendezeit zurück. Er lebt heute, wo andere Urlaub machen, „am Rande des Paradieses“ an der Ostsee, in einem kleinen Häuschen hinterm Deich.

Frühe Prägung und politischer Aufstieg
Krenz wuchs als Sohn eines Schneiders auf, den er nie kennenlernte, da sein Vater im Zweiten Weltkrieg fiel. Seine Mutter, die zwei Weltkriege erlebt und in jedem den Vater ihrer Kinder verloren hatte, war ursprünglich unpolitisch, wurde jedoch durch diese Erfahrungen politisiert und warnte ihren Sohn eindringlich vor der Politik.

Seine Kindheit war geprägt von den Schrecken des Krieges: Er erinnert sich an Luftschutzkeller, in denen Kinderstimmen und Stöhnen Älterer zu hören waren – Erlebnisse, die ihn bis ins Alter verfolgten. Vor der Flucht aus Kolberg wurde ihm durch Propaganda eingetrichtert, die Russen seien „die Bösen“; eine Vorstellung, die später durch seine Begegnung mit einem freundlichen russischen Dolmetscher korrigiert wurde, der ihm Essen brachte.

Krenz’ politischer Weg begann ungewöhnlich: Zuerst war er als „Laufbursche“ für die CDU in Damgarten tätig, wo er für fünf Mark Plakate austrug und Stühle rückte. Später wurde er jedoch vom Parteisekretär der SED rekrutiert, nachdem er beim Überkleben von SED-Plakaten mit CDU-Werbung erwischt wurde. Dieser Mann erklärte ihm die SED-Ideologie und gab ihm Schulungshefte, unter anderem von Wolfgang Leonhard, zu lesen.

Obwohl Krenz ursprünglich Lehrer werden wollte, wurde ihm dies aufgrund seiner „sozialen Herkunft“ als Rentnerkind verwehrt; er wurde stattdessen zur Arbeiter-und-Bauern-Fakultät geleitet. Ein prägender Moment war 1956, als er als Student Walter Ulbricht kritisierte, weil dieser die Jugend für ihre anhaltende Verehrung Stalins verantwortlich machte, obwohl Ulbricht selbst Stalins Kult gefördert hatte. Diese Episode führte dazu, dass er von Georg Ewald, dem damaligen Ersten Kreissekretär der SED auf Rügen, gefördert und schließlich Funktionär der Freien Deutschen Jugend (FDJ) wurde, der er 1953 beigetreten war. Krenz sah die FDJ als anti-faschistische Organisation und nicht vergleichbar mit der Hitlerjugend.

Im Zentrum der Macht – und in Wandlitz
Krenz’ Karriere in der DDR war steil: Er studierte an der Parteihochschule der KPdSU in Moskau, wurde Sekretär der FDJ, 1983 Mitglied des Politbüros und 1984 stellvertretender Staatsratsvorsitzender unter Erich Honecker, dessen Nachfolger er im Oktober 1989 wurde.

Sein Leben in Wandlitz, der abgeschotteten Siedlung der DDR-Führung, beschreibt er als wenig luxuriös. Er war dort selten zu Hause und empfand die Mauer um die Siedlung als politisch problematisch, da sie die Führung von der Bevölkerung abschottete. Das Fahren eines Volvos, während es auch DDR-Autos gab, wurde als Zeichen von Privilegien wahrgenommen – eine Entscheidung, die Krenz selbst im Nachhinein nicht getroffen hätte.

Krenz beschreibt Erich Honecker als einen widersprüchlichen Mann mit hohen Idealen, der einen großen antifaschistischen Hintergrund hatte. Er war ein beliebter FDJ-Funktionär und wurde von westdeutschen Politikern wie Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß respektiert. Für Krenz war Honecker aufgrund des Altersunterschieds eher eine Vaterfigur.

Das Verhältnis zu Michail Gorbatschow war komplex. Anfangs unterstützte Krenz Gorbatschows Reformen und versuchte Honecker zu überzeugen, einen ähnlichen Kurs zu fahren. Später jedoch empfand er Gorbatschows Haltung als Heuchelei und Verrat an der DDR, insbesondere als dieser angeblich seine Verantwortung für die Zerschlagung des Kommunismus einräumte.

Die Wendejahre 1989
• Kommunalwahlen Mai 1989: Als Leiter der Wahlkommission verkündete Krenz ein Ergebnis von 98,95 % Zustimmung, obwohl er wusste, dass es nicht der Realität entsprach. Er sah sich zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht in der Lage, das Ergebnis zu korrigieren, um eine Staatskrise zu vermeiden.

Tian’anmen-Massaker Juni 1989: Krenz verteidigte die Niederschlagung der Proteste in China als Akt zur Wiederherstellung der Ordnung, was ihm in Ost und West viel Kritik einbrachte. Er betonte jedoch, seine Äußerungen seien von den Medien falsch dargestellt worden.

Leipzig, 9. Oktober 1989: Krenz beansprucht eine entscheidende Rolle bei der Verhinderung von Gewalt gegen die Demonstranten. Bereits am 8. Oktober wurde in Honeckers Arbeitszimmer die Entscheidung getroffen, keine Gewalt anzuwenden. Krenz koordinierte dies mit den Sicherheitsorganen und sprach am 9. Oktober morgens erneut mit den Ministern, um sicherzustellen, dass kein Blut fließen würde. Später trug er maßgeblich zur Deeskalation bei, was ihm sogar vom Gericht in seinem späteren Prozess zugesprochen wurde.

Mauerfall 9. November 1989: Am 13. Oktober unterzeichnete Krenz den Befehl 9/89, der den Schusswaffengebrauch bei Demonstrationen untersagte, und später Befehl 11/89, der den Schusswaffengebrauch an der Grenze verbot. Er befürchtete Zwischenfälle am 4. November bei der Demonstration am Alexanderplatz und behauptet, er und andere hätten dafür gesorgt, dass sowjetische Panzer in den Kasernen blieben, entgegen der späteren Darstellung, Gorbatschow hätte dies alleine entschieden.

Nach nur 49 Tagen als Staatsratsvorsitzender trat Krenz im Dezember 1989 zurück. Er glaubte damals noch, die DDR retten zu können und unterschätzte den Zusammenbruch der SED.

Nach der Wende: Prozess und Reflexion
Im Januar 1990 wurde Krenz aus der SED-Nachfolgepartei ausgeschlossen, was er als persönliches Drama empfand.

Die Prozesse gegen ihn und andere DDR-Verantwortliche, die er als „Siegerjustiz“ bezeichnete, kritisiert Krenz scharf. Er argumentiert, dass die Bundesrepublik Deutschland ihr eigenes Rückwirkungsverbot verletzt habe, um DDR-Bürger zu verurteilen. Krenz bestreitet, dass die Grenze zur Bundesrepublik eine rein innerdeutsche Grenze war, sondern vielmehr die Außengrenze des Warschauer Paktes und eine Systemgrenze, deren Entstehung von internationalen Zwängen geprägt war. Er betont, dass jeder Tote an der Grenze „einer zu viel“ war.

Krenz wurde zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt und verbrachte vier Jahre im Gefängnis. Die Zeit der Haft hat er abgehakt und verwehrt sich dagegen, sich als Märtyrer darzustellen. Nach der Haftentlassung arbeitete er unter anderem als Übersetzer für technische Texte aus dem Russischen und versuchte, in der kapitalistischen Wirtschaft Fuß zu fassen.

Die Wiedervereinigung bezeichnet er als „Gewissensfrage“. Einerseits schätzt er, dass Deutsche nicht mehr aufeinander schießen können, andererseits ist er enttäuscht, dass deutsche Soldaten nun im Ausland eingesetzt werden – etwas, das die DDR-Armee, die Krenz als einzige deutsche Armee bezeichnet, die keinen Krieg geführt hat, nicht getan hat.

Krenz sieht sich weiterhin als Kommunist im Sinne von Marx und Engels, lehnt aber den Stalinismus ab. Er ist kein Mitglied der Linkspartei, wählt sie aber. Die pauschale Verurteilung der DDR als „Unrechtsstaat“ empfindet er als Beleidigung für viele, die dort gelebt und gearbeitet haben. Den Untergang der DDR führt er auf einen komplexen historischen Prozess zurück, in dem sie „zerrieben worden am Kampf der Systeme“, dem Wettrüsten und eigenen Fehlern. Er bestreitet, dass die DDR bankrott war.

Krenz hofft, dass künftige Generationen die „gute Spur“ der DDR in der Geschichte besser erkennen können, nämlich „dass ein Leben ohne Kapitalisten möglich ist“.

25 Jahre Berliner Mauer: Eine bittere Bilanz menschlichen Leids und ungenutzter Potenziale

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Berlin, 1986 – Fünfundzwanzig Jahre ist es her, dass Stacheldraht und Beton die Stadt teilten und „fliehende Menschen zurückgehalten werden sollten“. Die Berliner Mauer, von ihren Erbauern als „antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnet, wurde zu einem Symbol deutscher Teilung, das bis heute tiefe Spuren in den Biografien und der Gefühlswelt der Menschen hinterlassen hat. Doch nach einem Vierteljahrhundert stellt sich nicht nur die Frage nach ihrem Leid, sondern auch nach ihrer zukünftigen Durchlässigkeit und den immensen Kosten, die sie für die deutsche Gesellschaft bedeutet.

Die physische und psychische Barriere
Seit dem Bau der Mauer im August 1961 haben bundesdeutsche Behörden 184 Menschen registriert, die auf der Flucht von Ost- nach West-Berlin ihr Leben verloren. Die tatsächliche Zahl der Todesopfer lässt sich bis heute nicht ermitteln. Was einst als undurchdringliche Barriere galt, vor allem für jene, die von Ost nach West wollten, scheint sich in den Augen mancher paradoxerweise zu wandeln: Neuerdings sei sie „für einen breiten Asylantenstrom aus der dritten Welt durchlässig wie nie zuvor“.

Doch über die physische Sperre hinaus hat sich die Mauer tief in das kollektive und individuelle Bewusstsein eingebrannt. Menschen empfanden stets eine „Sehnsucht“, diese Mauer zu überschreiten oder zu überfliegen – sei es aus „platten ökonomischen Sachen“, dem Wunsch, im Fernsehen Gesehenes live zu erleben, „kulturellen Sehnsüchten“ oder dem einfachen Recht, einmal den Eiffelturm zu sehen. Die Hoffnung darauf, dass dies eines Tages möglich sein wird, „hört nicht auf“.

Verinnerlichung und die „Mauer im Hirn“
Nach 25 Jahren hat sich eine tiefgreifende Gewöhnung oder vielmehr Verinnerlichung eingestellt. Die anfängliche Empörung über das „Faktum“ der Mauer sei kaum noch spürbar, stattdessen sei es „verinnerlicht“ worden. Beobachtungen bei S-Bahn-Fahrten durch die Mauer zeugen von einer „gespannten, kritischen, traurigen Reaktion“ der Reisenden, die sich von vor zehn Jahren unterscheidet – weniger Empörung, mehr Akzeptanz der Realität. Dies führt zu der Besorgnis, dass eine solche „Einmauerung nicht zur Mauer im Hirn wird für die Leute in der DDR“.

Die Mauer hat sich „unserem ganzen Leben stark mitgeteilt“, auch wenn der Verstand weiß, dass bei Fahrten durch die DDR nichts passieren kann, so kann der Magen dennoch mit „wüsten Magenschmerzen“ reagieren. Es ist eine tiefe emotionale Verankerung, die oft stärker ist als das rationale Denken.

Ein „notwendiges Übel“ wird „überfällig“
Die Mauer wurde von manchen als „notwendiges Übel“ empfunden, im Sinne, dass sie sein musste. Doch inzwischen sei sie „fast ein überfälliges Übel“, da die DDR sich „etabliert“ und „durchgesetzt“ habe. Der Schriftsteller Graham Green soll die Mauer einst für „orthodoxe Kommunisten“ mit der „unbefleckten Empfängnis“ für Katholiken verglichen haben – ein Thema, über das nicht diskutiert werden könne. Doch gerade das sei notwendig.

Verschwendung von Potenzial und die Frage der Durchlässigkeit
Die Existenz der Mauer stellt auch eine enorme „Verschwendung von Menschen und von Arbeitskraft und Material“ dar. Tausende von Menschen, die Dienst an der Mauer tun, könnten „vernünftige Arbeit tun“, und „wie viel weiter wir gekommen wären“, wenn dieses Potenzial genutzt würde.

Die Frage nach einer durchlässigeren Mauer ist zentral. Die Befürchtung, dass zu viele Menschen „abhauen“ würden, wird relativiert: Wenn die Möglichkeit bestünde, zurückzukommen und man nicht als „Verräter“ oder „Geächteter“ gälte, dann würde dies vermutlich nicht in dem Maße geschehen. Eine wirklich durchlässige Mauer würde „sicherlich recht aufregend für beide Teile Deutschland“ sein, mit Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und den Kunsthandel. Doch gleichzeitig würde sich „viel von alleine regeln“.

Die persönliche Bilanz einer Berlinerin, die ihr Leben lang in der geteilten Stadt verbracht hat, fasst das Dilemma zusammen: Einst freiwillig hinter die Mauer zurückgekehrt und traurig, nicht mehr darüber zu können, ist sie nun traurig, nicht dahinter zu können – „wenigstens besuchsweise“. Die Mauer, so scheint es, hat in 25 Jahren vor allem eines gebracht: „nie viel Glück“.

Der Fall des „Ewigen“ – Erich Honecker und das Ende der DDR

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Am 7. Oktober 1989 feierte Erich Honecker, umgeben von einem Fackelzug der FDJ, den 40. Geburtstag der Deutschen Demokratischen Republik. Es war ein „Staatsschauspiel mit herbeibefohlenen Darstellern unter Bewachung“. Doch hinter der glänzenden Fassade brodelte es gewaltig: „Hochmut vor dem Fall“ – die DDR war in Aufruhr, und selbst viele der Gratulanten jubelten nicht Honecker zu, sondern ihrem Hoffnungsträger Gorbatschow. Die Menschen sehnten sich nach „Reisen, Freiheit, raus aus [den] Grenzen“. Dies war das Ende einer Geschichte, die genau 40 Jahre zuvor begonnen hatte.

Vom FDJ-Chef zum Architekten der Mauer
Erich Honecker, Sohn eines Bergarbeiters aus dem Saarland, war ein eifriger Funktionär und der Organisator des Fackelzugs zur Gründung der DDR. Als Ziehsohn Walter Ulbrichts machte er unaufhaltsam Karriere und wurde 1958 zum Sekretär für Sicherheitsfragen ernannt, zuständig für Militär, Polizei und Stasi. Praktisch war er „faktisch der zweite Mann in der Partei“.

Seine „Feuerprobe“ kam im Sommer 1961, als täglich Hunderte den Ostteil Berlins verließen und die DDR „ausblutete“. Unter höchster Konspiration beauftragte Ulbricht seinen Sicherheitssekretär Honecker heimlich mit den Vorbereitungen zur Sperrung der Sektorengrenze in Berlin. Am Abend des 12. August 1961 wurde bekannt, dass ein Stab unter Erich Honeckers Leitung die Grenzschließung um Mitternacht vollziehen würde. Die DDR-Staatsmacht marschierte auf. Für Bürger wie Doris Mondstein, die kurz zuvor noch aus dem Osten zurückgekehrt war, war nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Doch die Kampfgruppen der Arbeiterklasse wurden mobilisiert, um die Schließung der Grenze gemeinsam mit der Polizei durchzuführen.

Die Mauer war Honeckers „Gesellenstück“. Sie wurde „praktisch gebaut für die Ewigkeit“ und markierte für viele Jahre die Trennung von Familien. Doris Mondstein konnte ihre Mutter und Schwester nur aus der Ferne sehen, ein kurzer Blick, oft unter Tränen und mit Angst vor der Polizei.

Honeckers Reich und die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“
Ab 1971 war die DDR „Honeckers Reich“, nachdem er seinen Ziehvater Ulbricht beiseitegeschoben hatte. Er galt als Politiker „erheblichen Kalibers“, der im kleinen Kreis die Zügel fest in der Hand hatte. In den 70er Jahren startete er eine Charmeoffensive im Westen, die zur internationalen Anerkennung der DDR führte. Er glaubte, Politik für das arbeitende Volk zu machen: eine sichere Wohnung, Arbeit, Kleidung und Essen – das war für ihn Sozialismus. Sein Credo war die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“: Wohltaten für das arbeitende Volk, vor allem neue Wohnungen, die bis 1990 das „drückende Wohnungsproblem“ lösen sollten. Der Slogan lautete: „Ich leiste was, ich leiste mir was“.

Doch diese scheinbare Öffnung und der „Hauch von Freiheit“ waren nur ein „schöner Schein von Liberalität“, der keine wirkliche demokratische Öffnung zuließ.

Widerstand und Repression
Trotz der Wohltaten stießen viele Bürger an die Grenzen des Staates. In Jena entstand in den 70ern ein Freundeskreis unter dem Dach der Kirche, der ein freies Leben wollte und sich dem „Gängelband der Staatsführung“ entzog. Roland Jahn, der wegen seiner Meinung von der Universität geflogen war, begann mit politischen Aktionen. Das Regime reagierte mit „massiven Zugriffen der Polizei“ und Stasi-Überwachungen.

Ein tragisches Beispiel war der Freund Jahns, Matthias Domaschk, der 1981 unter ungeklärten Umständen in Stasi-Haft ums Leben kam. Angeblich war es Selbstmord durch Erhängen, aber für seine Freunde war es ein Schock, der zeigte, dass es um „Leben oder Tod“ ging. Jahn selbst wurde zum Staatsfeind und 1983 gewaltsam aus seiner Heimat vertrieben.

Die Grenze zur BRD blieb ein tödliches Risiko. Silvio Proksch, ein Ost-Berliner, wagte 1983 die Flucht und wurde von sieben Schüssen in den Unterleib getroffen. Seine Familie wurde verhört und belogen; erst nach der Wende erfuhren sie von seinem Tod. Der Tod Silvios war ein Trauma, das seine Mutter und seinen Bruder Carlo nie verkrafteten. Die deutsch-deutsche Grenze forderte fast 1.000 Opfer.

Die Krise verschärft sich
Honeckers Sozialpolitik war zu teuer. Mieten waren extrem niedrig, Südfrüchte wurden gegen Devisen eingeführt, und Brot war so billig, dass es als Tierfutter genutzt wurde. Die Bausubstanz verfiel, da die Mieten die Kosten nicht deckten. Trotzdem hielt Honecker an seinem Kurs fest. Kritiker wie Planungschef Gerhard Schürer, die die Überforderung der Wirtschaft anmahnten, wurden bedroht und zum Schweigen gebracht. Honecker glaubte an den Sieg des Sozialismus und an eine endlose Kreditaufnahme: „Schulden, Schulden, Schulden… das Kapital finanziert mit seinen Anleihen unser Wirtschafts- und Sozialpolitik“.

1983 half ausgerechnet der antikommunistische bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß der DDR mit einem Milliardenkredit aus der Bredouille. Im Gegenzug wurden die Selbstschussanlagen an der Mauer abmontiert, doch Honeckers Befehl, rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, blieb in Kraft.

Die letzten Zuckungen des Regimes
Im Jahr 1987, während Honeckers offiziellem Besuch in der Bundesrepublik, erließ er eine Amnestie für politische Häftlinge, um „gutes Wetter zu machen“. Gleichzeitig wurde in Dresden der „Olof-Palme-Friedensmarsch“ von Bürgerrechtlern genutzt, um unter staatlicher Duldung Forderungen nach Freiheit zu stellen. Doch die Staatssicherheit nutzte diese Ereignisse, um einen „Enthauptungsschlag“ gegen die Bürgerrechtsbewegung zu planen.

Im November 1987 überfiel die Stasi die Umweltbibliothek in der Zionskirche, ein „Nest mit ungeahntem Zuspruch“, in dem sonst geheime Umweltdaten verbreitet wurden. Doch im Gegensatz zu ihren Erwartungen führte die Verhaftung zu Mahnwachen und internationaler Aufmerksamkeit, auch dank der Unterstützung von Roland Jahn aus West-Berlin, der Bücher, Druckmaschinen und Kameras in den Osten schickte, um die Opposition zu unterstützen und sie in den westlichen Medien sichtbar zu machen. Die Staatsmacht musste nach wenigen Tagen einlenken und die Verhafteten freilassen.

Die katastrophale Umweltsituation, etwa in Espenhain bei Leipzig, wo die Lebenserwartung deutlich unter dem Durchschnitt lag und Kinder krank waren, zeigte den Verfall des Landes. Doch Honecker verschloss die Augen vor der Realität, auch als sich in Moskau unter Gorbatschow der Wind drehte. Für Honecker war die DDR sein Lebenswerk, und er lehnte Gorbatschows Reformen ab.

Der Damm bricht
Im Sommer 1989 öffnete Ungarn seine Grenzen und ließ DDR-Bürger ziehen, der „Damm [war] gebrochen“. Tausende flüchteten in die bundesdeutsche Botschaft in Prag. Honeckers Entscheidung, die Züge mit den Flüchtlingen durch die DDR nach Westen fahren zu lassen, verschärfte die Lage dramatisch. Am 4. Oktober 1989 kam es zu dramatischen Szenen am Dresdner Hauptbahnhof, wo Tausende ausreisen wollten. Die Polizei ging rücksichtslos vor, und viele Demonstranten verschwanden in Polizeikasernen und Gefängnissen. Ein Zeuge berichtete, wie er in ein Spalier von Wachorganen laufen und von allen Seiten geschlagen wurde.

Doch die Bewegung ließ sich nicht aufhalten. Am 9. Oktober 1989 war in Leipzig wieder eine Montagsdemonstration angekündigt. Die Stadt war voll von Militär und Polizei, die Angst vor einem Blutbad war allgegenwärtig. Siegbert Schefke, der mit seiner Kamera vor Ort war, betete, dass keine Schüsse fallen würden. 70.000 Leipziger gingen auf die Straße – und die Staatsmacht schoss nicht. Dieser Moment, diese „gespenstische Ruhe“, war ein Wendepunkt. Die geplante „große Abrechnung des Staates mit seinen Bürgern“ blieb aus. Die Bilder aus Leipzig gingen um die Welt.

Nur eine Woche später drängten Honeckers eigene Genossen ihn zum Rücktritt. „Er hat die Realität verleugnet, hat nicht begriffen, dass die Zeichen der Zeit anders stehen“, so ein Beobachter.

Die Mauer überdauerte seine Herrschaft nur um wenige Tage. Als sie fiel, war es eine „Euphorie“, ein „Befreiungsschlag“, ein „Taumel“, ein Gefühl, das „einfach wunderbar“ war.

Joachim Gauck: Ein Präsident im Spannungsfeld von Verantwortung und Versöhnung

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Fünf Jahre lang prägte Joachim Gauck das Amt des deutschen Bundespräsidenten und sah sich dabei oft im Zentrum leidenschaftlicher Debatten. Seine Präsidentschaft, die er im Juni 2016 nach nur einer Amtszeit beendete, war geprägt von dem Bestreben, Deutschland zu einer „erwachsenen Nation“ zu formen, die Verantwortung in der Welt übernimmt und gleichzeitig interne Gräben überwindet.

Ein „Lehrjahr in Demut“ und die Suche nach der Rolle Der Anfang von Gaucks Amtszeit im Schloss Bellevue war für den ehemaligen protestantischen Pfarrer alles andere als leicht. Er beschrieb seine erste Zeit als ein „Lehrjahr in Demut“, in dem er lernen musste, seine Rolle als Bundespräsident zu finden, ohne in Konkurrenz zu anderen Verfassungsorganen wie Parlament und Regierung zu treten. Mit der Zeit sei er jedoch im Amt angekommen, und das Amt sei zu ihm gekommen, was ihm ein wohleres Gefühl gab.

Verantwortung in der Welt: Zwischen Militäreinsätzen und Diplomatie Ein zentrales Thema seiner Präsidentschaft war die Forderung nach einer größeren Verantwortungsübernahme Deutschlands in der Welt. Bereits 2014 formulierte er auf der Münchner Sicherheitskonferenz den Grundsatz, dass Deutschland mehr tun müsse, notfalls auch militärisch. Er betonte, dass es nicht darum gehe, „wieder Schlachtschiffe“ zu haben, sondern als „Ultima Ratio“ mit anderen zusammen und von der UNO mandatiert Menschen zu retten, wie etwa in Ruanda. Dieses „Schuldigwerden durch Zusehen“ sei politisches Versagen und moralische Schuld zugleich. Diese Haltung brachte ihm den Vorwurf ein, ein „Kriegsbefürworter“ zu sein und stieß auf Kritik von links, insbesondere angesichts der deutschen Geschichte und Erfahrungen mit Militäreinsätzen. Dennoch bereitete seine Rede den Boden für die Debatten über Deutschlands Rolle, die mit der Annexion der Krim durch Russland und dem Erstarken des IS im Irak an Bedeutung gewannen.

Ein weiteres wichtiges Anliegen war die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit des Westens angesichts der Bedrohung durch Russland, ein Thema, das ihn durch seine gesamte Amtszeit begleitete. Bei einer seiner letzten Reisen besuchte er das Multinationale Korps in Stettin, eine Führungsstelle für die verstärkte NATO-Präsenz in Osteuropa, um die Botschaft der gemeinsamen Verteidigung gegen Wladimir Putin zu unterstreichen.

Versöhnung und Anerkennung der Schuld Joachim Gauck spielte eine entscheidende Rolle bei der Aufarbeitung schwieriger Kapitel der deutschen Vergangenheit. Er war der erste Bundespräsident, der Oradour-sur-Glane in Frankreich besuchte, den Schauplatz eines deutschen Kriegsverbrechens, bei dem 1944 die Waffen-SS hunderte Frauen und Kinder ermordete. Sein Treffen mit einem Überlebenden, Robert Ebrard, und seine Dankbarkeit für den „Willen zur Versöhnung“ im Namen aller Deutschen waren eine bewegende Geste.

Ein prägender Moment war auch sein Eintreten in der Debatte um den Völkermord an den Armeniern. Während die Regierung zögerte, das Massaker als Völkermord zu bezeichnen, positionierte sich Gauck vor einer Bundestagsdebatte in einem Gottesdienst im Berliner Dom klar. Er sprach vom „Schicksal der Armenier“ als „beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde“. Diese klare Haltung beeinflusste die Tagespolitik, da die Regierungsfraktionen und der Bundestagspräsident diese Passage daraufhin in ihren Antrag übernahmen, um eine Blamage abzuwenden und sich auf das Staatsoberhaupt berufen zu können.

Migration, Integration und das „neue deutsche Wir“ Im Inland musste Gauck, der aus Mecklenburg und der ehemaligen DDR stammt, sich an die Vielfalt einer Metropole und die Komplexität der Integrationsdebatte gewöhnen. Anfänglich zögerte er, den berühmten Satz seines Vorgängers Christian Wulff „Der Islam gehört zu Deutschland“ zu unterschreiben, und formulierte stattdessen, dass die Muslime zu Deutschland gehörten. Er gab zu, dass er sich an diese Erkenntnis gewöhnen und lernen musste. Später sprach er auf einer Einbürgerungsfeier ganz bewusst vom „neuen deutschen Wir“ und betonte, dass er persönlich diesen Lernprozess als Bereicherung erlebt habe.

In der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 zeigte Gauck eine nuancierte Position. Während er die freiwilligen Helfer lobte, die ein „helles Deutschland“ repräsentierten, benannte er auch die Probleme, den Notstand und die Überforderung der Behörden. Er machte deutlich, dass „unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten, sie sind endlich“. Diese Äußerung wurde in der Öffentlichkeit oft als Gegenposition zur optimistischen Aussage der Kanzlerin „Wir schaffen das“ interpretiert.

Gaucks Äußerungen führten zu Kritik, insbesondere aus dem Kreis der Pegida-Demonstranten, die ihn als „abgehobenen Mann der Elite“ und „Landesspalter“ empfanden. Er wiederum sah in dieser „Unzufriedenheit“ im Osten eine Gruppe der Bevölkerung, die die Möglichkeiten der offenen Gesellschaft „oftmals nicht kennt“ und nach der Wende nicht vollständig in der Demokratie angekommen sei. Er forderte die Bürger auf, sich einzumischen und zur Wahl zu gehen, auch wenn die „Nächstenliebe Grenzen“ habe.

Trost und deutliche Worte gegenüber Autokraten Gauck zeigte sich auch als Seelsorger, etwa nach dem Germanwings-Flugzeugabsturz in den französischen Alpen, bei dem viele Menschen ums Leben kamen. Er brach seine Südamerika-Reise ab, fand tröstende Worte für die Hinterbliebenen und nahm an einem Gedenkgottesdienst teil, wo er das Schluchzen der Trauernden hörte und mit ihnen trauerte. Seine Fähigkeit, „im Mittel dieser ganzen großen Aufgaben […] den einzelnen Menschen zu sehen und zu spüren, wie es ihm geht,“ wurde von Mitarbeitern besonders hervorgehoben.

Ebenso wichtig war sein Engagement für Freiheit und Menschenrechte. Bei einem Besuch in der Türkei 2014, einem Land, in dem die Freiheit zunehmend eingeschränkt wurde, lobte Gauck zwar Fortschritte, aber sparte nicht mit ungewohnt deutlicher Kritik am Führungsstil von Präsident Erdogan. Er sprach von „Enttäuschung“, „Verbitterung“ und „Empörung“ über einen Führungsstil, der als „Gefährdung der Demokratie“ erscheine. Erdogan warf ihm daraufhin Einmischung in innere Angelegenheiten vor. Gauck sah es als seine Pflicht, sich mit der Wirklichkeit und den Konflikten auseinanderzusetzen und die Stimmen der Unterdrückten zu vertreten. Später unterstützte er den ins Exil geflohenen türkischen Chefredakteur Can Dündar, der wegen kritischer Recherchen von Erdogan persönlich angezeigt worden war, mit einer Einladung ins Schloss Bellevue.

Daniela Schadt: Eine First Lady als wichtige Stütze An Gaucks Seite stand seine Lebensgefährtin Daniela Schadt, die als ehemalige leitende Redakteurin selbst eine politische Person war. Sie wurde zu einer aktiven und engagierten First Lady, die das Amt nicht nur protokollarisch ausfüllte. Während Gauck politische Termine wahrnahm, widmete sie sich in ihrem „Sonderprogramm“ sozialen Projekten, wie dem Besuch eines Kinderheims oder eines Hilfsprojekts für misshandelte Frauen in Indien. Ihr Engagement trug dazu bei, wichtige Anlaufstationen für unbegleitete Kinder in Indien zu erhalten. Gauck selbst bezeichnete sie als seine „wichtigste Beraterin“ und eine „starke Stütze“.

Abschied und Ungewisse Zukunft Im Juni 2016 gab Joachim Gauck bekannt, auf eine zweite Amtszeit zu verzichten. Er begründete dies mit seinem Alter und der Erkenntnis, dass das Amt „wahnsinnig viel Energie“ erfordere. Er betonte, dass eine zweite Amtszeit in der deutschen Geschichte eher die Ausnahme gewesen sei. Später räumte er jedoch ein, dass er sich in einer Phase „innerer Unruhe“ im Land möglicherweise doch zu einer zweiten Amtszeit hätte bewegen lassen, um die Fragen „Wer sind wir, wer sind wir in Europa, wo gehen wir hin?“ zu begleiten. Dennoch blieb er bei seiner Entscheidung, das Amt in diesem Alter nicht fortzuführen.

Was er nach seiner Präsidentschaft tun werde, wusste er kurz vor seinem Abschied noch nicht genau, freute sich aber auf eine Phase der Erholung, in der er nicht „aufpassen muss, ob ich ein falsches Wort sage, falsch gucke“. Bei einem Besuch in der Berliner Bahnhofsmission, wo er Obdachlose traf, versprach er, als Pensionär ehrenamtlich an der Geschirrspülmaschine zu helfen – eine Geste, die seine bürgernahe Art auch am Ende seiner Amtszeit unterstrich.

Egon Krenz: Die 50 Tage, die die DDR unwiderruflich veränderten

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Ost-Berlin, Herbst 1989. Die DDR steht am Abgrund, Hunderttausende Bürger begehren auf und fliehen gen Westen. In dieser tiefgreifenden Krise tritt ein Mann ins Rampenlicht, dessen Name für 50 entscheidende Tage untrennbar mit dem Schicksal des deutschen Arbeiter- und Bauernstaates verbunden sein wird: Egon Krenz. Er wollte den Kommunismus retten und die DDR erhalten, doch am Ende stand er vor den Trümmern eines Systems, das er zu bewahren suchte. Seine Amtszeit endete mit dem Fall der Berliner Mauer und dem unwiderruflichen Zerfall der SED.

Palastrevolution und ein schwieriger Start
Am 18. Oktober 1989 vollzieht sich in der Zentrale der Staatspartei SED eine Palastrevolution. Ministerpräsident Willi Stoph fordert in einer Politbürositzung den Rücktritt des langjährigen Generalsekretärs Erich Honecker. Auch enge Weggefährten wie Stasi-Chef Erich Mielke und Wirtschaftslenker Günter Mittag lassen Honecker fallen. Honecker nimmt seine Absetzung „sehr sachlich“ an, warnt jedoch prophetisch: „Mit meiner Absetzung löst ihr kein Problem. Ihr schafft euch neue. Heute werde ich abgesetzt, morgen seid ihr es.“.

Egon Krenz, der Jüngste im Kreis und zuvor engster Vertrauter Honeckers, wird auserkoren, das Ruder herumzureißen. Seine Prämisse: „Du musst aufpassen, dass du die DDR erhältst und du musst aufpassen, dass es keine Gewalt gibt.“. Doch der Start ist holprig. Seine Wahl durch das Zentralkomitee, bei der Honecker ihn selbst als Nachfolger benennt, wirkt wie die Einsetzung eines „Kronprinzen“ und spielt dem Volk eine negative Rolle zu.

Krenz verpasst es in seiner ersten Fernsehansprache an die Bürger, sich glaubwürdig von der alten Garde loszusagen und eine echte Aufbruchsstimmung zu erzeugen. Er verliest dieselbe Rede wie vor den Parteikadern, mit der Anrede „Liebe Genossinnen und Genossen“, was bei den Bürgern der DDR, die nicht der Partei angehörten, Empörung auslöst. Viele Menschen, darunter Kabarettisten, erwarteten einen „wirklich neuen Mann“, doch Krenz‘ Auftreten verstärkt den Eindruck, dass „alles beim Alten bleiben soll“.

Zwischen allen Stühlen: Krenz‘ Dilemma
Die Herausforderungen für Krenz sind immens. Die DDR steht vor dem Staatsbankrott, die Wirtschaft kann ihren Bürgern kein konkurrenzfähiges Angebot bieten, und die Massenflucht der Bevölkerung hält an. Krenz fordert einen „ungeschminkten Bericht der ökonomischen Lage“ und erhält alarmierende Zahlen: Die Auslandsverschuldung ist eine „Existenzfrage der DDR“.

Seine Hoffnungen ruhen auf Moskau. Krenz sieht sich selbst als „Gorbatschow der DDR“ und hofft auf Unterstützung vom „großen Bruder“. Bei seinem Besuch in Moskau bittet er Gorbatschow um Hilfe, doch dieser erwidert klipp und klar, „sie können nicht mehr machen, als sie schon machen“. Gorbatschow versichert Krenz zwar, die deutsche Frage stehe nicht auf der Tagesordnung und das Volk der DDR sei das Liebste nach den Völkern der Sowjetunion, doch die finanzielle Unterstützung bleibt aus. Krenz‘ Überzeugung, es werde keine deutsche Einheit geben, bezeichnet seine eigene Frau später als „Illusion“.

Grenz‘ Position zwischen den Stühlen wird auch in den Beziehungen zur Bundesrepublik deutlich. Bundeskanzler Kohl und seine Regierung begegnen Krenz mit Skepsis, da er als „Apparatschik“ alle alten Entscheidungen mitgetragen hatte. Zwar sucht Kohl das Gespräch, spielt aber auf Zeit und bietet keine sofortigen „großen Geschenke“ an.

Der Fall der Mauer: Ein unbeabsichtigtes Vermächtnis
Ein neues Reisegesetz soll die Massenflucht stoppen und den Bürgern mehr Freiheit geben. Doch der Entwurf enttäuscht die Erwartungen auf ganzer Linie: Reisezeiten sind begrenzt, Genehmigungen notwendig, und Devisen fehlen. Die Empörung im Volk ist groß. Um dem Druck nachzugeben, beschließt das Politbüro eine Regierungsverordnung, die diesen Entwurf korrigieren soll.

Am Abend des 9. November 1989 soll Günter Schabowski diese Verordnung auf einer Pressekonferenz vorstellen. Ein Missverständnis wird zur Weltsensation. Schabowski ist nicht bewusst, dass die Verordnung erst am nächsten Morgen gelten soll, und verkündet auf Nachfrage: „Das tritt nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“. Diese Worte führen noch am selben Abend zum Sturm auf die Grenzübergänge nach West-Berlin. Die Berliner Mauer fällt, „ohne einen Schuss“.

Krenz hatte diese „Nacht der Nächte“ nicht gewollt. Doch dass sie gewaltlos blieb, ist auch sein Verdienst. Er erkannte die Gefahr eines Blutvergießens: „auch nur ein Toter in dieser Situation. Das hätte uns jeden Weg zur Reformierung der DDR versperrt.“.

Der unvermeidliche Untergang
Nach dem Fall der Mauer ist Krenz‘ Autorität endgültig geschwunden. Das Volk fordert nicht nur eine andere DDR, sondern auch die Wiedervereinigung. Die SED-Basis fordert einen Sonderparteitag zur Abrechnung, doch Krenz will nur eine kleinere Parteikonferenz. Der neue Ministerpräsident Hans Modrow drängt auf Eigenständigkeit und bietet der Bundesrepublik eine Vertragsgemeinschaft an, die bis zur Konföderation reichen soll – ein Vorschlag, der Krenz zu weit geht.

Krenz versucht, mit „Basisnähe“ zu punkten, verlässt Wandlitz und zieht nach Berlin-Pankow, doch diese neue Offenheit nimmt ihm kaum jemand ab. Am 1. Dezember streicht die Volkskammer den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung. Krenz, körperlich erschöpft und von tiefen Augenrändern gezeichnet, ist „verbrannt“ und hat keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung oder gar in seiner eigenen Partei.

Die SED-Basis fordert seinen sofortigen Rücktritt. Im Zentralkomitee, das ihn nur sechs Wochen zuvor einstimmig gewählt hatte, entlädt sich ein „Unwetter“. Am 6. Dezember 1989 tritt das ZK geschlossen zurück und wirft zuvor Honecker aus der Partei. Krenz selbst, nur noch Parteichef auf Abruf, überbringt Honecker die Nachricht vom Parteiausschluss persönlich – es ist ihre letzte Begegnung.

Zwei Tage später tritt Krenz auch als Vorsitzender des Staatsrats und des Nationalen Verteidigungsrats der DDR zurück. Er hofft noch immer, dass sein Rücktritt „den Kräften den Weg bereiten kann, die für die Weiterexistenz der DDR sind“. Doch seine Genossen werfen auch ihn kurz darauf aus der Partei.

Nach 50 Tagen an der Macht steht Egon Krenz politisch wie persönlich vor dem Nichts. Sein Fazit über den Herbst 1989: „der Sozialismus in der DDR ist … verloren worden. Aber ohne, dass er blutbefleckt ist.“ Dass kein Schuss gefallen ist, bleibt sein Verdienst.

DDR erlebt in wenigen Wochen das Ende einer Ära

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Berlin, November/Dezember 1989 – In einem atemberaubenden Tempo haben sich in den vergangenen Wochen in der Deutschen Demokratischen Republik Ereignisse überschlagen, die das Land für immer verändern. Von den zelebrierten 40-Jahr-Feierlichkeiten, die noch von staatlicher Inszenierung und scharfer Kritik an der Bundesrepublik geprägt waren, bis zur spektakulären Öffnung der Berliner Mauer und dem Rücktritt der gesamten DDR-Regierung, befindet sich die Republik im Strudel einer historischen Wende.

Die Jubelfeiern und Gorbatschows mahnende Worte Am 7. Oktober feierte die DDR ihren 40. Geburtstag mit einem Fackelzug auf der Prachtstraße Unter den Linden, einem historischen Bekenntnis der DDR-Führung zur Einheit mit dem Volk – doch die Realität sah anders aus. Die Feierlichkeiten, die dem Anschein nach Stärke demonstrieren sollten, konnten die tiefgreifenden Probleme des Landes nicht länger überdecken. Michail Gorbatschow, der wichtigste Ehrengast, wurde bei seiner Ankunft in Ost-Berlin unter strenger Kontrolle empfangen; nur ein ausgewähltes Publikum durfte den sowjetischen Staatschef bejubeln, während die Sicherheitsorgane weite Teile der Innenstadt abriegelten.

Gorbatschow selbst, dessen Land in einer Krise steckte, gab sich vorsichtig, aber seine Worte waren von großer Tragweite. Er betonte, dass jedes Volk selbst bestimmen müsse, was in seinem Land notwendig sei, und warnte davor, gesellschaftliche Anstöße zu ignorieren. Obwohl er die DDR-Führung nicht vor den Kopf stoßen wollte und die Beziehungen zur Sowjetunion lobte, unterstrich er indirekt die Notwendigkeit von Umgestaltung und Demokratisierung. Die DDR-Führung unter Erich Honecker reagierte auf diese Anregungen jedoch mit einer klaren Absage an weitreichende Reformen und beharrte auf dem bewährten Kurs.

Honeckers Fall und Krenz‘ schwieriger Start Zehn Tage nach den aufwendigen Jubiläumsfeierlichkeiten, am 18. Oktober, verlor Erich Honecker unter dem Druck der jüngsten Massenproteste und einer anhaltenden Ausreisewelle überraschend alle seine Ämter. Offiziell wurden Gesundheitsgründe genannt, und Honecker selbst schlug Egon Krenz als seinen Nachfolger vor. Krenz, der zum neuen Generalsekretär der SED, Staatsratsvorsitzenden und Oberbefehlshaber der Streitkräfte ernannt wurde, trat sein Amt in einer äußerst angespannten Lage an.

Doch die Bevölkerung zeigte sich von dem Wechsel an der Spitze unbeeindruckt. Hunderttausende demonstrierten bereits am Vorabend gegen die Machtfülle von Krenz, und Tausende protestierten in Ost-Berlin gegen seine Wahl zum Staatsratsvorsitzenden, forderten freie Wahlen sowie Presse- und Meinungsfreiheit. Selbst in der Volkskammer gab es bei seiner Wahl 26 Gegenstimmen – ein deutliches Zeichen des Misstrauens. Krenz appellierte an die Bürger, im Land zu bleiben, denn „jeder der uns verlässt ist einer zu viel“.

Massenproteste und die Fluchtwelle Die Proteste nahmen weiter zu. Eine genehmigte Großdemonstration am Berliner Alexanderplatz, zu der Künstlerverbände aufgerufen hatten und die vom DDR-Fernsehen live übertragen wurde, sammelte zehntausende Menschen, die Pluralismus statt Parteimonarchie forderten und das „Neue Forum“ unterstützten. Die Volkspolizei griff nicht ein, und brennende Kerzen am Volkskammergebäude symbolisierten den Wunsch nach einem Neuanfang.

Parallel dazu setzte sich die massive Fluchtwelle über die Tschechoslowakei fort. Nachdem die DDR-Führung die Grenze zur Tschechoslowakei freigegeben hatte, reisten zehntausende Bürger mit nur ihrem Personalausweis in die Bundesrepublik aus. Empfangslager in Bayern waren überfüllt, und der Bundesgrenzschutz musste tausende von Trabis und Wartburgs koordinieren. Einige Bürger kehrten nach einem Kurzbesuch in Westdeutschland sogar wieder in die DDR zurück, mit der Hoffnung auf Veränderungen.

Die Mauer fällt: Ein unvergesslicher Abend Am Abend des 9. November verkündete SED-Politbüromitglied Günter Schabowski bei einer Pressekonferenz eine neue Reiseregelung: Visum zur ständigen Ausreise würden „unverzüglich“ erteilt, und Privatreisen ins Ausland könnten ohne besondere Begründung beantragt werden. Auf Nachfrage bestätigte er, dass dies auch für die Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD und nach Berlin-West gelte – die Mauer sollte über Nacht durchlässig werden.

Die Nachricht löste in beiden Teilen Berlins Jubel und eine unbeschreibliche Volksfeststimmung aus. Zehntausende DDR-Bürger strömten zu den Grenzübergängen, kletterten auf die Mauer, und feierten mit West-Berlinern das Wiedersehen. Das Brandenburger Tor wurde zum Symbol der Einheit, und der Kurfürstendamm verwandelte sich in eine riesige Partyzone. Die Grenzkontrollen brachen unter dem Ansturm zusammen; vielerorts reichte der Personalausweis, oder es wurden überhaupt keine Papiere mehr verlangt. Die DDR begann umgehend mit dem Abbau von Grenzbefestigungen und der Einrichtung neuer Übergänge.

Nach der Maueröffnung: Euphorie und Herausforderungen In den Tagen nach der Maueröffnung wurden zahlreiche neue Grenzübergänge in Berlin und entlang der innerdeutschen Grenze eröffnet, wodurch zuvor gesperrte Zonen und Ortschaften wieder zugänglich wurden. Politiker wie Bundeskanzler Kohl begrüßten die Entwicklung als Beweis für die Durchsetzung der Freiheit und forderten weitere Reformen in der DDR. Das „Begrüßungsgeld“ von 100 D-Mark lockte viele Besucher nach West-Berlin, doch die Infrastruktur der Bundesrepublik war durch den massiven Zustrom an Übersiedlern stark gefordert.

Die politische Lage in der DDR blieb dynamisch: Am 13. November trat die gesamte Regierung unter Ministerpräsident Willi Stoph geschlossen zurück. Wenige Tage später wurde das alte Politbüro erneuert, prominente Vertreter der alten Garde wie Stoph und Mielke waren nicht mehr dabei. Das neue Politbüro stellte freie Wahlen in Aussicht, mit der SED als vermeintlich stärkster Kraft.

Silvester am Brandenburger Tor: Ein tragischer Ausklang Die Euphorie erreichte ihren Höhepunkt an Silvester 1989. Hunderttausende Menschen aus Ost- und West-Berlin sowie aus ganz Deutschland und dem Ausland versammelten sich am Brandenburger Tor, um das Ende der Teilung zu feiern. Trotz ausgelassener Stimmung kam es jedoch zu tragischen Zwischenfällen: Ein Leichtmetallgerüst mit einer Videowand brach unter der Last von Menschen zusammen, die darauf geklettert waren, was über 135 Verletzte forderte. Zudem wurde ein 24-jähriger West-Berliner in der Nähe des Brandenburger Tors tot aufgefunden. Feuerwehr, Polizei und Rotes Kreuz aus beiden Teilen der Stadt arbeiteten Hand in Hand, um die Verletzten zu versorgen.

Die Geschehnisse der letzten Wochen haben die DDR in eine völlig neue Ära katapultiert, deren Ausgang noch ungewiss ist. Die Bevölkerung hat ihre Stimme erhoben, die Grenzen sind gefallen, und ein neues Kapitel deutscher Geschichte hat begonnen.

Das Erbe der Frauen: Eine Familiensaga, die zeigt, wie Traumata durch die Zeit wirken

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Ein Vierseitenhof in der abgeschiedenen Altmark ist mehr als nur ein Gebäude; er ist ein stiller Zeuge von über einem Jahrhundert menschlichen Lebens, ein Ort, an dem die Wände selbst die Geschichten, den Geschmack und das Sein seiner Bewohner atmen. Inmitten dieser atmosphärischen Kulisse entfaltet sich die ergreifende Erzählung „IN DIE SONNE SCHAUEN“, ein Werk, das die Schicksale von vier Frauen aus unterschiedlichen Epochen auf unheimlich verwobene Weise miteinander verknüpft. Dieser Film nimmt seine Leser mit auf eine tiefgründige Reise durch Zeit und Erinnerung, in der die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf dramatische Weise verschwimmen und die ewige Frage nach dem Vermächtnis und der Last vergangener Generationen neu beleuchtet wird.

Der Hof in der Altmark dient als Epizentrum einer Geschichte, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, nicht nur durch Blutsverwandtschaft, sondern auch durch die unausgesprochenen Energien des Ortes selbst. Jede der Protagonistinnen – Alma aus den 1910er Jahren, Erika aus den 1940er Jahren, Angelika aus den 1980er Jahren und Nelly aus den 2020er Jahren – erlebt hier ihre Kindheit oder Jugend. Doch ihre individuellen Reisen durch ihre jeweilige Gegenwart sind durchzogen von den Schatten der Vergangenheit, die sich in Form von ungesagten Ängsten, verdrängten Traumata und verschütteten Geheimnissen offenbaren. Der Film beleuchtet, wie tief verwurzelt menschliche Erfahrungen mit dem Ort sein können, an dem sie stattfinden, und wie diese Erfahrungen über Jahrzehnte hinweg nachwirken, sich in den Seelen der Bewohner verankern und deren Leben auf oft subtile, manchmal aber auch schockierende Weise beeinflussen.

Die erste dieser faszinierenden Figuren ist Alma, deren Geschichte sich in den 1910er Jahren entfaltet. Alma trägt nicht nur den Namen ihrer verstorbenen Schwester, sondern auch die unbewusste Last des Schicksals, das mit diesem Namen verbunden zu sein scheint. Sie glaubt, demselben tragischen Weg folgen zu müssen, was ihre Kindheit auf dem Hof von einer tiefen Melancholie und einer ständigen Vorahnung prägt.

Ihre Geschichte ist ein ergreifendes Beispiel dafür, wie familiäre Historie und die damit verbundenen Verlustängste das Selbstverständnis eines jungen Menschen formen können, lange bevor sie die volle Tragweite dieser Verstrickungen begreifen. Die Identität, die Alma durch ihren Namen verliehen wird, ist somit weniger ein Geschenk als vielmehr eine Bürde, die sie auf ihrer Suche nach einem eigenen Platz im Leben begleitet und ihre Wahrnehmung der Welt unwiderruflich färbt. Ihre Ängste sind greifbar und spiegeln die tiefe Verwurzelung von Aberglauben und Schicksalsglaube in einer vergangenen Epoche wider.

Einige Jahrzehnte später, in den turbulenten 1940er Jahren, begegnen wir Erika. Ihre Jugend auf dem Hof ist gezeichnet von einer beunruhigenden und gefährlichen Faszination für ihren versehrten Onkel. Diese Beziehung ist nicht nur ein Spiegelbild der schwierigen Zeit, in der sie lebt, einer Zeit des Krieges und der Entbehrung, sondern auch ein Symptom der tief sitzenden psychologischen Konflikte, die innerhalb des Familiensystems lauern. Erikas Geschichte beleuchtet die Komplexität menschlicher Anziehung und die dunklen Seiten von Beziehungen, die in Zeiten von Krieg und Unsicherheit entstehen können, wo die normalen gesellschaftlichen Normen oft verschwimmen. Ihre kindliche oder jugendliche Wahrnehmung wird durch diese spezielle Verbindung geformt, wodurch sie Erfahrungen macht, die sie unausweichlich mit der traumatischen Geschichte des Hofes und seiner Bewohner verknüpfen. Die Faszination, die sie für ihren Onkel empfindet, ist ein Schlüssel zu den verdrängten Traumata und unausgesprochenen Ängsten, die den Hof umschweben und sich in den Beziehungen der dort Lebenden manifestieren.

Die 1980er Jahre bringen uns zu Angelika, einer Frau, die in einem brüchigen Familiensystem gefangen ist. Ihr Leben ist ein ständiger Drahtseilakt zwischen dem Wunsch nach dem Tod und einer intensiven Lebensgier. Angelikas Kampf offenbart die Langzeitfolgen von familiären Dysfunktionen und die tiefen emotionalen Narben, die über Generationen hinweg weitergegeben werden können, und die sich in psychischen Konflikten zeigen. Ihre innere Zerrissenheit spiegelt die äußeren Spannungen und die ungelösten Konflikte wider, die den Vierseitenhof durchdringen. Sie versucht, ihren eigenen Weg zu finden, während sie gleichzeitig von den Erwartungen und den unausgesprochenen Regeln ihrer Familie erstickt wird. Angelikas Geschichte ist eine eindringliche Darstellung des Ringens um Autonomie und Selbstfindung inmitten einer Umgebung, die von der Vergangenheit schwer belastet ist und aus der sie zu entkommen sucht. Sie sucht nach einem Ausweg aus den Mustern, die das Leben ihrer Vorfahren bestimmt haben, um nicht selbst Opfer dieser erdrückenden Familiengeschichte zu werden.

Schließlich, in den 2020er Jahren, treffen wir auf Nelly. Obwohl sie in scheinbarer Geborgenheit aufwächst, ist sie nicht immun gegen die unbewusste Last der Vergangenheit. Nelly wird von intensiven Träumen heimgesucht, die ihr eine tiefere, oft beunruhigende Verbindung zu den Ereignissen und Emotionen der vorherigen Generationen offenbaren. Ihre Geschichte zeigt, dass Traumata und Geheimnisse nicht einfach verschwinden; sie finden Wege, sich durch Träume und unbewusste Muster in der Gegenwart zu manifestieren, selbst wenn die explizite Erinnerung daran fehlt. Nellys Erlebnisse unterstreichen die Idee, dass das Erbe eines Ortes und seiner Bewohner auch die jüngsten Generationen beeinflusst, selbst wenn diese sich dessen nicht explizit bewusst sind. Ihre Träume sind nicht nur nächtliche Phantasien, sondern vielmehr Echo der unausgesprochenen Ängste und verschütteten Geheimnisse, die seit über einem Jahrhundert auf diesem Hof liegen und nach einer Erlösung suchen.

Die Genialität von „IN DIE SONNE SCHAUEN“ liegt in der Art und Weise, wie diese vier scheinbar separaten Leben auf dem Hof miteinander verknüpft sind. Die Spuren der Vergangenheit – die Ängste, Traumata und Geheimnisse – sind nicht nur Hintergrundgeschichten, sondern aktive Kräfte, die die Realität jeder Frau prägen. Dieses komplexe Geflecht erreicht seinen Höhepunkt, als sich ein tragisches Ereignis auf dem Hof wiederholt. In diesem Moment geraten die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart ins Wanken, und es wird deutlich, dass die Schicksale der Frauen untrennbar miteinander verbunden sind, fast so, als wäre der Hof selbst eine Zeitschleife. Die Wiederholung des Tragischen ist nicht nur ein Zufall, sondern ein Beweis dafür, wie tief die Muster der Geschichte in das Gewebe des Ortes und seiner Bewohner eingegraben sind, und dass ungelöste Konflikte immer wieder an die Oberfläche drängen. Der Hof selbst wird zu einem Resonanzkörper für diese Ereignisse, in dem die Schreie und Flüsterer vergangener Generationen noch immer zu hören sind und die Lebenden in ihren Bann ziehen.

„IN DIE SONNE SCHAUEN“ ist somit weit mehr als nur eine Familiengeschichte; es ist eine tiefgründige Exploration der Zeit, der Erinnerung und des Einflusses eines Ortes auf das menschliche Schicksal. Es ist eine Aufforderung, genau hinzuhören, die unausgesprochenen Geschichten zu erkennen und zu verstehen, wie die Vergangenheit unaufhörlich die Gegenwart formt und prägt. Der abgeschiedene Vierseitenhof in der Altmark wird zu einer Metapher für die menschliche Seele, die die Last und die Schönheit vergangener Leben in sich trägt, eine Art kollektives Gedächtnis, das durch die Generationen hindurchwirkt. Diesr Film ist ein Muss für jeden, der sich für die tieferen Schichten menschlicher Erfahrung, die Macht des Ortes und die unheimliche Verbindung zwischen den Generationen interessiert. Es zeigt eindrucksvoll, wie die Wände eines alten Hofes die Seufzer und die Freuden von über einem Jahrhundert absorbieren können, um sie dann durch die Leben neuer Bewohner widerhallen zu lassen und uns daran zu erinnern, dass wir alle Teil einer größeren Geschichte sind.

Erich Honecker bricht das Schweigen: Ein Rückblick in Moskauer Isolation (1991)

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Moskau, 1991 – Über ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hat Erich Honecker, der ehemalige Staatsratsvorsitzende, aus seiner abgeschirmten Datscha in einem Moskauer Vorort ein Interview gegeben. Das auf zwei Tage verteilte, siebenstündige Gespräch vor der Kamera offenbarte einen Mann, der „immer noch ganz Staatsoberhaupt“ agierte, darauf bedacht, „Erklärungen abzugeben, Positionen zu definieren“, und seine Sicht der jüngsten Geschichte zu verteidigen.

Das Ehepaar Honecker traf in einer schwarzen Limousine und in Begleitung von zwei Leibwächtern ein; Margot Honecker sollte kurz darauf die Sowjetunion in Richtung Chile verlassen. Die Atmosphäre war förmlich, die Erwartungen widersprüchlich. Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit – er befand sich im 80. Lebensjahr und hatte zwei schwere Operationen hinter sich – betonte Honecker, seine Gesundheit sei „soweit wieder hergestellt“, dank deutscher und insbesondere sowjetischer Ärzte.

Rückkehr nach Deutschland und politische Lage in Moskau
Angesprochen auf Spekulationen über seine Zukunft und einen angeblichen Pass seiner Gattin, bestätigte Honecker den Erhalt des Passes seiner Frau durch die Bundesrepublik Deutschland und erklärte: „Ich selbst beabsichtige natürlich, nach Deutschland zurückzukehren.“ Eine unbedingte Voraussetzung dafür sei jedoch die Aufhebung des Haftbefehls gegen ihn, da er nicht die Absicht habe, sich den „Racheengeln“ zur Verfügung zu stellen. Er zeigte sich überzeugt, dass dieser Haftbefehl aufgehoben werde, da die Bundesrepublik Deutschland kein Recht habe, ein ehemaliges Staatsoberhaupt der DDR für Handlungen in Ausübung seines Amtes zu verfolgen. Kontakte zur Deutschen Botschaft in Moskau bestritt er jedoch und kündigte an, seine Kinder in China besuchen zu wollen.

Honecker verneinte jeglichen Druck seitens sowjetischer oder russischer Behörden, das Land zu verlassen. Er habe den Putschversuch in Moskau nur isoliert wahrgenommen und kaum etwas bemerkt. Politisch bewertete er die Ereignisse als Beschleunigung jener Entwicklungsprozesse, die die Sowjetunion von einem sozialistischen zu einem marktwirtschaftlichen, kapitalistischen System katapultieren sollen. Dabei zog er Parallelen zu den „neuen Bundesländern“, um die Schwierigkeiten eines solchen Übergangs zu verdeutlichen. Fragen nach Sympathien für die Putschisten gegen Gorbatschow wich er aus, betonte aber, dass er auf Einladung Gorbatschows in Moskau sei, woraus sich alle Fragen ergäben.

Beobachter des Interviews merkten an, dass Honecker beim Thema Gorbatschow „übervorsichtig“ war und sich bedeckt hielt, da „Eigenschutz vor[ging]“.

Ursachen für den Untergang der DDR: Ein sowjetischer „Verrat“?
Erich Honecker lehnte die Annahme ab, dass die Proteste in Leipzig oder anderswo den Umschwung in der DDR herbeigeführt hätten. Er sprach von einem „großen Irrtum“ und forderte, das „geschichtliche Bild … zurecht[zu]drücken“. Die Hauptursache für den Untergang der DDR sah er in einer angeblichen Änderung der sowjetischen Außenpolitik: Er verwies auf ein Gespräch im Herbst 1984 am Schwarzen Meer, bei dem sich der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse und andere darauf geeinigt hätten, alles zu ändern, und Schewardnadse bereits 1986 zu dem Schluss gekommen sei, dass die Existenz der DDR „künstlich und widernatürlich“ sei. Er sah dies als Vorwurf an den damaligen sowjetischen Außenminister, der seine Kollegen in der DDR nicht darüber informiert hatte.

Auf die Frage, warum er die Reformpolitik Gorbatschows nicht auf die DDR übertragen habe, obwohl dies von der Bevölkerung erwartet wurde, erklärte Honecker, er habe „damals schon im großen Ganzen“ gesehen, was eintreten würde. Er habe bereits 1987 in Moskau Anhänger des Zaren und „informelle Gruppen“ demonstrieren sehen und daraus geschlossen, dass die Entwicklung in der Sowjetunion nicht wie vielleicht ursprünglich angelegt, sondern in Richtung Auflösung des Sozialismus gehen würde. Für ihn war das, was in der DDR als „Wende-Beschluss“ vollzogen wurde, „nicht eine Reform, sondern… der Übergang zur Gegenrevolution und zur Annexion der Deutschen Demokratischen Republik durch die Bundesrepublik Deutschland.“

Die Kritik von Markus Wolf, der Honecker 1989 mangelnde Einsicht in Reformnotwendigkeiten bescheinigt hatte, wies Honecker zurück. Er weigerte sich, über den ehemaligen stellvertretenden Minister für Staatssicherheit zu diskutieren, und betonte, Wolf sei damals gekommen, um ihm ein Buch mit einer herzlichen Widmung zu überreichen, nicht um über konspirative Reformpläne zu sprechen. Honecker bekräftigte, die SED sei stets für Revolution und Reformen im Dienste der Revolution gewesen, „aber nicht für Reformen im Dienste der Konterrevolution.“

Ministerium für Staatssicherheit und Grenzregime
Honecker wehrte sich gegen die pauschale Kriminalisierung von Reformbestrebungen als vom Westen gesteuert, betonte aber, dass Botschafterberichte von 1987 über Forderungen nach Akzeptanz der deutschen Zweistaatlichkeit existierten. Damals habe er diese Berichte mit dem Politbüro diskutiert, wobei ihm versichert worden sei, dass dies persönliche Meinungen und nicht die offizielle Haltung der sowjetischen Führung seien. Er beklagte, dass die Enthüllungen nun bestätigten, dass diese Entwicklungen seit 1984 im Gange waren, zum Schaden der DDR und anderer sozialistischer Länder.

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bezeichnete Honecker als ein „Ministerium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik“, das „staatliche Aufgaben zu erfüllen“ hatte. Er distanzierte sich von einer starken Bespitzelung der eigenen Bevölkerung und verwies auf seine eigene Rede vom Februar 1988, in der er sich für „persönliche Freiheit“ und die Einhaltung des Post- und Fernmeldegeheimnisses ausgesprochen habe. Falls das MfS starken Druck ausgeübt habe, habe es „nicht die Aufgaben erfüllt, die ihm oblagen“.

Besonders bemerkenswert waren Honeckers Äußerungen zur Größe des MfS: Er verurteilte die gegenwärtige „Hesse gegen die Mitarbeiter von Staatssicherheit“ als Ablenkung. Er behauptete, in keiner Sitzung des Verteidigungsrates oder des Politbüros seien Fragen zur Struktur oder zum Personalbestand des MfS behandelt worden. Er selbst habe die Größe des Ministeriums „immer … so ungefähr 30.000 bis 35.000“ eingeschätzt, basierend auf einer Diskussion mit dem damaligen Minister Wolf zu Beginn seiner Tätigkeit. Auf die Frage, ob sich das Amt dann vervierfacht habe, antwortete er: „Das weiß ich nicht und das weiß auch hier, wie ich gelesen habe, Herr Wolf nicht.“ Er schien anzudeuten, dass Mielke Informationen zurückgehalten hatte.

Zum Thema der Unterschlupfgewährung für RAF-Mitglieder in der DDR verlas Honecker eine vorbereitete Erklärung, wonach er und die DDR-Regierung davon nichts gewusst hätten und dies ein Alleingang einzelner Stasi-Offiziere gewesen sei. Er hätte dies unterbunden, wenn er davon gewusst hätte.

Die Verantwortung der Grenzsoldaten, die im vereinten Deutschland vor Gericht standen, verteidigte Honecker vehement. Er betonte, jeder Staat habe das Recht, „in den inneren und äußeren Fragen selbst zu entscheiden“. Er stellte in Frage, ob jeder Amerikaner die USA verlassen könne, und bezeichnete die Inhaftierung der Grenzsoldaten, die „nichts anderes getan, als ihre Pflicht getreu ihrem Eid zu verwirklichen“, als „Skandal“. Das 1982 verabschiedete Grenzgesetz der DDR und die angeblichen Liberalisierungen des „Grenzregimes“ hätten die Zustimmung der Blockparteien erhalten.

Wichtige Persönlichkeiten und der Rücktritt
Alexander Schalck-Golodkowski, Staatssekretär für Außenhandel, lobte Honecker für seine „sehr verantwortliche Tätigkeit“ bei der Beschaffung von Devisen für die DDR außerhalb des Haushalts. Er verurteilte die Unterstellung, Franz Josef Strauß sei ein „Einflussagent“ des MfS gewesen, als „unwürdig“ und „absurd“. Strauß sei ein „echter Bayer“ gewesen, der eine entscheidende Rolle in der deutschen Politik spielen wollte.

Den 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 erinnerte Honecker als „einen großen Höhepunkt“. Er wies Gorbatschows berühmtes Zitat „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ zurück; dieses sei „vollkommen falsch verstanden“ worden und habe sich auf die Entwicklung in der Sowjetunion bezogen, nicht auf die DDR. Er behauptete, nichts von den gewaltsamen Protesten vor dem Palast der Republik am Abend des Empfangs gewusst zu haben, und bezeichnete sie als „organisierte Sache“.

Seinen eigenen Rücktritt am 17. Oktober 1989 stellte Honecker als einen solchen dar: „Ich bin zurückgetreten, weil ich mit dem Wendebeschluss nicht einverstanden war.“ Er verwies darauf, dass das ZK der SED und die Volkskammer ihm für seine Tätigkeit an der Spitze von Partei und Staat gedankt hätten. Die Schilderungen von Politbüro-Mitgliedern wie Krenz, Schabowski und Mittag, die in westlichen Medien veröffentlicht wurden, waren ihm größtenteils nicht bekannt, er lehnte sie ab. Zudem behauptete er, einige der ihm zugeschriebenen „berühmten Unterschriften EH“ seien „gefälscht“. Er war überzeugt: „Wenn alles nach meinem Willen gelangen wäre, dann würde die Deutsche Demokratische Republik heute noch bestehen.“

Ungebrochener Glaube an den Sozialismus
Trotz allem zeigte sich Erich Honecker fest in seinen Überzeugungen verankert. Die Interviewer beschrieben ihn als „vereinsamten, alten Mann, erstarrt in seinen Überzeugungen“, dessen „Ideologie… längst zum Glauben geworden, zum Panzer, an dem jede Kritik abprallt“. Honecker schwärmte von den noch verbliebenen sozialistischen Ländern: „Die Volksrepublik China… das tapfere Vietnam… und wir haben auch den Leuchtturm in Lateinamerika, das tapfere Kuba“. Für ihn „existiert der Sozialismus als solcher real noch“, und die wissenschaftlich begründete Idee von Marx, Engels, Lenin und Mao Zedong könne „durch zeitweise Rückschläge“ nicht wackeln.

Honecker nutzte das Interview auch, um ausführliche, vorformulierte Erklärungen abzugeben, die er als „Vertiefungen“ bezeichnete, und sah das Gespräch als „Bild- und Tondokument für die Geschichte“. Er schloss mit der Hoffnung, dass die Berliner Justiz nicht „ein zweites Mal die Möglichkeit erhält, mich auch nur einen Tag dort festzuhalten“.

DDR-Umerziehung: Eine dunkle Vergangenheit und der lange Weg zur Aufarbeitung

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Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) versprach ihren Kindern „die ganze Liebe unseres Volkes und die besondere Fürsorge unserer Regierung“. Doch für fast 500.000 Kinder und Jugendliche, die einen Teil ihres Lebens in den über 700 Erziehungsheimen der DDR verbringen mussten, sah die Realität oft anders aus. Diese Einrichtungen reichten von „normalen Kinderheimen“ bis zu den gefürchteten „Spezialheimen“ und „Jugendwerkhöfen“, wobei der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau als der schlimmste galt und heute eine Gedenkstätte ist.

Das System der Umerziehung und die Einweisung
Historiker Ingolf Nitschke, Projektleiter der Gedenkstätte Torgau, erklärt, dass etwa vier Fünftel der Heime Normalheime waren, in die Kinder und Jugendliche mit „normalen Erziehungsproblemen“ kamen. Als „schwer erziehbar“ kategorisierte Kinder und Jugendliche wurden hingegen in Spezialheime eingewiesen. Das übergeordnete Ziel aller Erziehungsbemühungen in der DDR war die Formung einer „so genannten eingebildeten fatalistischen Persönlichkeit“, die sich den Zielen und Vorstellungen der DDR bedingungslos unterwarf. Wer dazu nicht bereit war, lief Gefahr, ins Heim zu kommen.

Die Gründe für eine Einweisung waren oft erschreckend willkürlich und basierten auf der Vorstellung, das „Individuum zu brechen“, anstatt eine überzeugte sozialistische Persönlichkeit zu formen. Beispiele hierfür sind:

• Ein Vater, der im Krieg fiel, und eine Mutter, die allein zu schwach war und ihrem Sohn „zu viel Freiheit“ ließ.

• „Abenteuerlust“ oder die Lektüre „billiger Hefte“ und „gefährlicher Filme“.

• Die Weigerung, einen Schulabschluss zu machen, wie bei der 16-jährigen Corinna Thalheim, die sich selbst um Hilfe bat und stattdessen in den Jugendwerkhof Wittenberg kam.

• Die Mutter von Alexander Müller, die einen Protest gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann unterschrieb und zur Strafe in den Schichtdienst einer Textilfabrik gezwungen wurde. Der damals zehnjährige Alex war daraufhin oft sich selbst überlassen und schwänzte die Schule, was für ein Spezialkinderheim ausreichte.

Alltag der Demütigung und Zwangsarbeit
Das Leben in den Heimen war oft von militärischer Strenge geprägt. Dietmar Hummel, der zehn Jahre in einem Kinderheim verbrachte, beschreibt den Alltag als „Stillstehen und in und Meldung machen“. Ein strikt geregelter Tagesablauf, Appelle und „vormilitärische Ausbildung“ gehörten dazu.

Arbeit und Ausbildung: Die meisten Jugendlichen mussten als Hilfskräfte in Betrieben der Umgebung arbeiten. Corinna Thalheim wurde beispielsweise eine „Teilfacharbeiterin als Klofrau“, eine „billige Version der Putzfrau“. Marianne Kastrati und andere Mädchen mussten in verschiedenen Betrieben arbeiten, von der Textilfabrik bis zur Fleisch- und Wurstwarenfabrik, wo sie überall „in die Ecke gedrängt“ und „schlecht behandelt“ wurden. Für viele endete die Schulausbildung nach der achten Klasse, und sie erhielten lediglich eine „Teilberufsausbildung“, oft in Hauswirtschaft oder als Gärtner. Vieles bestand aus Putz-, Säuberungsarbeiten oder Gemüseschälen.

Strafen und Misshandlungen: Die Heime waren geprägt von einem System harter Strafen.

Besenkammern und Keller: Dietmar Hummel erinnert sich, dass fast jedes Kind im Heim Anna Schumann in der Besenkammer unter der Treppe eingesperrt wurde, oft wegen belangloser Vergehen. Dies konnte mehrere Stunden dauern, in einer dunklen Kammer, in der es kein Licht gab. Es gab auch „Gefängnisse“ im Haus, kalte oder extrem heiße Kellerräume, in denen die größte Angst war, „vergessen zu werden“.

Psychische Folter: Im Durchgangsheim wurde Corinna Thalheim 24 Stunden am Tag gesagt, sie sei „nichts wert“, passe „nicht in diese Welt“ und sei „dumm“, was sie fühlen ließ, „als wäre man ein Stück Dreck“. Das Selbstwertgefühl der Kinder war „gleich null“.

Körperliche Misshandlung und Demütigung: Corinna Thalheim erlebte ein sogenanntes „Aufnahmeritual“ oder „Reinigungsritual“, bei dem sie sich nackt vor 19 Mädchen ausziehen und unter der Dusche mit Bürsten und Streumittel bis zum Entstehen offener Wunden gereinigt werden musste. Alexander Müller wurde als „konterrevolutionäres Element“ bezeichnet und erlebte, wie Erzieher, die auch Parteisekretäre waren, Jugendliche anstifteten, ihn zu verprügeln, nachdem er eine Bibel erhalten hatte.

Torgau: Das „Schlimmste“ der Heime
Torgau, der Geschlossene Jugendwerkhof, war die Endstation für viele, die sich nicht anpassen wollten. Wer hierher kam, musste zunächst bis zu zwölf Stunden schweigend mit dem Gesicht zur Wand warten. Die Haare wurden geschoren, es gab Anstaltskleidung, und zur Begrüßung Einzelarrest zwischen drei und zwölf Tagen.

Der „Fuchsbau“: Corinna Thalheim musste drei Tage in einer „Fuchsbau“ genannten Arrestzelle verbringen – ein kleines Loch, in das man kriechen musste und in dem man weder stehen noch liegen konnte. Sie beschreibt, wie sie dort „mit meinem Leben abgeschlossen“ hatte und ihr gesagt wurde: „Du kommst du nicht wieder raus, die Sonne siehst du nie wieder“.

Exzessiver Sport: Zu den Qualen gehörte exzessiver Sport auf der „Sturmbahn“, oft nach der Arbeit, mit täglich 350 Liegestützen, Strecksprüngen und Kniebeugen.

Sexueller Missbrauch: Corinna Thalheim berichtet, dass das Schlimmste, was ihr angetan wurde, sexueller Missbrauch durch den Direktor des Hauses war, der seine Machtposition ausnutzte und Handlungen ausüben ließ.

Spurensuche und der Kampf um Aufarbeitung
Viele der ehemaligen Heimkinder können bis heute nicht über ihre Erlebnisse sprechen. Die Traumata haben tiefe Spuren hinterlassen: innere Leere, das Gefühl, „kaputtgemacht“ oder „zerstört“ worden zu sein, und ein Mangel an Selbstwertgefühl. Marianne Kastrati beschreibt, wie sie viele Erinnerungen verdrängt hat und einen „ganz tiefes Loch“ oder „Film riss“ in ihrer Erinnerung an die Heimzeit hat.

Doch es gibt auch Bestrebungen zur Aufarbeitung:

Rehabilitierung: Marianne Kastrati kämpfte über 40 Jahre später um ihre Rehabilitierung, die ihr 2011 gewährt wurde. Sie empfand den Stempel auf dem Papier als „Befreiung“ und die Anerkennung, zu Unrecht inhaftiert gewesen zu sein, als das Wichtigste, um endlich „ruhiger schlafen“ zu können.

Gedenkstätte und Zeitzeugen: Die Gedenkstätte Torgau spielt eine zentrale Rolle bei der Aufklärung. Ingolf Nitschke führt Schulklassen durch die Ausstellung, und ehemalige Heimkinder wie Dietmar Hummel und Alex Müller bieten Zeitzeugengespräche an, um ihre Erfahrungen zu teilen und zu verhindern, dass die Geschichte vergessen wird.

Selbsthilfegruppen: Corinna Thalheim gründete 2011 die bislang einzige Selbsthilfegruppe für Missbrauchsopfer in DDR-Heimen, unterstützt von der Initiativgruppe Torgau.

Trotz dieser Fortschritte gibt es Herausforderungen: Die Meldefrist von nur zwei Jahren für Entschädigungsanträge bei der Bundesregierung ist für viele Betroffene, die erst jetzt beginnen, über ihr Trauma zu sprechen, unrealistisch kurz. Viele leben heute in Obdachlosenheimen und wissen nichts von den Unterstützungsmöglichkeiten.

Ein Appell für die Zukunft
Die Erfahrungen der ehemaligen Heimkinder sind ein Mahnmal. Dietmar Hummel appelliert an die Schülerinnen und Schüler: „Genießt euer Leben, genießt eure Freiheit, denn Freiheit ist das Größte“. Corinna Thalheim fordert, dass das, was in den Heimen der DDR passiert ist, ans Licht kommt. Sie möchte zeigen, dass sie nicht „ganz kaputt gemacht“ wurde und dass die Gesellschaft überdenken sollte, „wie sie eigentlich mit den schwächsten in der gesellschaft umgehen“. Die Aufarbeitung dieser dunklen Kapitel ist entscheidend, damit die Schrecken der Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten.

Wie die UdSSR die DDR zum bitteren Olympiaboykott zwang

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Los Angeles, 1984. Unter strahlender kalifornischer Sonne sollen die ersten privat organisierten Sommerspiele der Geschichte zu einer „ganz großen Show“ mit Hollywood-Feeling werden. Doch für eine der weltweit führenden Sportnationen, die Deutsche Demokratische Republik (DDR), wird der Medaillenkampf zum Albtraum: Das DDR-Team, das vier Jahre lang hart für den Traum von Olympia-Gold trainiert hatte, gerät im Frühjahr 1984 in den Strudel der Weltpolitik. Trotz immenser Vorbereitung und weltweiter Anerkennung als Sportgroßmacht mussten die ostdeutschen Athleten dem politischen Druck weichen und blieben den Spielen fern.

Die DDR: Eine Sportmacht auf ihrem Höhepunkt
Anfang der 1980er Jahre war die DDR „sportlich gesehen weltführend“ und galt als „Sportgroßmacht“. Nicht nur in der Leichtathletik, sondern auch im Radsport, Schwimmen oder Kanu führte kaum ein Weg an den Ostdeutschen vorbei. Selbst in Sportarten wie Fechten, Gewichtheben oder Boxen sahen Experten beste Aussichten auf Edelmetall. Peter Ueberroth, der Organisationschef der Olympischen Spiele 1984, bezeichnete das DDR-Team in seinen Memoiren sogar als das „bestvorbereitete Team“. Rechnet man die Medaillen der DDR-Sportler auf die Bevölkerungszahl um, war die DDR wohl der erfolgreichste Sportstaat der Welt.

Der Erfolg basierte auf einem professionell durchgeführten Sportsystem, das offiziell als Amateursport galt. Ein ausgeklügeltes Sichtungs- und Ausbildungssystem, gepaart mit optimaler Trainingsmethodik und -betreuung, ließ die DDR anderen Ländern nach Einschätzung eines Experten um zehn Jahre voraus sein. Topathleten wie die Sprinterin Marlies Göhr oder der Kugelstoßer Udo Beyer waren nicht nur sportliche Aushängeschilder, sondern auch „Diplomaten im Trainingsanzug“, die die DDR international bekannter machten. Zwar gehörte auch der Einsatz unerlaubter Mittel wie der „Staatsplan 14.25“ zum DDR-Sportsystem, doch dies wurde damals öffentlich nicht thematisiert, und im Westen wurde laut einem Zeitzeugen mit ähnlichen, wenn auch anders organisierten Mitteln gearbeitet.

Die Stärke der DDR-Sportler zeigte sich eindrucksvoll:
• Im Juni 1983 gewann die DDR einen Leichtathletik-Länderkampf gegen die USA in Los Angeles mit fast 20 Punkten Vorsprung, sogar die ARD übertrug umfangreich. Marlies Göhr schlug die amerikanische Sprinterin Evelyn Ashford in ihrem „eigenen Stadion“, und Kugelstoßer Udo Beyer stellte trotz Fußverletzung einen neuen Weltrekord mit 22,22 Metern auf.

• Nur wenige Monate zuvor, im Februar 1984, führte die DDR bei den Olympischen Winterspielen in Sarajevo erstmals den Medaillenspiegel an, vor der Sowjetunion und den USA, mit neun Gold-, neun Silber- und sechs Bronzemedaillen.

Diese Erfolge nährten hohe Erwartungen an die Sommerspiele in Los Angeles.

Schatten des Kalten Krieges: Der Boykott kündigt sich an
Die Euphorie wurde jedoch von einer angespannten politischen Lage überschattet. Nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 und der sowjetischen Invasion in Afghanistan spitzte sich der Kalte Krieg zwischen der UdSSR und den USA zu. US-Präsident Ronald Reagan sah die Sowjetunion als das „Reich des Bösen“. Der amerikanische Boykott der Moskauer Spiele 1980, an dem sich die Bundesrepublik Deutschland und weitere 62 Länder beteiligten, war eine klare politische Reaktion. Schon damals gab es die Befürchtung, dass der Ostblock vier Jahre später einen Gegenboykott starten würde.

Im Vorfeld der Spiele in Los Angeles 1984 spitzte sich die Situation weiter zu:
• In den USA gab es eine „gewaltige Kampagne“, die die Teilnahme der sowjetischen Mannschaft verhindern sollte, einschließlich geplanter Reklametafeln, die zum Übertritt sowjetischer Sportler aufrufen sollten.

• Anfang 1984 kam es in den USA immer wieder zu antisowjetischen Demonstrationen.

• Die Verweigerung der Akkreditierung für einen sowjetischen Olympia-Attaché im April 1984, der als Geheimdienstoffizier bezeichnet wurde, eskalierte die Lage weiter.

DDR-Athleten wie Hartwig Gauder spürten die feindselige Stimmung bei Trainingslagern in Mexiko. Dennoch konnten sich die meisten DDR-Sportler und sogar Funktionäre wie Volker Kluge, Pressesprecher des DDR-NOK, einen Boykott nicht vorstellen, da die DDR „politisch interessiert an der Ausstrahlung [war], die mit den sportlichen Erfolgen ja zweifellos verbunden waren“.

Manfred Ewalds Kampf gegen den unvermeidlichen Beschluss
Die DDR-Sportführung wollte unbedingt in Los Angeles starten. NOC-Präsident Manfred Ewald, der insgeheim davon träumte, Nachfolger von IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch zu werden, versuchte, die Teilnahme der DDR zu sichern. Er ging sogar in die Offensive und sandte einen offenen Brief an den amerikanischen Cheforganisator Peter Ueberroth, um Verletzungen der Olympischen Charta durch die USA anzuprangern.

Ewald hatte sogar einen kühnen Plan: Er wollte lediglich 40 bis 50 Einzelsportler entsenden, um sicher Goldmedaillen zu holen, und hatte dafür sogar die Rückendeckung von IOC-Chef Samaranch erhalten.

Doch Ewalds Bemühungen wurden auf höchster Ebene abgeschmettert. Die UdSSR drohte der DDR, „den Ölhahn abzudrehen“, sollte sie nicht dem Boykott folgen. Honecker soll Ewald direkt konfrontiert haben: „Manfred, willst du verantworten, dass es in der DDR Arbeitslose gibt?“.

Am 8. Mai 1984, dem Tag des Sieges, gab das sowjetische NOC offiziell bekannt, aus Sicherheitsgründen nicht an den Spielen teilzunehmen.

Diese „sehr wohl kalkulierte“ Entscheidung galt als direkte Antwort auf den Boykott von 1980. Stunden später schloss sich die DDR an. Die offizielle Erklärung des Nationalen Olympischen Komitees der DDR sprach von „keinen regulären Bedingungen“ für eine Teilnahme. Hinter den Kulissen war die „eingehende Beratung“ und die „einstimmige“ Beschlussfassung jedoch ein „Fake“, da es „niemals einen Beschluss gegeben“ hatte, die DDR-Sportler nicht zu schicken.

Ein zerbrochener Traum: Das Leid der Sportler
Für die Topstars der DDR war die Nachricht vom Boykott ein Schock. Marlies Göhr, die sich in ihrem sportstärksten Jahr befand und vier Jahre trainiert hatte, war so wütend und enttäuscht, dass sie ihren „Ausweis der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft genommen und den verbrannt“. Waldemar Cierpinski, zweifacher Marathon-Olympiasieger und Hoffnungsträger für ein drittes Gold, beendete sofort seine Karriere. Er konfrontierte Manfred Ewald in einer Versammlung und erklärte seinen Rücktritt, was Ewald als „demoralisierend“ empfand. Heike Drechsler, die amtierende Weitspring-Weltmeisterin, hätte mit ihrer Bestweite von 7,32 Metern das olympische Gold in Los Angeles (6,66 Meter) locker gewonnen – eine „bittere“ Erkenntnis.

Viele Athleten fühlten sich betrogen, da sie Jahre ihres Lebens auf diesen Höhepunkt hingearbeitet hatten. Olaf Ludwig, der seine Silbermedaille von Moskau 1980 vergolden wollte, empfand große Frustration und Enttäuschung, als er vom Boykott erfuhr. Einige schalteten dennoch Westfernsehen ein, um die Spiele zu verfolgen, mussten dabei aber den Schmerz über die verpasste Chance ertragen.

Als Trostpflaster veranstaltete der Ostblock die „Wettkämpfe der Freundschaft“ – sogenannte Gegenspiele. Die Ergebnisse dieser Wettbewerbe wurden von der DDR-Sportführung wie Olympia-Ergebnisse gewertet, und die Athleten erhielten Prämien und Orden. Doch für viele war dies kein Ersatz für den entgangenen olympischen Ruhm.

Das Erbe des Boykotts
Erst vier Jahre später, bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul, kehrten die DDR-Stars auf die olympische Bühne zurück. Sie belegten erneut den zweiten Platz im Medaillenspiegel, hinter der UdSSR und vor den USA. Für Sportler wie Olaf Ludwig, der dort Gold im Straßen-Einzelrennen gewann, wurde in Seoul der „klassische olympische Gedanke“ wieder lebendig, da „alle da waren“.

Der Olympia-Boykott von 1984 bleibt für viele eine „ganz dunkle Stunde“, in der der Sport gegen die Politik verlor. Für die meisten Athleten ist der Schmerz nach über 40 Jahren verflogen, auch wenn es gedauert hat. Als wertvollstes Zeugnis aus ostdeutscher Sicht bleiben die damals bereits gedruckten, aber nie offiziell herausgegebenen Briefmarken mit Olympiamotiven für Los Angeles 1984 – ein stilles Mahnmal an einen Olympiatraum, der nie wahr wurde.