Zeithain, Dezember 1989 – Während die Berliner Mauer bereits gefallen war und die DDR im Umbruch begriffen war, saßen zahlreiche Häftlinge in der Justizvollzugsanstalt Zeithain weiterhin fest. Ihre Geschichten werfen ein Schlaglicht auf die widersprüchliche Realität in den letzten Tagen der DDR, geprägt von verzweifelter Arbeit, Missständen und einem mutigen Aufbegehren.
Viele der Inhaftierten waren wegen „Republikflucht“ nach §213 des DDR-Strafgesetzbuches verurteilt worden – ein Delikt, das angesichts der Öffnung der Grenzen seine Grundlage verloren hatte. Besonders erschütternd war die Situation für jene, die eigentlich am 4. Dezember 1989 entlassen werden sollten, aber immer noch in Haft saßen. Der Grund: Einige ihrer Anwälte hatten sich nach dem Mauerfall ins „kapitalistische Ausland“ abgesetzt, was ihre Entlassung blockierte. Dieser Umstand wurde sogar von Oberstleutnant Günther Hoffmann, der kurz vor seiner Pensionierung stand und erstmals einen Blick hinter die Kulissen seiner eigenen Anstalt – aus der Sicht der Gefangenen – erhielt, als „beschämend“ bezeichnet.
Missstände hinter Gittern und gefährliche Zwangsarbeit
Die internen Zustände im Gefängnis waren katastrophal. Berichte sprachen von körperlicher Misshandlung durch Wachpersonal. Ein Beispiel ist der Fall eines Gefangenen, der geistig beeinträchtigt war und laut Aussagen der Häftlinge gar nicht erst in ein Strafzug gehört hätte. Er wurde von einem Obermeister geschlagen, weil er Anweisungen nicht verstand. Ein weiterer Vorfall betraf Obermeister M., der einen Gefangenen schlug und ihm dabei die Lippe einriss – eine Tat, für die die Häftlinge forderten, dass der Obermeister wegen Körperverletzung eingesperrt werde. Solche Vorfälle zeigten das Ausmaß der Gewalt und die fehlende Rechenschaftspflicht.
Ein zentraler Aspekt des Gefängnislebens war die Zwangsarbeit. Nur unweit des politischen Knastes lag das Rohr- und Stahlkombinat Riesa, in dem 215 der 950 Arbeiter aus der Haftanstalt stammten. Die Häftlinge mussten im Dreischichtsystem, einschließlich Samstag und Sonntag, in dem „hoffnungslos veralteten Werk“ arbeiten. Die Maschinen stammten teilweise aus dem Jahr 1945, und es gab keine Investitionsmittel für Modernisierungen. Dies führte zu extrem gefährlichen Arbeitsbedingungen, die in den Quellen wiederholt als Ursache für schwere Unfälle genannt werden, darunter Verbrennungen, Quetschungen und Knochenbrüche. Ein besonders tragischer Vorfall war ein tödlicher Unfall, der sich vier Jahre zuvor ereignet hatte und den niemand im Strafzug kannte. Ironischerweise wurde der dort produzierte Stahl fast ausschließlich für den Export in die BRD verwendet – jenes Land, in das die meisten der politischen Gefangenen wollten. Für diese harte und gefährliche Arbeit erhielten die Häftlinge lediglich 7 Mark Ost pro Tag.
Der Streik: Häftlinge fordern ihre Rechte
Die Gefangenen hatten sich seit Langem über mangelnde Sicherheitsbestimmungen und die Arbeitsbedingungen beschwert. Am 4. Dezember 1989 eskalierte die Situation: Oberstleutnant Hoffmann gab nach einigen Minuten dem Druck nach, und die Häftlinge organisierten einen Streik. Mit der Unterstützung eines Fernsehteams und dem neuen amtierenden Generaldirektor des Werks, der „verschiedene Fragen unbedingt neu und unangemeldet“ überprüfen wollte, setzten sie die Besichtigung der Werkshallen durch. Gefangenenvertreter erhielten sogar die Erlaubnis, die Führung zu übernehmen.
Bei der Besichtigung konnten die Häftlinge ihre Forderungen direkt an den Werksleiter richten. Sie beschwerten sich über die altersschwache Richtmaschine Baujahr 1945 und die mangelnden Sicherheitsstandards. Obwohl der Werksleiter Besserung versprach, setzten die Häftlinge ihren Streik fort. Gegen 14 Uhr, nachdem alle Forderungen vorgebracht worden waren, wurde auf Beschluss des Häftlingsrates eine Erklärung über Lautsprecher verlesen. Das Wachpersonal stellte die technischen Einrichtungen bereit, stellte jedoch eine Bedingung: Das Streikkomitee sollte alle Strafgefangenen zur Ruhe und Besonnenheit ermahnen und vor allem keine Gewalt gegen Angehörige der Sicherheitsorgane und Vorgesetzte anwenden. Eine Ordnungsgruppe wurde gebildet, um dies zu gewährleisten.
Amnestie und Ruhe nach dem Sturm
An diesem Tag veränderten die Gefangenen ihren Knast nachhaltig. Nach dem Streik kehrte Ruhe in Zeithain ein. Wenige Stunden später kam die ersehnte Amnestie. Die Ereignisse in Zeithain sind ein eindringliches Beispiel dafür, wie selbst in den letzten Atemzügen eines untergehenden Systems Menschen mutig für ihre Rechte und ihre Würde kämpften und damit ihren eigenen Beitrag zur historischen Wende leisteten.