Die Geschichte der Fluchthilfe aus der DDR ist reich an dramatischen Erzählungen, doch die Methode von Dr. Burkhart Veigel sticht hervor: Ein umgebauter Cadillac, der Menschen durch das Armaturenbrett in die Freiheit brachte. Was 1964 mit einem Schuldenberg und einem drohenden Studienabbruch begann, entwickelte sich zu einer der kühnsten Fluchtaktionen des Kalten Krieges.
Fluchthilfe als Berufung – trotz Hürden
Burkhart Veigel war bereits 1963 aktiv in der Fluchthilfe tätig, was ihn so sehr von seinem Medizinstudium ablenkte, dass die Studienstiftung ihm nahelegte, Berlin zu verlassen. Hinzu kamen 50.000 Mark Schulden aus Vorauszahlungen für Flüchtlinge, deren Rettung noch ungewiss war. Der Berliner Senat unter Heinrich Albert wollte Veigels Aktivitäten eigentlich stoppen und bot an, seine Schulden zu übernehmen. Doch die Verhandlungen scheiterten am Widerstand von Egon Bahr, der Veigel riet, die „Suppe, die er sich eingebrockt hatte, selbst auszulöffeln“. Veigel sah sich gezwungen, weiter Fluchthilfe zu leisten, da die Schulden nicht für persönliche Vergnügen, sondern aus Notwendigkeit entstanden waren, um seine Arbeit fortzusetzen.
Die zündende Idee und ein genialer Mechaniker
Auf einer Abschiedsfeier im Februar 1964 vor seinem geplanten Umzug nach Hamburg traf Veigel Jutta Haas. Sie erzählte beiläufig, dass sie bereits 1961 ein Auto umgebaut hatte, um ihren Vater und andere Personen in den Westen zu bringen. Entscheidend war die Information, dass ihr Vater, Rudi Haas, ein Automechaniker war. Für Veigel war dies der Anstoß, seine Fluchthilfe nicht einzustellen, sondern eine neue Strategie zu entwickeln.
Rudi Haas, ein überzeugter Gegner der DDR, hatte eine beeindruckende Autowerkstatt in der DDR geleitet und konnte selbst für die berüchtigte Justizministerin Hilde Benjamin – die „rote Hilde“ – amerikanische Autos reparieren. Er stellte notfalls Teile selbst her, wenn sie nicht verfügbar waren. Trotz seines geschützten Status wollte er aus der DDR fliehen und war deshalb sofort bereit, mit Veigel zusammenzuarbeiten.
Die Suche nach dem perfekten Versteck
Gemeinsam machten sich Veigel und Haas vier Tage lang auf die Suche nach einem amerikanischen Gebrauchtwagen. Ihr Ziel war es, ein Fahrzeug zu finden, in dem sich ein Versteck für einen ganzen Menschen – auch 2 Meter große Personen – einrichten ließ, ohne dass jemand es vermuten würde. Veigel kam die Idee, das Armaturenbrett als Versteck zu nutzen. Am vierten Tag entdeckten sie einen Cadillac. Haas prüfte die Möglichkeiten, und der Wagen wurde für 8.000 bis 12.000 Mark gekauft. Veigel gab sich als „Dr. mate“ aus, um als Medizinstudent das Auto überhaupt erwerben zu können.
Der Umbau in der Abgeschiedenheit Bayerns
Nach dem Kauf musste der Cadillac zunächst für deutsche Straßenverhältnisse umgerüstet werden, bevor er in die Werkstatt von Rudi Haas gebracht wurde. Da Haas‘ Werkstatt für einen solchen geheimen Umbau ungeeignet war, fand Veigel eine Lösung bei einem anderen Rudi, Rudi Janaek, der eine Fabrik für Gebrauchsutensilien in der „gottverlassenen Gegend“ Beratshausen in Bayern hatte. Dort begannen sie den Umbau.
Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, wurde den Fabrikarbeitern erzählt, der Cadillac sei der Wagen eines amerikanischen Generals, der überholt werde. Der Umbau dauerte entgegen Veigels Erwartungen von drei Wochen ganze sieben Monate, da Rudi Haas sehr langsam arbeitete, sich aber bei guter Bezahlung sehr wohlfühlte. Um den Fortschritt zu kontrollieren und mitzuhelfen, zog Veigel selbst von Hamburg nach Tübingen, um näher an Beratshausen zu sein.
Ein Ozeanriese mit Tücken – und einem genialen Geheimnis
Der umgebaute Cadillac war ein imposantes Erscheinungsbild: ein sieben Meter langes Coupé de Ville aus dem Jahr 1957 mit einem sechs Liter Hubraum, das wie ein „Ozeanriese“ wirkte. Trotz seiner Größe war er verkehrstechnisch eine Katastrophe, kaum schneller als 100 km/h, neigte zum Schlingern, und die Bremsen versagten bei steilen Abfahrten.
Das Herzstück des Fluchtwagens war jedoch das Versteck im Armaturenbrett. Das lange Röhrenradio wurde durch ein kleines Transistorradio ersetzt, das Handschuhfach schwarz gestrichen und nach unten verlegt. Die rechte Seite des Armaturenbretts rechts vom Lenkrad konnte aufgeklappt werden, um Zugang zum Versteck zu ermöglichen. Das Armaturenbrett war massiv verstärkt worden, um auch bei einem Unfall das Öffnen des Verstecks zu gewährleisten. Sogar eine schwangere Frau im neunten Monat passte in dieses Versteck. Der riesige Kofferraum, der bei Kontrollen als erstes inspiziert wurde, enthielt nur ein Reserverad, Werkzeug und wurde mit Antiquitäten beladen, um die Legende des Antiquitätenhändlers zu untermauern.
Die Flucht in der Stille
Im Versteck lag der Flüchtling mit den Unterschenkeln im rechten vorderen Radkasten. Die größte Herausforderung für die Flüchtlinge war absolute Bewegungslosigkeit. Bei Grenzkontrollen, wie an der Grenze zwischen der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik, wurde der Wagen bis zu dreiviertel Stunden lang von Hunden und Personal untersucht. Die Hunde konnten jedoch aufgrund des starken Benzin- und Ölgeruchs der Motoren nichts riechen. Ein Niesreiz, ein Husten oder Zucken hätte tödlich sein können.
Die akribische Arbeit von Rudi Haas machte das Versteck jedoch äußerst sicher. Sobald ein Flüchtling darin war, galt er als geschützt. Weitere spannende Details über die Tricks bei Grenzkontrollen, das Verhalten der Fluchthelfer und Flüchtlinge sowie die Anpassung des Wagens sollen in einem zweiten Teil der Geschichte folgen.