Start Blog

Egon Krenz: Die 50 Tage, die die DDR unwiderruflich veränderten

0

Ost-Berlin, Herbst 1989. Die DDR steht am Abgrund, Hunderttausende Bürger begehren auf und fliehen gen Westen. In dieser tiefgreifenden Krise tritt ein Mann ins Rampenlicht, dessen Name für 50 entscheidende Tage untrennbar mit dem Schicksal des deutschen Arbeiter- und Bauernstaates verbunden sein wird: Egon Krenz. Er wollte den Kommunismus retten und die DDR erhalten, doch am Ende stand er vor den Trümmern eines Systems, das er zu bewahren suchte. Seine Amtszeit endete mit dem Fall der Berliner Mauer und dem unwiderruflichen Zerfall der SED.

Palastrevolution und ein schwieriger Start
Am 18. Oktober 1989 vollzieht sich in der Zentrale der Staatspartei SED eine Palastrevolution. Ministerpräsident Willi Stoph fordert in einer Politbürositzung den Rücktritt des langjährigen Generalsekretärs Erich Honecker. Auch enge Weggefährten wie Stasi-Chef Erich Mielke und Wirtschaftslenker Günter Mittag lassen Honecker fallen. Honecker nimmt seine Absetzung „sehr sachlich“ an, warnt jedoch prophetisch: „Mit meiner Absetzung löst ihr kein Problem. Ihr schafft euch neue. Heute werde ich abgesetzt, morgen seid ihr es.“.

Egon Krenz, der Jüngste im Kreis und zuvor engster Vertrauter Honeckers, wird auserkoren, das Ruder herumzureißen. Seine Prämisse: „Du musst aufpassen, dass du die DDR erhältst und du musst aufpassen, dass es keine Gewalt gibt.“. Doch der Start ist holprig. Seine Wahl durch das Zentralkomitee, bei der Honecker ihn selbst als Nachfolger benennt, wirkt wie die Einsetzung eines „Kronprinzen“ und spielt dem Volk eine negative Rolle zu.

Krenz verpasst es in seiner ersten Fernsehansprache an die Bürger, sich glaubwürdig von der alten Garde loszusagen und eine echte Aufbruchsstimmung zu erzeugen. Er verliest dieselbe Rede wie vor den Parteikadern, mit der Anrede „Liebe Genossinnen und Genossen“, was bei den Bürgern der DDR, die nicht der Partei angehörten, Empörung auslöst. Viele Menschen, darunter Kabarettisten, erwarteten einen „wirklich neuen Mann“, doch Krenz‘ Auftreten verstärkt den Eindruck, dass „alles beim Alten bleiben soll“.

Zwischen allen Stühlen: Krenz‘ Dilemma
Die Herausforderungen für Krenz sind immens. Die DDR steht vor dem Staatsbankrott, die Wirtschaft kann ihren Bürgern kein konkurrenzfähiges Angebot bieten, und die Massenflucht der Bevölkerung hält an. Krenz fordert einen „ungeschminkten Bericht der ökonomischen Lage“ und erhält alarmierende Zahlen: Die Auslandsverschuldung ist eine „Existenzfrage der DDR“.

Seine Hoffnungen ruhen auf Moskau. Krenz sieht sich selbst als „Gorbatschow der DDR“ und hofft auf Unterstützung vom „großen Bruder“. Bei seinem Besuch in Moskau bittet er Gorbatschow um Hilfe, doch dieser erwidert klipp und klar, „sie können nicht mehr machen, als sie schon machen“. Gorbatschow versichert Krenz zwar, die deutsche Frage stehe nicht auf der Tagesordnung und das Volk der DDR sei das Liebste nach den Völkern der Sowjetunion, doch die finanzielle Unterstützung bleibt aus. Krenz‘ Überzeugung, es werde keine deutsche Einheit geben, bezeichnet seine eigene Frau später als „Illusion“.

Grenz‘ Position zwischen den Stühlen wird auch in den Beziehungen zur Bundesrepublik deutlich. Bundeskanzler Kohl und seine Regierung begegnen Krenz mit Skepsis, da er als „Apparatschik“ alle alten Entscheidungen mitgetragen hatte. Zwar sucht Kohl das Gespräch, spielt aber auf Zeit und bietet keine sofortigen „großen Geschenke“ an.

Der Fall der Mauer: Ein unbeabsichtigtes Vermächtnis
Ein neues Reisegesetz soll die Massenflucht stoppen und den Bürgern mehr Freiheit geben. Doch der Entwurf enttäuscht die Erwartungen auf ganzer Linie: Reisezeiten sind begrenzt, Genehmigungen notwendig, und Devisen fehlen. Die Empörung im Volk ist groß. Um dem Druck nachzugeben, beschließt das Politbüro eine Regierungsverordnung, die diesen Entwurf korrigieren soll.

Am Abend des 9. November 1989 soll Günter Schabowski diese Verordnung auf einer Pressekonferenz vorstellen. Ein Missverständnis wird zur Weltsensation. Schabowski ist nicht bewusst, dass die Verordnung erst am nächsten Morgen gelten soll, und verkündet auf Nachfrage: „Das tritt nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“. Diese Worte führen noch am selben Abend zum Sturm auf die Grenzübergänge nach West-Berlin. Die Berliner Mauer fällt, „ohne einen Schuss“.

Krenz hatte diese „Nacht der Nächte“ nicht gewollt. Doch dass sie gewaltlos blieb, ist auch sein Verdienst. Er erkannte die Gefahr eines Blutvergießens: „auch nur ein Toter in dieser Situation. Das hätte uns jeden Weg zur Reformierung der DDR versperrt.“.

Der unvermeidliche Untergang
Nach dem Fall der Mauer ist Krenz‘ Autorität endgültig geschwunden. Das Volk fordert nicht nur eine andere DDR, sondern auch die Wiedervereinigung. Die SED-Basis fordert einen Sonderparteitag zur Abrechnung, doch Krenz will nur eine kleinere Parteikonferenz. Der neue Ministerpräsident Hans Modrow drängt auf Eigenständigkeit und bietet der Bundesrepublik eine Vertragsgemeinschaft an, die bis zur Konföderation reichen soll – ein Vorschlag, der Krenz zu weit geht.

Krenz versucht, mit „Basisnähe“ zu punkten, verlässt Wandlitz und zieht nach Berlin-Pankow, doch diese neue Offenheit nimmt ihm kaum jemand ab. Am 1. Dezember streicht die Volkskammer den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung. Krenz, körperlich erschöpft und von tiefen Augenrändern gezeichnet, ist „verbrannt“ und hat keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung oder gar in seiner eigenen Partei.

Die SED-Basis fordert seinen sofortigen Rücktritt. Im Zentralkomitee, das ihn nur sechs Wochen zuvor einstimmig gewählt hatte, entlädt sich ein „Unwetter“. Am 6. Dezember 1989 tritt das ZK geschlossen zurück und wirft zuvor Honecker aus der Partei. Krenz selbst, nur noch Parteichef auf Abruf, überbringt Honecker die Nachricht vom Parteiausschluss persönlich – es ist ihre letzte Begegnung.

Zwei Tage später tritt Krenz auch als Vorsitzender des Staatsrats und des Nationalen Verteidigungsrats der DDR zurück. Er hofft noch immer, dass sein Rücktritt „den Kräften den Weg bereiten kann, die für die Weiterexistenz der DDR sind“. Doch seine Genossen werfen auch ihn kurz darauf aus der Partei.

Nach 50 Tagen an der Macht steht Egon Krenz politisch wie persönlich vor dem Nichts. Sein Fazit über den Herbst 1989: „der Sozialismus in der DDR ist … verloren worden. Aber ohne, dass er blutbefleckt ist.“ Dass kein Schuss gefallen ist, bleibt sein Verdienst.

DDR erlebt in wenigen Wochen das Ende einer Ära

0

Berlin, November/Dezember 1989 – In einem atemberaubenden Tempo haben sich in den vergangenen Wochen in der Deutschen Demokratischen Republik Ereignisse überschlagen, die das Land für immer verändern. Von den zelebrierten 40-Jahr-Feierlichkeiten, die noch von staatlicher Inszenierung und scharfer Kritik an der Bundesrepublik geprägt waren, bis zur spektakulären Öffnung der Berliner Mauer und dem Rücktritt der gesamten DDR-Regierung, befindet sich die Republik im Strudel einer historischen Wende.

Die Jubelfeiern und Gorbatschows mahnende Worte Am 7. Oktober feierte die DDR ihren 40. Geburtstag mit einem Fackelzug auf der Prachtstraße Unter den Linden, einem historischen Bekenntnis der DDR-Führung zur Einheit mit dem Volk – doch die Realität sah anders aus. Die Feierlichkeiten, die dem Anschein nach Stärke demonstrieren sollten, konnten die tiefgreifenden Probleme des Landes nicht länger überdecken. Michail Gorbatschow, der wichtigste Ehrengast, wurde bei seiner Ankunft in Ost-Berlin unter strenger Kontrolle empfangen; nur ein ausgewähltes Publikum durfte den sowjetischen Staatschef bejubeln, während die Sicherheitsorgane weite Teile der Innenstadt abriegelten.

Gorbatschow selbst, dessen Land in einer Krise steckte, gab sich vorsichtig, aber seine Worte waren von großer Tragweite. Er betonte, dass jedes Volk selbst bestimmen müsse, was in seinem Land notwendig sei, und warnte davor, gesellschaftliche Anstöße zu ignorieren. Obwohl er die DDR-Führung nicht vor den Kopf stoßen wollte und die Beziehungen zur Sowjetunion lobte, unterstrich er indirekt die Notwendigkeit von Umgestaltung und Demokratisierung. Die DDR-Führung unter Erich Honecker reagierte auf diese Anregungen jedoch mit einer klaren Absage an weitreichende Reformen und beharrte auf dem bewährten Kurs.

Honeckers Fall und Krenz‘ schwieriger Start Zehn Tage nach den aufwendigen Jubiläumsfeierlichkeiten, am 18. Oktober, verlor Erich Honecker unter dem Druck der jüngsten Massenproteste und einer anhaltenden Ausreisewelle überraschend alle seine Ämter. Offiziell wurden Gesundheitsgründe genannt, und Honecker selbst schlug Egon Krenz als seinen Nachfolger vor. Krenz, der zum neuen Generalsekretär der SED, Staatsratsvorsitzenden und Oberbefehlshaber der Streitkräfte ernannt wurde, trat sein Amt in einer äußerst angespannten Lage an.

Doch die Bevölkerung zeigte sich von dem Wechsel an der Spitze unbeeindruckt. Hunderttausende demonstrierten bereits am Vorabend gegen die Machtfülle von Krenz, und Tausende protestierten in Ost-Berlin gegen seine Wahl zum Staatsratsvorsitzenden, forderten freie Wahlen sowie Presse- und Meinungsfreiheit. Selbst in der Volkskammer gab es bei seiner Wahl 26 Gegenstimmen – ein deutliches Zeichen des Misstrauens. Krenz appellierte an die Bürger, im Land zu bleiben, denn „jeder der uns verlässt ist einer zu viel“.

Massenproteste und die Fluchtwelle Die Proteste nahmen weiter zu. Eine genehmigte Großdemonstration am Berliner Alexanderplatz, zu der Künstlerverbände aufgerufen hatten und die vom DDR-Fernsehen live übertragen wurde, sammelte zehntausende Menschen, die Pluralismus statt Parteimonarchie forderten und das „Neue Forum“ unterstützten. Die Volkspolizei griff nicht ein, und brennende Kerzen am Volkskammergebäude symbolisierten den Wunsch nach einem Neuanfang.

Parallel dazu setzte sich die massive Fluchtwelle über die Tschechoslowakei fort. Nachdem die DDR-Führung die Grenze zur Tschechoslowakei freigegeben hatte, reisten zehntausende Bürger mit nur ihrem Personalausweis in die Bundesrepublik aus. Empfangslager in Bayern waren überfüllt, und der Bundesgrenzschutz musste tausende von Trabis und Wartburgs koordinieren. Einige Bürger kehrten nach einem Kurzbesuch in Westdeutschland sogar wieder in die DDR zurück, mit der Hoffnung auf Veränderungen.

Die Mauer fällt: Ein unvergesslicher Abend Am Abend des 9. November verkündete SED-Politbüromitglied Günter Schabowski bei einer Pressekonferenz eine neue Reiseregelung: Visum zur ständigen Ausreise würden „unverzüglich“ erteilt, und Privatreisen ins Ausland könnten ohne besondere Begründung beantragt werden. Auf Nachfrage bestätigte er, dass dies auch für die Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD und nach Berlin-West gelte – die Mauer sollte über Nacht durchlässig werden.

Die Nachricht löste in beiden Teilen Berlins Jubel und eine unbeschreibliche Volksfeststimmung aus. Zehntausende DDR-Bürger strömten zu den Grenzübergängen, kletterten auf die Mauer, und feierten mit West-Berlinern das Wiedersehen. Das Brandenburger Tor wurde zum Symbol der Einheit, und der Kurfürstendamm verwandelte sich in eine riesige Partyzone. Die Grenzkontrollen brachen unter dem Ansturm zusammen; vielerorts reichte der Personalausweis, oder es wurden überhaupt keine Papiere mehr verlangt. Die DDR begann umgehend mit dem Abbau von Grenzbefestigungen und der Einrichtung neuer Übergänge.

Nach der Maueröffnung: Euphorie und Herausforderungen In den Tagen nach der Maueröffnung wurden zahlreiche neue Grenzübergänge in Berlin und entlang der innerdeutschen Grenze eröffnet, wodurch zuvor gesperrte Zonen und Ortschaften wieder zugänglich wurden. Politiker wie Bundeskanzler Kohl begrüßten die Entwicklung als Beweis für die Durchsetzung der Freiheit und forderten weitere Reformen in der DDR. Das „Begrüßungsgeld“ von 100 D-Mark lockte viele Besucher nach West-Berlin, doch die Infrastruktur der Bundesrepublik war durch den massiven Zustrom an Übersiedlern stark gefordert.

Die politische Lage in der DDR blieb dynamisch: Am 13. November trat die gesamte Regierung unter Ministerpräsident Willi Stoph geschlossen zurück. Wenige Tage später wurde das alte Politbüro erneuert, prominente Vertreter der alten Garde wie Stoph und Mielke waren nicht mehr dabei. Das neue Politbüro stellte freie Wahlen in Aussicht, mit der SED als vermeintlich stärkster Kraft.

Silvester am Brandenburger Tor: Ein tragischer Ausklang Die Euphorie erreichte ihren Höhepunkt an Silvester 1989. Hunderttausende Menschen aus Ost- und West-Berlin sowie aus ganz Deutschland und dem Ausland versammelten sich am Brandenburger Tor, um das Ende der Teilung zu feiern. Trotz ausgelassener Stimmung kam es jedoch zu tragischen Zwischenfällen: Ein Leichtmetallgerüst mit einer Videowand brach unter der Last von Menschen zusammen, die darauf geklettert waren, was über 135 Verletzte forderte. Zudem wurde ein 24-jähriger West-Berliner in der Nähe des Brandenburger Tors tot aufgefunden. Feuerwehr, Polizei und Rotes Kreuz aus beiden Teilen der Stadt arbeiteten Hand in Hand, um die Verletzten zu versorgen.

Die Geschehnisse der letzten Wochen haben die DDR in eine völlig neue Ära katapultiert, deren Ausgang noch ungewiss ist. Die Bevölkerung hat ihre Stimme erhoben, die Grenzen sind gefallen, und ein neues Kapitel deutscher Geschichte hat begonnen.

Das Erbe der Frauen: Eine Familiensaga, die zeigt, wie Traumata durch die Zeit wirken

0

Ein Vierseitenhof in der abgeschiedenen Altmark ist mehr als nur ein Gebäude; er ist ein stiller Zeuge von über einem Jahrhundert menschlichen Lebens, ein Ort, an dem die Wände selbst die Geschichten, den Geschmack und das Sein seiner Bewohner atmen. Inmitten dieser atmosphärischen Kulisse entfaltet sich die ergreifende Erzählung „IN DIE SONNE SCHAUEN“, ein Werk, das die Schicksale von vier Frauen aus unterschiedlichen Epochen auf unheimlich verwobene Weise miteinander verknüpft. Dieser Film nimmt seine Leser mit auf eine tiefgründige Reise durch Zeit und Erinnerung, in der die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf dramatische Weise verschwimmen und die ewige Frage nach dem Vermächtnis und der Last vergangener Generationen neu beleuchtet wird.

Der Hof in der Altmark dient als Epizentrum einer Geschichte, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, nicht nur durch Blutsverwandtschaft, sondern auch durch die unausgesprochenen Energien des Ortes selbst. Jede der Protagonistinnen – Alma aus den 1910er Jahren, Erika aus den 1940er Jahren, Angelika aus den 1980er Jahren und Nelly aus den 2020er Jahren – erlebt hier ihre Kindheit oder Jugend. Doch ihre individuellen Reisen durch ihre jeweilige Gegenwart sind durchzogen von den Schatten der Vergangenheit, die sich in Form von ungesagten Ängsten, verdrängten Traumata und verschütteten Geheimnissen offenbaren. Der Film beleuchtet, wie tief verwurzelt menschliche Erfahrungen mit dem Ort sein können, an dem sie stattfinden, und wie diese Erfahrungen über Jahrzehnte hinweg nachwirken, sich in den Seelen der Bewohner verankern und deren Leben auf oft subtile, manchmal aber auch schockierende Weise beeinflussen.

Die erste dieser faszinierenden Figuren ist Alma, deren Geschichte sich in den 1910er Jahren entfaltet. Alma trägt nicht nur den Namen ihrer verstorbenen Schwester, sondern auch die unbewusste Last des Schicksals, das mit diesem Namen verbunden zu sein scheint. Sie glaubt, demselben tragischen Weg folgen zu müssen, was ihre Kindheit auf dem Hof von einer tiefen Melancholie und einer ständigen Vorahnung prägt.

Ihre Geschichte ist ein ergreifendes Beispiel dafür, wie familiäre Historie und die damit verbundenen Verlustängste das Selbstverständnis eines jungen Menschen formen können, lange bevor sie die volle Tragweite dieser Verstrickungen begreifen. Die Identität, die Alma durch ihren Namen verliehen wird, ist somit weniger ein Geschenk als vielmehr eine Bürde, die sie auf ihrer Suche nach einem eigenen Platz im Leben begleitet und ihre Wahrnehmung der Welt unwiderruflich färbt. Ihre Ängste sind greifbar und spiegeln die tiefe Verwurzelung von Aberglauben und Schicksalsglaube in einer vergangenen Epoche wider.

Einige Jahrzehnte später, in den turbulenten 1940er Jahren, begegnen wir Erika. Ihre Jugend auf dem Hof ist gezeichnet von einer beunruhigenden und gefährlichen Faszination für ihren versehrten Onkel. Diese Beziehung ist nicht nur ein Spiegelbild der schwierigen Zeit, in der sie lebt, einer Zeit des Krieges und der Entbehrung, sondern auch ein Symptom der tief sitzenden psychologischen Konflikte, die innerhalb des Familiensystems lauern. Erikas Geschichte beleuchtet die Komplexität menschlicher Anziehung und die dunklen Seiten von Beziehungen, die in Zeiten von Krieg und Unsicherheit entstehen können, wo die normalen gesellschaftlichen Normen oft verschwimmen. Ihre kindliche oder jugendliche Wahrnehmung wird durch diese spezielle Verbindung geformt, wodurch sie Erfahrungen macht, die sie unausweichlich mit der traumatischen Geschichte des Hofes und seiner Bewohner verknüpfen. Die Faszination, die sie für ihren Onkel empfindet, ist ein Schlüssel zu den verdrängten Traumata und unausgesprochenen Ängsten, die den Hof umschweben und sich in den Beziehungen der dort Lebenden manifestieren.

Die 1980er Jahre bringen uns zu Angelika, einer Frau, die in einem brüchigen Familiensystem gefangen ist. Ihr Leben ist ein ständiger Drahtseilakt zwischen dem Wunsch nach dem Tod und einer intensiven Lebensgier. Angelikas Kampf offenbart die Langzeitfolgen von familiären Dysfunktionen und die tiefen emotionalen Narben, die über Generationen hinweg weitergegeben werden können, und die sich in psychischen Konflikten zeigen. Ihre innere Zerrissenheit spiegelt die äußeren Spannungen und die ungelösten Konflikte wider, die den Vierseitenhof durchdringen. Sie versucht, ihren eigenen Weg zu finden, während sie gleichzeitig von den Erwartungen und den unausgesprochenen Regeln ihrer Familie erstickt wird. Angelikas Geschichte ist eine eindringliche Darstellung des Ringens um Autonomie und Selbstfindung inmitten einer Umgebung, die von der Vergangenheit schwer belastet ist und aus der sie zu entkommen sucht. Sie sucht nach einem Ausweg aus den Mustern, die das Leben ihrer Vorfahren bestimmt haben, um nicht selbst Opfer dieser erdrückenden Familiengeschichte zu werden.

Schließlich, in den 2020er Jahren, treffen wir auf Nelly. Obwohl sie in scheinbarer Geborgenheit aufwächst, ist sie nicht immun gegen die unbewusste Last der Vergangenheit. Nelly wird von intensiven Träumen heimgesucht, die ihr eine tiefere, oft beunruhigende Verbindung zu den Ereignissen und Emotionen der vorherigen Generationen offenbaren. Ihre Geschichte zeigt, dass Traumata und Geheimnisse nicht einfach verschwinden; sie finden Wege, sich durch Träume und unbewusste Muster in der Gegenwart zu manifestieren, selbst wenn die explizite Erinnerung daran fehlt. Nellys Erlebnisse unterstreichen die Idee, dass das Erbe eines Ortes und seiner Bewohner auch die jüngsten Generationen beeinflusst, selbst wenn diese sich dessen nicht explizit bewusst sind. Ihre Träume sind nicht nur nächtliche Phantasien, sondern vielmehr Echo der unausgesprochenen Ängste und verschütteten Geheimnisse, die seit über einem Jahrhundert auf diesem Hof liegen und nach einer Erlösung suchen.

Die Genialität von „IN DIE SONNE SCHAUEN“ liegt in der Art und Weise, wie diese vier scheinbar separaten Leben auf dem Hof miteinander verknüpft sind. Die Spuren der Vergangenheit – die Ängste, Traumata und Geheimnisse – sind nicht nur Hintergrundgeschichten, sondern aktive Kräfte, die die Realität jeder Frau prägen. Dieses komplexe Geflecht erreicht seinen Höhepunkt, als sich ein tragisches Ereignis auf dem Hof wiederholt. In diesem Moment geraten die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart ins Wanken, und es wird deutlich, dass die Schicksale der Frauen untrennbar miteinander verbunden sind, fast so, als wäre der Hof selbst eine Zeitschleife. Die Wiederholung des Tragischen ist nicht nur ein Zufall, sondern ein Beweis dafür, wie tief die Muster der Geschichte in das Gewebe des Ortes und seiner Bewohner eingegraben sind, und dass ungelöste Konflikte immer wieder an die Oberfläche drängen. Der Hof selbst wird zu einem Resonanzkörper für diese Ereignisse, in dem die Schreie und Flüsterer vergangener Generationen noch immer zu hören sind und die Lebenden in ihren Bann ziehen.

„IN DIE SONNE SCHAUEN“ ist somit weit mehr als nur eine Familiengeschichte; es ist eine tiefgründige Exploration der Zeit, der Erinnerung und des Einflusses eines Ortes auf das menschliche Schicksal. Es ist eine Aufforderung, genau hinzuhören, die unausgesprochenen Geschichten zu erkennen und zu verstehen, wie die Vergangenheit unaufhörlich die Gegenwart formt und prägt. Der abgeschiedene Vierseitenhof in der Altmark wird zu einer Metapher für die menschliche Seele, die die Last und die Schönheit vergangener Leben in sich trägt, eine Art kollektives Gedächtnis, das durch die Generationen hindurchwirkt. Diesr Film ist ein Muss für jeden, der sich für die tieferen Schichten menschlicher Erfahrung, die Macht des Ortes und die unheimliche Verbindung zwischen den Generationen interessiert. Es zeigt eindrucksvoll, wie die Wände eines alten Hofes die Seufzer und die Freuden von über einem Jahrhundert absorbieren können, um sie dann durch die Leben neuer Bewohner widerhallen zu lassen und uns daran zu erinnern, dass wir alle Teil einer größeren Geschichte sind.

Erich Honecker bricht das Schweigen: Ein Rückblick in Moskauer Isolation (1991)

0

Moskau, 1991 – Über ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hat Erich Honecker, der ehemalige Staatsratsvorsitzende, aus seiner abgeschirmten Datscha in einem Moskauer Vorort ein Interview gegeben. Das auf zwei Tage verteilte, siebenstündige Gespräch vor der Kamera offenbarte einen Mann, der „immer noch ganz Staatsoberhaupt“ agierte, darauf bedacht, „Erklärungen abzugeben, Positionen zu definieren“, und seine Sicht der jüngsten Geschichte zu verteidigen.

Das Ehepaar Honecker traf in einer schwarzen Limousine und in Begleitung von zwei Leibwächtern ein; Margot Honecker sollte kurz darauf die Sowjetunion in Richtung Chile verlassen. Die Atmosphäre war förmlich, die Erwartungen widersprüchlich. Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit – er befand sich im 80. Lebensjahr und hatte zwei schwere Operationen hinter sich – betonte Honecker, seine Gesundheit sei „soweit wieder hergestellt“, dank deutscher und insbesondere sowjetischer Ärzte.

Rückkehr nach Deutschland und politische Lage in Moskau
Angesprochen auf Spekulationen über seine Zukunft und einen angeblichen Pass seiner Gattin, bestätigte Honecker den Erhalt des Passes seiner Frau durch die Bundesrepublik Deutschland und erklärte: „Ich selbst beabsichtige natürlich, nach Deutschland zurückzukehren.“ Eine unbedingte Voraussetzung dafür sei jedoch die Aufhebung des Haftbefehls gegen ihn, da er nicht die Absicht habe, sich den „Racheengeln“ zur Verfügung zu stellen. Er zeigte sich überzeugt, dass dieser Haftbefehl aufgehoben werde, da die Bundesrepublik Deutschland kein Recht habe, ein ehemaliges Staatsoberhaupt der DDR für Handlungen in Ausübung seines Amtes zu verfolgen. Kontakte zur Deutschen Botschaft in Moskau bestritt er jedoch und kündigte an, seine Kinder in China besuchen zu wollen.

Honecker verneinte jeglichen Druck seitens sowjetischer oder russischer Behörden, das Land zu verlassen. Er habe den Putschversuch in Moskau nur isoliert wahrgenommen und kaum etwas bemerkt. Politisch bewertete er die Ereignisse als Beschleunigung jener Entwicklungsprozesse, die die Sowjetunion von einem sozialistischen zu einem marktwirtschaftlichen, kapitalistischen System katapultieren sollen. Dabei zog er Parallelen zu den „neuen Bundesländern“, um die Schwierigkeiten eines solchen Übergangs zu verdeutlichen. Fragen nach Sympathien für die Putschisten gegen Gorbatschow wich er aus, betonte aber, dass er auf Einladung Gorbatschows in Moskau sei, woraus sich alle Fragen ergäben.

Beobachter des Interviews merkten an, dass Honecker beim Thema Gorbatschow „übervorsichtig“ war und sich bedeckt hielt, da „Eigenschutz vor[ging]“.

Ursachen für den Untergang der DDR: Ein sowjetischer „Verrat“?
Erich Honecker lehnte die Annahme ab, dass die Proteste in Leipzig oder anderswo den Umschwung in der DDR herbeigeführt hätten. Er sprach von einem „großen Irrtum“ und forderte, das „geschichtliche Bild … zurecht[zu]drücken“. Die Hauptursache für den Untergang der DDR sah er in einer angeblichen Änderung der sowjetischen Außenpolitik: Er verwies auf ein Gespräch im Herbst 1984 am Schwarzen Meer, bei dem sich der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse und andere darauf geeinigt hätten, alles zu ändern, und Schewardnadse bereits 1986 zu dem Schluss gekommen sei, dass die Existenz der DDR „künstlich und widernatürlich“ sei. Er sah dies als Vorwurf an den damaligen sowjetischen Außenminister, der seine Kollegen in der DDR nicht darüber informiert hatte.

Auf die Frage, warum er die Reformpolitik Gorbatschows nicht auf die DDR übertragen habe, obwohl dies von der Bevölkerung erwartet wurde, erklärte Honecker, er habe „damals schon im großen Ganzen“ gesehen, was eintreten würde. Er habe bereits 1987 in Moskau Anhänger des Zaren und „informelle Gruppen“ demonstrieren sehen und daraus geschlossen, dass die Entwicklung in der Sowjetunion nicht wie vielleicht ursprünglich angelegt, sondern in Richtung Auflösung des Sozialismus gehen würde. Für ihn war das, was in der DDR als „Wende-Beschluss“ vollzogen wurde, „nicht eine Reform, sondern… der Übergang zur Gegenrevolution und zur Annexion der Deutschen Demokratischen Republik durch die Bundesrepublik Deutschland.“

Die Kritik von Markus Wolf, der Honecker 1989 mangelnde Einsicht in Reformnotwendigkeiten bescheinigt hatte, wies Honecker zurück. Er weigerte sich, über den ehemaligen stellvertretenden Minister für Staatssicherheit zu diskutieren, und betonte, Wolf sei damals gekommen, um ihm ein Buch mit einer herzlichen Widmung zu überreichen, nicht um über konspirative Reformpläne zu sprechen. Honecker bekräftigte, die SED sei stets für Revolution und Reformen im Dienste der Revolution gewesen, „aber nicht für Reformen im Dienste der Konterrevolution.“

Ministerium für Staatssicherheit und Grenzregime
Honecker wehrte sich gegen die pauschale Kriminalisierung von Reformbestrebungen als vom Westen gesteuert, betonte aber, dass Botschafterberichte von 1987 über Forderungen nach Akzeptanz der deutschen Zweistaatlichkeit existierten. Damals habe er diese Berichte mit dem Politbüro diskutiert, wobei ihm versichert worden sei, dass dies persönliche Meinungen und nicht die offizielle Haltung der sowjetischen Führung seien. Er beklagte, dass die Enthüllungen nun bestätigten, dass diese Entwicklungen seit 1984 im Gange waren, zum Schaden der DDR und anderer sozialistischer Länder.

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bezeichnete Honecker als ein „Ministerium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik“, das „staatliche Aufgaben zu erfüllen“ hatte. Er distanzierte sich von einer starken Bespitzelung der eigenen Bevölkerung und verwies auf seine eigene Rede vom Februar 1988, in der er sich für „persönliche Freiheit“ und die Einhaltung des Post- und Fernmeldegeheimnisses ausgesprochen habe. Falls das MfS starken Druck ausgeübt habe, habe es „nicht die Aufgaben erfüllt, die ihm oblagen“.

Besonders bemerkenswert waren Honeckers Äußerungen zur Größe des MfS: Er verurteilte die gegenwärtige „Hesse gegen die Mitarbeiter von Staatssicherheit“ als Ablenkung. Er behauptete, in keiner Sitzung des Verteidigungsrates oder des Politbüros seien Fragen zur Struktur oder zum Personalbestand des MfS behandelt worden. Er selbst habe die Größe des Ministeriums „immer … so ungefähr 30.000 bis 35.000“ eingeschätzt, basierend auf einer Diskussion mit dem damaligen Minister Wolf zu Beginn seiner Tätigkeit. Auf die Frage, ob sich das Amt dann vervierfacht habe, antwortete er: „Das weiß ich nicht und das weiß auch hier, wie ich gelesen habe, Herr Wolf nicht.“ Er schien anzudeuten, dass Mielke Informationen zurückgehalten hatte.

Zum Thema der Unterschlupfgewährung für RAF-Mitglieder in der DDR verlas Honecker eine vorbereitete Erklärung, wonach er und die DDR-Regierung davon nichts gewusst hätten und dies ein Alleingang einzelner Stasi-Offiziere gewesen sei. Er hätte dies unterbunden, wenn er davon gewusst hätte.

Die Verantwortung der Grenzsoldaten, die im vereinten Deutschland vor Gericht standen, verteidigte Honecker vehement. Er betonte, jeder Staat habe das Recht, „in den inneren und äußeren Fragen selbst zu entscheiden“. Er stellte in Frage, ob jeder Amerikaner die USA verlassen könne, und bezeichnete die Inhaftierung der Grenzsoldaten, die „nichts anderes getan, als ihre Pflicht getreu ihrem Eid zu verwirklichen“, als „Skandal“. Das 1982 verabschiedete Grenzgesetz der DDR und die angeblichen Liberalisierungen des „Grenzregimes“ hätten die Zustimmung der Blockparteien erhalten.

Wichtige Persönlichkeiten und der Rücktritt
Alexander Schalck-Golodkowski, Staatssekretär für Außenhandel, lobte Honecker für seine „sehr verantwortliche Tätigkeit“ bei der Beschaffung von Devisen für die DDR außerhalb des Haushalts. Er verurteilte die Unterstellung, Franz Josef Strauß sei ein „Einflussagent“ des MfS gewesen, als „unwürdig“ und „absurd“. Strauß sei ein „echter Bayer“ gewesen, der eine entscheidende Rolle in der deutschen Politik spielen wollte.

Den 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 erinnerte Honecker als „einen großen Höhepunkt“. Er wies Gorbatschows berühmtes Zitat „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ zurück; dieses sei „vollkommen falsch verstanden“ worden und habe sich auf die Entwicklung in der Sowjetunion bezogen, nicht auf die DDR. Er behauptete, nichts von den gewaltsamen Protesten vor dem Palast der Republik am Abend des Empfangs gewusst zu haben, und bezeichnete sie als „organisierte Sache“.

Seinen eigenen Rücktritt am 17. Oktober 1989 stellte Honecker als einen solchen dar: „Ich bin zurückgetreten, weil ich mit dem Wendebeschluss nicht einverstanden war.“ Er verwies darauf, dass das ZK der SED und die Volkskammer ihm für seine Tätigkeit an der Spitze von Partei und Staat gedankt hätten. Die Schilderungen von Politbüro-Mitgliedern wie Krenz, Schabowski und Mittag, die in westlichen Medien veröffentlicht wurden, waren ihm größtenteils nicht bekannt, er lehnte sie ab. Zudem behauptete er, einige der ihm zugeschriebenen „berühmten Unterschriften EH“ seien „gefälscht“. Er war überzeugt: „Wenn alles nach meinem Willen gelangen wäre, dann würde die Deutsche Demokratische Republik heute noch bestehen.“

Ungebrochener Glaube an den Sozialismus
Trotz allem zeigte sich Erich Honecker fest in seinen Überzeugungen verankert. Die Interviewer beschrieben ihn als „vereinsamten, alten Mann, erstarrt in seinen Überzeugungen“, dessen „Ideologie… längst zum Glauben geworden, zum Panzer, an dem jede Kritik abprallt“. Honecker schwärmte von den noch verbliebenen sozialistischen Ländern: „Die Volksrepublik China… das tapfere Vietnam… und wir haben auch den Leuchtturm in Lateinamerika, das tapfere Kuba“. Für ihn „existiert der Sozialismus als solcher real noch“, und die wissenschaftlich begründete Idee von Marx, Engels, Lenin und Mao Zedong könne „durch zeitweise Rückschläge“ nicht wackeln.

Honecker nutzte das Interview auch, um ausführliche, vorformulierte Erklärungen abzugeben, die er als „Vertiefungen“ bezeichnete, und sah das Gespräch als „Bild- und Tondokument für die Geschichte“. Er schloss mit der Hoffnung, dass die Berliner Justiz nicht „ein zweites Mal die Möglichkeit erhält, mich auch nur einen Tag dort festzuhalten“.

DDR-Umerziehung: Eine dunkle Vergangenheit und der lange Weg zur Aufarbeitung

0

Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) versprach ihren Kindern „die ganze Liebe unseres Volkes und die besondere Fürsorge unserer Regierung“. Doch für fast 500.000 Kinder und Jugendliche, die einen Teil ihres Lebens in den über 700 Erziehungsheimen der DDR verbringen mussten, sah die Realität oft anders aus. Diese Einrichtungen reichten von „normalen Kinderheimen“ bis zu den gefürchteten „Spezialheimen“ und „Jugendwerkhöfen“, wobei der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau als der schlimmste galt und heute eine Gedenkstätte ist.

Das System der Umerziehung und die Einweisung
Historiker Ingolf Nitschke, Projektleiter der Gedenkstätte Torgau, erklärt, dass etwa vier Fünftel der Heime Normalheime waren, in die Kinder und Jugendliche mit „normalen Erziehungsproblemen“ kamen. Als „schwer erziehbar“ kategorisierte Kinder und Jugendliche wurden hingegen in Spezialheime eingewiesen. Das übergeordnete Ziel aller Erziehungsbemühungen in der DDR war die Formung einer „so genannten eingebildeten fatalistischen Persönlichkeit“, die sich den Zielen und Vorstellungen der DDR bedingungslos unterwarf. Wer dazu nicht bereit war, lief Gefahr, ins Heim zu kommen.

Die Gründe für eine Einweisung waren oft erschreckend willkürlich und basierten auf der Vorstellung, das „Individuum zu brechen“, anstatt eine überzeugte sozialistische Persönlichkeit zu formen. Beispiele hierfür sind:

• Ein Vater, der im Krieg fiel, und eine Mutter, die allein zu schwach war und ihrem Sohn „zu viel Freiheit“ ließ.

• „Abenteuerlust“ oder die Lektüre „billiger Hefte“ und „gefährlicher Filme“.

• Die Weigerung, einen Schulabschluss zu machen, wie bei der 16-jährigen Corinna Thalheim, die sich selbst um Hilfe bat und stattdessen in den Jugendwerkhof Wittenberg kam.

• Die Mutter von Alexander Müller, die einen Protest gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann unterschrieb und zur Strafe in den Schichtdienst einer Textilfabrik gezwungen wurde. Der damals zehnjährige Alex war daraufhin oft sich selbst überlassen und schwänzte die Schule, was für ein Spezialkinderheim ausreichte.

Alltag der Demütigung und Zwangsarbeit
Das Leben in den Heimen war oft von militärischer Strenge geprägt. Dietmar Hummel, der zehn Jahre in einem Kinderheim verbrachte, beschreibt den Alltag als „Stillstehen und in und Meldung machen“. Ein strikt geregelter Tagesablauf, Appelle und „vormilitärische Ausbildung“ gehörten dazu.

Arbeit und Ausbildung: Die meisten Jugendlichen mussten als Hilfskräfte in Betrieben der Umgebung arbeiten. Corinna Thalheim wurde beispielsweise eine „Teilfacharbeiterin als Klofrau“, eine „billige Version der Putzfrau“. Marianne Kastrati und andere Mädchen mussten in verschiedenen Betrieben arbeiten, von der Textilfabrik bis zur Fleisch- und Wurstwarenfabrik, wo sie überall „in die Ecke gedrängt“ und „schlecht behandelt“ wurden. Für viele endete die Schulausbildung nach der achten Klasse, und sie erhielten lediglich eine „Teilberufsausbildung“, oft in Hauswirtschaft oder als Gärtner. Vieles bestand aus Putz-, Säuberungsarbeiten oder Gemüseschälen.

Strafen und Misshandlungen: Die Heime waren geprägt von einem System harter Strafen.

Besenkammern und Keller: Dietmar Hummel erinnert sich, dass fast jedes Kind im Heim Anna Schumann in der Besenkammer unter der Treppe eingesperrt wurde, oft wegen belangloser Vergehen. Dies konnte mehrere Stunden dauern, in einer dunklen Kammer, in der es kein Licht gab. Es gab auch „Gefängnisse“ im Haus, kalte oder extrem heiße Kellerräume, in denen die größte Angst war, „vergessen zu werden“.

Psychische Folter: Im Durchgangsheim wurde Corinna Thalheim 24 Stunden am Tag gesagt, sie sei „nichts wert“, passe „nicht in diese Welt“ und sei „dumm“, was sie fühlen ließ, „als wäre man ein Stück Dreck“. Das Selbstwertgefühl der Kinder war „gleich null“.

Körperliche Misshandlung und Demütigung: Corinna Thalheim erlebte ein sogenanntes „Aufnahmeritual“ oder „Reinigungsritual“, bei dem sie sich nackt vor 19 Mädchen ausziehen und unter der Dusche mit Bürsten und Streumittel bis zum Entstehen offener Wunden gereinigt werden musste. Alexander Müller wurde als „konterrevolutionäres Element“ bezeichnet und erlebte, wie Erzieher, die auch Parteisekretäre waren, Jugendliche anstifteten, ihn zu verprügeln, nachdem er eine Bibel erhalten hatte.

Torgau: Das „Schlimmste“ der Heime
Torgau, der Geschlossene Jugendwerkhof, war die Endstation für viele, die sich nicht anpassen wollten. Wer hierher kam, musste zunächst bis zu zwölf Stunden schweigend mit dem Gesicht zur Wand warten. Die Haare wurden geschoren, es gab Anstaltskleidung, und zur Begrüßung Einzelarrest zwischen drei und zwölf Tagen.

Der „Fuchsbau“: Corinna Thalheim musste drei Tage in einer „Fuchsbau“ genannten Arrestzelle verbringen – ein kleines Loch, in das man kriechen musste und in dem man weder stehen noch liegen konnte. Sie beschreibt, wie sie dort „mit meinem Leben abgeschlossen“ hatte und ihr gesagt wurde: „Du kommst du nicht wieder raus, die Sonne siehst du nie wieder“.

Exzessiver Sport: Zu den Qualen gehörte exzessiver Sport auf der „Sturmbahn“, oft nach der Arbeit, mit täglich 350 Liegestützen, Strecksprüngen und Kniebeugen.

Sexueller Missbrauch: Corinna Thalheim berichtet, dass das Schlimmste, was ihr angetan wurde, sexueller Missbrauch durch den Direktor des Hauses war, der seine Machtposition ausnutzte und Handlungen ausüben ließ.

Spurensuche und der Kampf um Aufarbeitung
Viele der ehemaligen Heimkinder können bis heute nicht über ihre Erlebnisse sprechen. Die Traumata haben tiefe Spuren hinterlassen: innere Leere, das Gefühl, „kaputtgemacht“ oder „zerstört“ worden zu sein, und ein Mangel an Selbstwertgefühl. Marianne Kastrati beschreibt, wie sie viele Erinnerungen verdrängt hat und einen „ganz tiefes Loch“ oder „Film riss“ in ihrer Erinnerung an die Heimzeit hat.

Doch es gibt auch Bestrebungen zur Aufarbeitung:

Rehabilitierung: Marianne Kastrati kämpfte über 40 Jahre später um ihre Rehabilitierung, die ihr 2011 gewährt wurde. Sie empfand den Stempel auf dem Papier als „Befreiung“ und die Anerkennung, zu Unrecht inhaftiert gewesen zu sein, als das Wichtigste, um endlich „ruhiger schlafen“ zu können.

Gedenkstätte und Zeitzeugen: Die Gedenkstätte Torgau spielt eine zentrale Rolle bei der Aufklärung. Ingolf Nitschke führt Schulklassen durch die Ausstellung, und ehemalige Heimkinder wie Dietmar Hummel und Alex Müller bieten Zeitzeugengespräche an, um ihre Erfahrungen zu teilen und zu verhindern, dass die Geschichte vergessen wird.

Selbsthilfegruppen: Corinna Thalheim gründete 2011 die bislang einzige Selbsthilfegruppe für Missbrauchsopfer in DDR-Heimen, unterstützt von der Initiativgruppe Torgau.

Trotz dieser Fortschritte gibt es Herausforderungen: Die Meldefrist von nur zwei Jahren für Entschädigungsanträge bei der Bundesregierung ist für viele Betroffene, die erst jetzt beginnen, über ihr Trauma zu sprechen, unrealistisch kurz. Viele leben heute in Obdachlosenheimen und wissen nichts von den Unterstützungsmöglichkeiten.

Ein Appell für die Zukunft
Die Erfahrungen der ehemaligen Heimkinder sind ein Mahnmal. Dietmar Hummel appelliert an die Schülerinnen und Schüler: „Genießt euer Leben, genießt eure Freiheit, denn Freiheit ist das Größte“. Corinna Thalheim fordert, dass das, was in den Heimen der DDR passiert ist, ans Licht kommt. Sie möchte zeigen, dass sie nicht „ganz kaputt gemacht“ wurde und dass die Gesellschaft überdenken sollte, „wie sie eigentlich mit den schwächsten in der gesellschaft umgehen“. Die Aufarbeitung dieser dunklen Kapitel ist entscheidend, damit die Schrecken der Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten.

Wie die UdSSR die DDR zum bitteren Olympiaboykott zwang

0

Los Angeles, 1984. Unter strahlender kalifornischer Sonne sollen die ersten privat organisierten Sommerspiele der Geschichte zu einer „ganz großen Show“ mit Hollywood-Feeling werden. Doch für eine der weltweit führenden Sportnationen, die Deutsche Demokratische Republik (DDR), wird der Medaillenkampf zum Albtraum: Das DDR-Team, das vier Jahre lang hart für den Traum von Olympia-Gold trainiert hatte, gerät im Frühjahr 1984 in den Strudel der Weltpolitik. Trotz immenser Vorbereitung und weltweiter Anerkennung als Sportgroßmacht mussten die ostdeutschen Athleten dem politischen Druck weichen und blieben den Spielen fern.

Die DDR: Eine Sportmacht auf ihrem Höhepunkt
Anfang der 1980er Jahre war die DDR „sportlich gesehen weltführend“ und galt als „Sportgroßmacht“. Nicht nur in der Leichtathletik, sondern auch im Radsport, Schwimmen oder Kanu führte kaum ein Weg an den Ostdeutschen vorbei. Selbst in Sportarten wie Fechten, Gewichtheben oder Boxen sahen Experten beste Aussichten auf Edelmetall. Peter Ueberroth, der Organisationschef der Olympischen Spiele 1984, bezeichnete das DDR-Team in seinen Memoiren sogar als das „bestvorbereitete Team“. Rechnet man die Medaillen der DDR-Sportler auf die Bevölkerungszahl um, war die DDR wohl der erfolgreichste Sportstaat der Welt.

Der Erfolg basierte auf einem professionell durchgeführten Sportsystem, das offiziell als Amateursport galt. Ein ausgeklügeltes Sichtungs- und Ausbildungssystem, gepaart mit optimaler Trainingsmethodik und -betreuung, ließ die DDR anderen Ländern nach Einschätzung eines Experten um zehn Jahre voraus sein. Topathleten wie die Sprinterin Marlies Göhr oder der Kugelstoßer Udo Beyer waren nicht nur sportliche Aushängeschilder, sondern auch „Diplomaten im Trainingsanzug“, die die DDR international bekannter machten. Zwar gehörte auch der Einsatz unerlaubter Mittel wie der „Staatsplan 14.25“ zum DDR-Sportsystem, doch dies wurde damals öffentlich nicht thematisiert, und im Westen wurde laut einem Zeitzeugen mit ähnlichen, wenn auch anders organisierten Mitteln gearbeitet.

Die Stärke der DDR-Sportler zeigte sich eindrucksvoll:
• Im Juni 1983 gewann die DDR einen Leichtathletik-Länderkampf gegen die USA in Los Angeles mit fast 20 Punkten Vorsprung, sogar die ARD übertrug umfangreich. Marlies Göhr schlug die amerikanische Sprinterin Evelyn Ashford in ihrem „eigenen Stadion“, und Kugelstoßer Udo Beyer stellte trotz Fußverletzung einen neuen Weltrekord mit 22,22 Metern auf.

• Nur wenige Monate zuvor, im Februar 1984, führte die DDR bei den Olympischen Winterspielen in Sarajevo erstmals den Medaillenspiegel an, vor der Sowjetunion und den USA, mit neun Gold-, neun Silber- und sechs Bronzemedaillen.

Diese Erfolge nährten hohe Erwartungen an die Sommerspiele in Los Angeles.

Schatten des Kalten Krieges: Der Boykott kündigt sich an
Die Euphorie wurde jedoch von einer angespannten politischen Lage überschattet. Nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 und der sowjetischen Invasion in Afghanistan spitzte sich der Kalte Krieg zwischen der UdSSR und den USA zu. US-Präsident Ronald Reagan sah die Sowjetunion als das „Reich des Bösen“. Der amerikanische Boykott der Moskauer Spiele 1980, an dem sich die Bundesrepublik Deutschland und weitere 62 Länder beteiligten, war eine klare politische Reaktion. Schon damals gab es die Befürchtung, dass der Ostblock vier Jahre später einen Gegenboykott starten würde.

Im Vorfeld der Spiele in Los Angeles 1984 spitzte sich die Situation weiter zu:
• In den USA gab es eine „gewaltige Kampagne“, die die Teilnahme der sowjetischen Mannschaft verhindern sollte, einschließlich geplanter Reklametafeln, die zum Übertritt sowjetischer Sportler aufrufen sollten.

• Anfang 1984 kam es in den USA immer wieder zu antisowjetischen Demonstrationen.

• Die Verweigerung der Akkreditierung für einen sowjetischen Olympia-Attaché im April 1984, der als Geheimdienstoffizier bezeichnet wurde, eskalierte die Lage weiter.

DDR-Athleten wie Hartwig Gauder spürten die feindselige Stimmung bei Trainingslagern in Mexiko. Dennoch konnten sich die meisten DDR-Sportler und sogar Funktionäre wie Volker Kluge, Pressesprecher des DDR-NOK, einen Boykott nicht vorstellen, da die DDR „politisch interessiert an der Ausstrahlung [war], die mit den sportlichen Erfolgen ja zweifellos verbunden waren“.

Manfred Ewalds Kampf gegen den unvermeidlichen Beschluss
Die DDR-Sportführung wollte unbedingt in Los Angeles starten. NOC-Präsident Manfred Ewald, der insgeheim davon träumte, Nachfolger von IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch zu werden, versuchte, die Teilnahme der DDR zu sichern. Er ging sogar in die Offensive und sandte einen offenen Brief an den amerikanischen Cheforganisator Peter Ueberroth, um Verletzungen der Olympischen Charta durch die USA anzuprangern.

Ewald hatte sogar einen kühnen Plan: Er wollte lediglich 40 bis 50 Einzelsportler entsenden, um sicher Goldmedaillen zu holen, und hatte dafür sogar die Rückendeckung von IOC-Chef Samaranch erhalten.

Doch Ewalds Bemühungen wurden auf höchster Ebene abgeschmettert. Die UdSSR drohte der DDR, „den Ölhahn abzudrehen“, sollte sie nicht dem Boykott folgen. Honecker soll Ewald direkt konfrontiert haben: „Manfred, willst du verantworten, dass es in der DDR Arbeitslose gibt?“.

Am 8. Mai 1984, dem Tag des Sieges, gab das sowjetische NOC offiziell bekannt, aus Sicherheitsgründen nicht an den Spielen teilzunehmen.

Diese „sehr wohl kalkulierte“ Entscheidung galt als direkte Antwort auf den Boykott von 1980. Stunden später schloss sich die DDR an. Die offizielle Erklärung des Nationalen Olympischen Komitees der DDR sprach von „keinen regulären Bedingungen“ für eine Teilnahme. Hinter den Kulissen war die „eingehende Beratung“ und die „einstimmige“ Beschlussfassung jedoch ein „Fake“, da es „niemals einen Beschluss gegeben“ hatte, die DDR-Sportler nicht zu schicken.

Ein zerbrochener Traum: Das Leid der Sportler
Für die Topstars der DDR war die Nachricht vom Boykott ein Schock. Marlies Göhr, die sich in ihrem sportstärksten Jahr befand und vier Jahre trainiert hatte, war so wütend und enttäuscht, dass sie ihren „Ausweis der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft genommen und den verbrannt“. Waldemar Cierpinski, zweifacher Marathon-Olympiasieger und Hoffnungsträger für ein drittes Gold, beendete sofort seine Karriere. Er konfrontierte Manfred Ewald in einer Versammlung und erklärte seinen Rücktritt, was Ewald als „demoralisierend“ empfand. Heike Drechsler, die amtierende Weitspring-Weltmeisterin, hätte mit ihrer Bestweite von 7,32 Metern das olympische Gold in Los Angeles (6,66 Meter) locker gewonnen – eine „bittere“ Erkenntnis.

Viele Athleten fühlten sich betrogen, da sie Jahre ihres Lebens auf diesen Höhepunkt hingearbeitet hatten. Olaf Ludwig, der seine Silbermedaille von Moskau 1980 vergolden wollte, empfand große Frustration und Enttäuschung, als er vom Boykott erfuhr. Einige schalteten dennoch Westfernsehen ein, um die Spiele zu verfolgen, mussten dabei aber den Schmerz über die verpasste Chance ertragen.

Als Trostpflaster veranstaltete der Ostblock die „Wettkämpfe der Freundschaft“ – sogenannte Gegenspiele. Die Ergebnisse dieser Wettbewerbe wurden von der DDR-Sportführung wie Olympia-Ergebnisse gewertet, und die Athleten erhielten Prämien und Orden. Doch für viele war dies kein Ersatz für den entgangenen olympischen Ruhm.

Das Erbe des Boykotts
Erst vier Jahre später, bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul, kehrten die DDR-Stars auf die olympische Bühne zurück. Sie belegten erneut den zweiten Platz im Medaillenspiegel, hinter der UdSSR und vor den USA. Für Sportler wie Olaf Ludwig, der dort Gold im Straßen-Einzelrennen gewann, wurde in Seoul der „klassische olympische Gedanke“ wieder lebendig, da „alle da waren“.

Der Olympia-Boykott von 1984 bleibt für viele eine „ganz dunkle Stunde“, in der der Sport gegen die Politik verlor. Für die meisten Athleten ist der Schmerz nach über 40 Jahren verflogen, auch wenn es gedauert hat. Als wertvollstes Zeugnis aus ostdeutscher Sicht bleiben die damals bereits gedruckten, aber nie offiziell herausgegebenen Briefmarken mit Olympiamotiven für Los Angeles 1984 – ein stilles Mahnmal an einen Olympiatraum, der nie wahr wurde.

Fritz Fleischer: Der unbeugsame Karosseriebauer aus Gera

0

Gera – Wer sie kennt, spricht oft ehrfürchtig von ihnen: die legendären Reisebusse der einst in Gera ansässigen Fritz Fleischer Konsumgenossenschaft. Doch hinter den innovativen Fahrzeugen verbirgt sich die Geschichte eines Mannes, der zahlreiche Rückschläge erlitt und sich doch immer wieder aufrichtete und neu begann: Fritz Fleischer. Eine akribische Aufarbeitung von Christian Suer, Autor bekannter Kfz-Fachliteratur des ostdeutschen Fahrzeugbaus, wirft ein Licht auf das außergewöhnliche Leben dieses Karosserie- und Fahrzeugbauers.

Frühe Prägung und ein unstillbarer Wissensdurst
Fritz Fleischer wurde am 21. Dezember 1903 in Niedndorf bei Gera geboren. Sein Vater Leonhard erkrankte früh an Tuberkulose und verstarb 1912, als Fritz neun Jahre alt war. Die Mutter Hedwig musste als Landarbeiterin drei kleine Kinder alleine durchbringen und prägte ihre Söhne früh zur Arbeit an. Mit 13 Jahren arbeitete Fritz in einer Pappenfabrik, wo ihm Bücher und Zeitschriften in die Hände fielen, die seinen unstillbaren Wissensdurst weckten. Obwohl das Familienbudget keine höhere Schulbildung zuließ, erhielt er von seinem Lehrer zusätzlichen Unterricht. Ein Studium wurde von der Mutter abgelehnt, sodass Fritz die Schule nach der achten Klasse verlassen musste, die Sonderstunden aber weiterhin erhielt.

Die Faszination für Autos, die damals selten auf den Landstraßen vorbeifuhren, weckte in ihm einen Wunsch, den er zunächst für illusorisch hielt. Er sollte Eisenbahner werden oder Dorfschmied – Berufe, die ihn nicht reizten. Ein Tipp aus dem Familienkreis führte ihn jedoch zu einem Vorstellungsgespräch bei der Kutschwagenfabrik Breitbad und Söhne. Hier konnte er trotz Stellmacherausbildung vielfältige handwerkliche Erfahrungen in Schlosserei, Schmiede, Lackiererei und Sattlerei sammeln. Sein Streben, möglichst viel zu lernen, führte ihn dazu, sich fehlendes Wissen in Fachbüchern über Automobilbau anzueignen.

Wanderjahre, politische Ambitionen und die Rückkehr nach Gera
Nach seiner Gesellenprüfung wechselte Fritz Fleischer Ende 1921 zu renommierten Firmen der deutschen Karosseriebranche wie der Traugot Golde AG und später zur Wagenfabrik Gottläuber und der Maschinenfabrik Friedrich Erdtmann in Gera. Erfahrungen im Fahrzeugbau suchte er bei den Wiesbadener Kruckwerken GmbH, wo er erstmals mit Spezialwagen und Landauern in Holzgerippe-Konstruktion in Berührung kam.

Unerwartet nahm sein Leben eine andere Wendung, als er sich einem Turn- und Sportverein anschloss und mit einer Akrobatengruppe auftrat. Sein Weg führte ihn an die erste Arbeiterakademie nach Frankfurt am Main, wo er Journalist werden wollte. Während er 1925 in ein Karosseriewerk in Frankfurt wechselte, begann er ein Fernstudium an der Universität, das er nur mit Unterstützung des Landtagspräsidenten Max Greil absolvieren konnte.

Im April 1926 kehrte Fritz Fleischer nach Gera zurück und trat eine Stelle bei Bauer und Schiewe an, wo er der Stellmacherei vorstand. Als die Firma ein Jahr später schloss, überzeugte Fleischer seinen Kollegen Werner Bergner, gemeinsam einen kleinen Betrieb – eine Stellmacherei, Schlosserei und Schmiede – zu übernehmen. Am 1. August 1927 gründeten sie die „Fleischer und Bergner Werkstätte für Karosseriebau“.

Von Schneerutschern zu Pullman-Karosserien – Aufstieg und erste Schicksalsschläge
Die Anfangszeiten waren hart, die Auftragslage schwierig. Neuanfertigungen, meist Last- und Lieferwagenaufbauten in Holzbauweise, waren selten. Eine zündende Idee zur Überbrückung der Wintermonate war die Herstellung von Schneerutschern und Schneeschuhen unter dem Namen „Flyback Sport“, die heute als Ski bekannt sind und sich hervorragend verkauften.

Doch das junge Unternehmen wurde erneut von einem Schicksalsschlag getroffen: Werner Bergner erkrankte an Leukämie und musste den Betrieb verlassen, was das Ende des Unternehmens zu bedeuten drohte. Fritz Fleischer weigerte sich, aufzugeben, auch da er inzwischen Gehilfen und einen Lehrling eingestellt hatte. Um den Betrieb weiterführen zu können, legte er eine Meisterprüfung ab, bei der er eine Pullman-Karosserie auf Benz-Fahrgestell fertigte und mit „vorzüglich“ bestand. Nach Bergners endgültigem Ausscheiden und frühem Tod im Jahr 1930 firmierte das Unternehmen als „Fritz Fleischer Gerer Werkstätten für Karosseriebau“.

Trotz der Weltwirtschaftskrise ging es langsam aufwärts, Fleischers handwerkliche Fähigkeiten sprachen sich herum, weitere Mitarbeiter wurden eingestellt und die Werkstatträume wurden zu klein. Nach seiner Heirat übernahm Luz Tomaswski die Bürotätigkeiten und verstand die Priorität des Geschäfts vor familiären Ausgaben.

Expansion, Krieg und die Stunde Null
Eine Expansion am alten Standort war nicht mehr möglich, daher zog der Betrieb auf das Gelände einer ehemaligen Textilfabrik um, was bessere Arbeitsmöglichkeiten und Platz für größere Fahrzeuge bot. Neue Produkte wie hydraulische Kippaufbauten und ab 1936 erste Campingwagen kamen hinzu. Als auch diese Kapazitäten nicht mehr ausreichten, erwarb Fleischer die ehemalige Rienbeckbrauerei.

Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs sah sich Fleischer als Fachgruppenleiter im Reichsverband der Karosserie- und Fahrzeugbauer dem dringenden Drängen ausgesetzt, Militärfahrzeuge zu bauen. Er lehnte dies jedoch ab, indem er auf den „Wiederaufbau“ seines Betriebs verwies und stattdessen Reparaturen für den Heimatkraftfahrpark Erfurt übernahm, wodurch er als „unabkömmlich“ eingestuft wurde. Dennoch musste er im Auftrag des Militärs Horch-Pullman-Limousinen zu Pritschenwagen umbauen.

Als der Krieg Gera erreichte, wurde die Fabrik bombardiert, Fritz Fleischer schwer verletzt, und sein Zustand galt als hoffnungslos. Nach monatelangem Krankenhausaufenthalt und Genesung stand er im Juni 1945 vor den Trümmern seiner Firma. Doch das Grauen war noch nicht vorbei: Eine Gasexplosion zerstörte kurz darauf alles, was halbwegs intakt geblieben war. Wiederum begann Fleischer mit dem Wiederaufbau, während er noch an Krücken ging. Der entstandene Schaden von 450.000 Mark wurde von der Versicherung nicht übernommen, da es sich um „Kriegsfolgeschäden“ handelte. Mit zusammengetragenen Barackenteilen konnte die Arbeit Ende September 1945 wieder aufgenommen werden.

Persönliche Tragödien und staatliche Repressalien
1946 traf Fritz Fleischer ein weiterer schwerer Schicksalsschlag: Seine geliebte Frau Luz erkrankte schwer und starb. Er stand nun mit Betrieb und vier eigenen Kindern allein da. 1947 fand er in Annelise Krebs ein Kindermädchen und später eine neue Ehefrau, die er 1950 heiratete. Trotz aller Widrigkeiten erhielt er Anerkennung: 1947 wurde er stellvertretender Obermeister der Landesgruppe Stellmacher und in die Gewerbeabteilung des Steuerausschusses der Stadt Gera berufen.

Unter der aufkommenden DDR-Mangelwirtschaft war die Materialbeschaffung das größte Problem. „Einfallsreichtum und absolute Improvisation“ retteten den Betrieb. Doch das Unternehmen wurde zur „Melkkuh“ des Staates und war ständiger Willkür und Sinnlosigkeit staatlicher Stellen ausgesetzt.

• Hausdurchsuchungen: Die Polizei führte dreimal Hausdurchsuchungen durch, um belastendes Material gegen das Privatunternehmen zu finden – alle erfolglos.

• Finanzielle Schikane: 1950 forderte eine Finanzkontrolle eine Nachzahlung von 120.000 Mark zur Einkommenssteuer, wovon nach Einsprüchen 24.000 Mark übrig blieben.

• „Aktion Hose“: Im Jahr 1953 begann eine landesweite Verhaftungs- und Enteignungswelle. Fritz Fleischer wurde von der Kripo abgeholt und inhaftiert, ohne dass Gründe für seine Verhaftung konstruiert werden konnten. Er erhielt eine Woche Einzelhaft in einem dunklen Loch.

• Schauprozess: In einem Schauprozess am 10. Juli 1953 wurde ihm „lächerliche Schrotthortung“ vorgeworfen. Seine Mitarbeiter und die Betriebsgewerkschaftsleitung bezeugten jedoch, dass der Betrieb davon existierte. Es wurde sogar bewiesen, dass der Treuhänder über Fleischers Vermögen, Johannes Butnik, selbst viel Material ausgebaut und zum Schrotthandel gebracht hatte. Die Anklage brach zusammen, und Fritz Fleischer wurde freigesprochen.

Während seiner Abwesenheit fehlte es an Geld, und er musste einen Kredit von 50.000 Mark aufnehmen. Dennoch wuchs die Belegschaft wieder an, und jedes Jahr wurden etwa 12 Lehrlinge eingestellt, auch solche ohne Schulabschluss.

Innovation und der Weg zum Omnibusbauer
In den Nachkriegsjahren begann Fleischer, neben Reparaturen, mit der vollständigen Neukleidung von Personenwagen. Restbestände der Armee, wie der VW Typ 82 (Kübelwagen), wurden in neue Coupés und Cabrios umgebaut und waren in Ost- und Westdeutschland sehr gefragt, besonders wegen ihrer Geräuscharmut. Bereits 1949 wagte sich Fritz Fleischer an siebensitzige Kleinbusse auf modifizierten Kübelwagenfahrgestellen – noch vor dem ersten VW Transporter Typ 2.

Die Idee des Campingwagens flackerte wieder auf, und 1959 wurden erste Musterexemplare gezeigt, die Schlafplatz für vier Personen boten. Doch das Hauptaugenmerk lag auf den Großfahrzeugen. Ab 1947 wagte sich Fritz Fleischer mit dem Konstrukteur Martin Seipold an ein neues Terrain: den Omnibusbau. Anfangs wurden gebrauchte oder instandgesetzte Unterteile, oft von Metford (Ford V8), verwendet, da die volkseigene Fahrzeugindustrie keine neuen Chassis bereitstellen konnte.

Fleischer war Vorreiter in vielen Bereichen des Busbaus:
• Designintegration: Schon Ende der 40er Jahre integrierte er die Haubengestaltung in das Gesamtkonzept, was die Busse modern wirken ließ.

• Dachrandverglasung: Frühzeitig setzte er auf die Dachrandverglasung für ein schöneres Aussehen und hellen Innenraum.

• Eigenproduktion: Viele Teile wie Zierleisten und Sitze wurden im Werk selbst hergestellt.

• Ganzstahlausführung: Bereits 1954 gab es den ersten Bus in Ganzstahlausführung, wobei Profile selbst hergestellt wurden, um vom Holzaufbau wegzukommen.

Die Produktionskapazität lag in den 50er Jahren bei beachtlichen einem Bus pro Woche, alles in Handarbeit gefertigt.

Der Weg zur Verstaatlichung und die Fleischer-Busse S1, S2, S3, S4, S5
Unter staatlichem Druck erklärte sich Fritz Fleischer 1958 bereit, unter staatlicher Beteiligung zu arbeiten, ein Schritt, der die vollständige Verstaatlichung auf lange Sicht nicht mehr abwenden konnte.

In der DDR war der Bedarf an Omnibussen ungesättigt. 1959 verschärfte sich die Situation, als die Produktion des Schwerlast-LKWs H6 und des Busses H6B eingestellt werden sollte. Dies war die Chance für Fritz Fleischer, eigene Omnibusse zu bauen, auch wenn Fachwissen bei Motoren und Fahrwerk fehlte. Die Zusammenarbeit mit Martin Seipold ermöglichte den Bau von selbsttragenden Karosserien, ein Unterfangen, das in der DDR aufgrund fehlender Zulieferbetriebe sehr schwierig war. Optische Parallelen zu Setra-Bussen aus Ulm waren eher dem Zeitgeschmack geschuldet.

• „Urfleischer Bus“ (S1): Am 12. April 1958 wurde der erste selbsttragende Omnibus an die Firma Michael Grauer ausgeliefert. Antrieb und Achsen stammten zunächst von einem Opel Blitz, später wurden H6B-Teile verwendet. Fleischers interne Typbezeichnung S1 setzte sich für das erste Modell durch.

• Fleischer S2: In Zusammenarbeit mit der BVG Berlin entstand der S2, der bereits im Spätsommer 1959 in Berlin auf Stadtrundfahrten zu sehen war. Er lehnte sich stilistisch an den S1 an, hatte ein H6-Bremssystem und später eine Lenkhilfe. Der 150 PS Horch-Dieselmotor, produziert im Dieselmotorenwerk Schönebeck, fand erstmals im Heck seinen Platz.

• Fleischer S3 (Stadtbus): Die BVG Berlin vergab einen Entwicklungsauftrag für Stadtbusse an Fleischer. Der S3 zeichnete sich durch einen tiefen Einstieg und flachen Fahrzeugboden aus, hatte 27 Sitz- und 40 Stehplätze. Insgesamt erhielt die BVG sechs Fahrzeuge dieses Typs.

• Fleischer S2 RU (Reparaturumbau): Ein Gesetz von 1963 untersagte die Vermehrung des Fahrzeugbestandes, sofern kein volkswirtschaftliches Interesse vorlag. Neue Busse mussten als Reparaturumbau deklariert werden, und ein alter H6-Bus musste ausgesondert werden. Der S2RU bot Luxus pur mit Radio, Tonband, Fernseher, Bordküche, Toilette und Tischen. Die Produktion des S2RU musste 1971 eingestellt werden, da nach dem Auslaufen des IFA H6B keine Ersatzteile mehr verfügbar waren.

• Fleischer S4: Ein neues, eckigeres Designprojekt, das 1968 in volle Fahrt kam und nicht als Reparaturumbau deklariert wurde. Es sollte W50-Komponenten nutzen, doch die Lieferung der W50-Teile wurde von Ludwigsfelde eingestellt, da man sie für den ungarischen Ikarus 211 benötigte. Nur 30 Einheiten des S4 verließen das Gerer Werk, obwohl der Bau einzelner S4 bis zur politischen Wende weitergeführt wurde.

• Fleischer S5: Um den Mangel an Ersatzteilen zu beheben, griff man auf Ikarus-Komponenten zurück. Der erste S5, mit 48 Sitz- oder 38 Liegesitzen, Kaffeemaschine, Kühltruhe, Tonband und WC, wurde 1971 ausgeliefert. Der letzte Fleischerbus, ein S5, entstand offenbar im August 1990.

Das Ende einer Ära und ein bleibendes Vermächtnis
Im Jahr 1972 drängte die DDR-Regierung auf die Überführung von Industriebetrieben in Volkseigentum. Fritz Fleischer wurde gezwungen, sein Unternehmen zu verkaufen, und die „Fleischer Karosserie und Fahrzeugfabrik“ ging am 17. April 1972 in den VEB Karosseriebau Gera über. Obwohl ihm zunächst die Leitung des volkseigenen Betriebs angeboten wurde, erhielt er bereits am 15. Oktober 1973 im Alter von 70 Jahren seine Abberufung als Werkdirektor. Sein Neffe Rolf Fleischer übernahm später eine leitende Position, doch die notwendigen Investitionen blieben aus, und die Betriebe verfielen.

Fritz Fleischer starb am 1. September 1989, kurz vor dem Mauerfall. Seine Geschichte ist ein Zeugnis von Willensstärke, Innovationskraft und der Fähigkeit, trotz größter Niederlagen immer wieder aufzustehen und von vorne anzufangen.

Heute bewahren Liebhaber und Vereine die noch existierenden Fleischerbusse als kulturelles Erbe und Zeichen des Respekts vor diesem bemerkenswerten Mann. Ein 1987 gebauter Fleischer S5, einer der letzten aus Gera, wird heute für besondere Fahrten und Hochzeiten eingesetzt, motorisiert mit einem 190 PS starken Bäcker-Dieselmotor und Ikarus-Komponenten. Die Bücher von Christian Suer und die Arbeit der Interessengemeinschaft historische Omnibusse international tragen dazu bei, das Vermächtnis Fritz Fleischers lebendig zu halten und seine Busse für die Nachwelt zu bewahren.

Die Geschichte der DDR-Ferienheime und eine unerwartete Wiedergeburt

0

Oberwiesenthal, Erzgebirge – Während wir heute mühelos online das perfekte Hotel für den nächsten Urlaub buchen können, war die Ferienplanung in der DDR eine ganz andere Angelegenheit. Ein Blick zurück auf die Ära der Ferienheime offenbart ein System, das tief in der sozialistischen Ideologie verwurzelt war und mit dem Fall der Mauer ein abruptes Ende fand. Doch inmitten verfallener Ruinen gibt es in Oberwiesenthal ein bemerkenswertes Beispiel, das zeigt: Es geht auch anders.

Urlaub nach Plan: Das System der DDR-Ferienheime
In der Deutschen Demokratischen Republik war der Tourismus zu 60 Prozent über Betriebe und staatliche Institutionen organisiert. Die Verfassung sah den bezahlten Jahresurlaub vor, und nach dem Vorbild der Sowjetunion sollten so Verdienste für Betrieb und Partei belohnt sowie die sozialistische Haltung der Bürger gefördert werden. Der Grundstein für dieses System wurde am 10. Februar 1953 mit der „Aktion Rose“ gelegt. Diese staatliche Maßnahme führte zur Verstaatlichung von Hotels, Ferienheimen und anderen Dienstleistungsunternehmen, vor allem an der Ostseeküste. Über 400 Unternehmer wurden wegen angeblichen Verstoßes gegen das Volkseigentumsgesetz verhaftet, und über 400 Hotels sowie 180 weitere Einrichtungen im Wert von über 30 Millionen Mark wurden beschlagnahmt.

Damit wurde die Basis für den 1947 gegründeten FDGB Feriendienst geschaffen, der zum drittgrößten Anbieter staatlicher Unterkünfte avancierte. Die größten Anbieter waren jedoch die Betriebe selbst mit ihren eigenen Ferienheimen, gefolgt von staatlichen Campingplätzen.

Ein Urlaub war kein Selbstläufer: Bürger der DDR mussten sich für Aufenthalte in den Ferienheimen bewerben, wobei besonders Verdiente schneller den Zuschlag erhielten. Ziel war es, das Gemeinschaftsgefühl und die sozialistische Haltung der Bürger zu stärken. Neben den regulären Ferienheimen gab es auch Pionierlager und später Jugendtourist-Angebote, primär für FDJ-Mitglieder, um Kinder früh an das sozialistische System zu binden.

Jedes Jahr unternahmen knapp 80 Prozent der DDR-Bürger eine Urlaubsreise, die meist 13 Tage dauerte und zu 80 bis 90 Prozent im Inland stattfand. Beliebte Ziele waren die Ostseeküste, der Thüringer Wald, das Elbsandsteingebirge und das Erzgebirge, wo Hunderte von betrieblichen und staatlichen Ferienheimen entstanden. Im Jahr 1975 gab es beispielsweise über 1220 FDGB-Ferienheime und über 520 staatliche Campingplätze. Die Reisen waren stark subventioniert – mit jährlich knapp 2 Milliarden Mark – sodass Urlauber lediglich ein Drittel der tatsächlichen Kosten tragen mussten. Dies geschah oft mittels sogenannter Ferienchecks, die im Urlaubsort gegen Unterkunft und Verpflegung eingelöst wurden.

Das abrupte Ende nach der Wende
Mit dem Mauerfall 1989 und der Wiedervereinigung ein Jahr später kam das System der betrieblich und staatlich organisierten Ferienheime zu einem abrupten Ende. Viele der Immobilien wurden über die Treuhand an private Gesellschaften verkauft oder einfach aufgegeben. Insbesondere Regionen wie der Thüringer Wald litten massiv unter dem Wegfall der Ferienheime; hier wurden nur sehr wenige von anderen Betreibern übernommen.

In den ersten Jahren nach der Wende waren andere Urlaubsziele für die Bürger attraktiver und auch erschwinglicher geworden, was den Niedergang zusätzlich beschleunigte. Ein Beispiel dafür ist die ehemalige Hotelkette Euromill, die etliche Ferienheime übernommen hatte, aber bereits 1994 Insolvenz anmelden musste. Zwar wurden einige Anlagen von der späteren Ahorn Hotelgruppe übernommen, doch ein Großteil musste geschlossen werden.

Von den rund 1200 Ferienheimen existiert heute nur noch eine Handvoll. Einige wurden umfunktioniert und dienen nun als Seniorenheime oder Jugendherbergen. Auch die Besitzverhältnisse der nach der Aktion Rose enteigneten Eigentümer wurden neu geklärt; viele ehemalige Besitzer wurden auf Antrag rehabilitiert, aber nicht für den materiellen Verlust entschädigt. Eine Rückübertragung war in der Regel nicht möglich, und die Option des Rückkaufs zum Verkehrswert konnten sich viele nicht leisten. Bis heute stehen zahlreiche ehemalige Ferienheime leer und verfallen, oft mit der kompletten Einrichtung im Inneren.

Ein Lichtblick in Oberwiesenthal: Die Wiedergeburt der Wismut AG
Doch es gibt auch positive Ausnahmen. Ein beeindruckendes Beispiel ist das ehemalige Ferienheim der Wismut AG in Oberwiesenthal, direkt am Fuße des Fichtelbergs. Ursprünglich 1911 als Sporthotel errichtet und später als Lazarett im Zweiten Weltkrieg genutzt, übernahm die Wismut AG das Haus 1955 und führte es als Ferienheim weiter. Nach dem Bau der Mauer wurde Oberwiesenthal zu einem bedeutenden Wintersportort in der DDR, und das Ferienheim beherbergte zahlreiche Spitzensportler.

Auch dieses Objekt ereilte das Schicksal vieler anderer: Nach der Übernahme durch Euromill im Jahr 1990 wurde es 1994 endgültig geschlossen und dem Verfall preisgegeben. Bei einem Besuch im Jahr 2020 fanden Dirk und Daniel Fohrmann vom YouTube-Kanal „Doku Jäger“ das Hotel in einem katastrophalen Zustand vor; ein Abriss war damals bereits beschlossene Sache, da kein Investor gefunden werden konnte.

Doch nur ein Jahr später, 2021, wurde bekannt, dass die Chemnitzer Faser AG das Gebäude kaufen und komplett sanieren möchte. Im Jahr 2022 begann die Renovierung des Bettenhauses, wo etwa 70 Apartments entstehen sollen. Seit Ende 2024 sind die Apartments im ehemaligen Bettenhaus bereits buchbar, und das ältere Hauptgebäude wird ebenfalls saniert.

Dieses Projekt in Oberwiesenthal, heute bekannt als Hotel „Summit of Saxony“, ist ein leuchtendes Beispiel dafür, dass es auch anders gehen kann. Es zeigt, wie aus einem vergessenen Relikt der DDR-Geschichte wieder ein lebendiger Ort der Erholung entstehen kann, auch wenn dies nur in sehr wenigen Fällen gelingt. Es ist eine Geschichte von Verlust und Verfall, aber auch von der Hoffnung auf eine zweite Chance für ein Stück ostdeutscher Geschichte.

Vergessen im „Goldenen Westen“: Heimkinder der DDR nach der Wende

0

Erfurt, Thüringens größte Stadt, bekannt für ihren Dom und die Severi-Kirche, hat seit der Wende am 9. November 1989 eine neue, traurige Berühmtheit erlangt: Sie ist die Stadt, in der die meisten Kinder in Heimen leben, weil ihre Väter und Mütter sie verlassen haben. Nicht einfach irgendwohin, sondern in den sogenannten „goldenen Westen“. Rund 100 Kinder in der gesamten DDR, vom Säugling bis zum 16. Lebensjahr, erleben derzeit dieses Schicksal.

Die Heime, in die die Kinder über Nacht von der Polizei oder dem Jugendamt eingewiesen wurden, sind weit um die historische Altstadt verstreut. Die Reportage blickt hinter die Mauern dieser Einrichtungen und gibt den zurückgelassenen Kindern eine Stimme.

Zerbrochene Familien, zerstörte Hoffnungen
Die Geschichten der Kinder sind erschütternd und offenbaren tiefe seelische Wunden:

• Enrico und Sven, beide 16 Jahre alt, wurden morgens von ihrer Mutter mit den Worten geweckt: „Die Grenzen sind offen, schlaft nur weiter, ich gehe mal rüber gucken.“ Sie kam nie wieder. Sven empfindet heute tiefen Groll: Er würde seine Mutter nicht einmal ansehen, sondern ihr den Rücken zukehren für das, was sie ihnen angetan hat. Er würde nicht zu ihr in den Westen gehen, da sie ihre eigene Freiheit wollte und sie nicht Bescheid gesagt hatte. Enrico vermisst seinen Opa und seine Oma, aber zu seiner Mutter gibt es keine Aussicht mehr.

• Sebastian, ebenfalls 16 und im selben Heim, ist oft depressiv. Seine Mutter ist bereits vor der Wende „abgehauen“ und hat in ihm „alles zerstört“. Er spricht nur ungern über seine Gefühle und verzeiht seiner Mutter nicht, dass sie in den Westen gegangen ist.

• Manuela wartet sehnsüchtig auf ihren Vater, der ihr in einem Brief versprach, hundertprozentig im Januar zu kommen, sobald alle Papiere da seien. Er schrieb, es sei vielleicht besser so für sie, sie solle ihre Lehre machen, und erwähnte eine neue Wohnung mit Bad und Warmwasser im Westen. Doch die letzten Zeilen waren eine Lüge – ihr Vater hat sich bis heute nicht gemeldet.

• Der fünfjährige Thomas wurde von seiner Mutter „abgeschoben“, weil er sich zu einem spastisch gehbehinderten Kind entwickelte. Die Mutter floh „feige“ in den Westen und beauftragte ihren Freund, Thomas ins Heim zu bringen. Der Freund setzte den Jungen einfach auf den Schreibtisch der Heimleiterin. Thomas wartet seit Wochen sehnsüchtig auf seine Mutter, da ihm gesagt wurde, sie sei im Urlaub – eine notwendige Lüge, da er die Wahrheit wohl nicht verkraftet hätte.

• Auch der zweijährige Danny wurde mit seinen beiden älteren Brüdern alleingelassen. Morgens fanden sie einen Zettel der Mutter auf dem Küchentisch: „Bin nach Westberlin, Essen ist im Kühlschrank“. Nachbarn brachten die drei zur Polizei. Danny muss sich nun morgens allein anziehen, niemand hilft ihm mehr, niemand nimmt ihn in die Arme oder streichelt ihn. Er weint sich abends oft in den Schlaf und ist nur wenige Minuten glücklich, wenn er seinen zwei Jahre älteren Bruder Markus im Waschraum trifft. Markus, der älteste, liegt nachts lange wach, kann nicht einschlafen und sucht nach einer Erklärung für das Verhalten seiner Mutter, die er bisher nicht gefunden hat. Er möchte seine Mutter anrufen und schreiben, kennt aber weder Nummern noch Adressen.

• Der 12-jährige Andreas erfuhr von seinem Vater, dass seine Mutter mit seinem Bruder in den Westen gefahren war. Er fühlt sich im Heim „gut“ und hat Freunde gefunden, doch die Schule läuft nicht gut und im Heim wird viel gestohlen und kaputt gemacht. Er fragt sich, warum seine Mutter ihn alleine gelassen hat und sucht täglich nach der richtigen Erklärung.

Überforderte Heime, fehlende Unterstützung
Die Heimerzieher in der DDR sind zu wenige und durch die hohe Anzahl der zurückgelassenen Kinder überfordert. Obwohl sie sich größte Mühe geben, können sie das Elternhaus nicht ersetzen. Viele Jugendliche warten noch immer auf Post oder Nachrichten von ihren Eltern, die in die Bundesrepublik gegangen sind.

Eine Heimleiterin fordert dringend ein Rechtshilfeabkommen zwischen beiden deutschen Staaten. Dies würde eine schnelle und unkomplizierte Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden, Polizei und Jugendämtern ermöglichen. Ziel ist es, gewissenlose Väter und Mütter in der Bundesrepublik aufzuspüren und wegen Vernachlässigung ihrer Fürsorgepflicht unter Strafe zu stellen. Solche Eltern, die ihre wehrlosen Kinder „wie ein weggeworfenes Paket“ zurücklassen, müssten durch ein solches Abkommen wieder an die DDR ausgeliefert werden. Ohne dies gehen die Eltern kein Risiko ein und können ihre Kinder einfach abschieben und vergessen.

Das Versagen des Systems
Ein gravierendes Problem liegt auch in den Anreizen des Westens: Eltern erhalten bei der Übersiedlung bis zu 6000 Mark zinsloses Darlehen und zusätzlich 3000 Mark von der Bundesrepublik als sogenannte Eingliederungshilfe. Diese Hilfen werden gewährt, ohne zu prüfen, ob die in den elterlichen DDR-Papieren aufgeführten Kinder auch tatsächlich mitgenommen werden. Solange dies so bleibt, werden weitere Kinderschicksale dieser Art entstehen.

Der Fall Andreas: Eine bittere Wahrheit
Im Fall des 12-jährigen Andreas suchten Reporter seine Mutter und fanden sie in einem kleinen Ort bei Celle in der Bundesrepublik, arbeitslos und zur Untermiete wohnend. Als ihr Aufnahmen ihres Sohnes vorgespielt wurden, reagierte sie ungerührt. Sie erklärte, Andreas sei „bockig“ gewesen, habe schon im Kindergarten Probleme gemacht und in der Schule seine Hausaufgaben nicht erledigt. Es stellte sich heraus, dass sie seine Adoptivmutter war, aber dieselben Rechte und Pflichten hatte wie eine leibliche Mutter. Dennoch wirkte ihre Flucht in den Westen wie eine passende Gelegenheit, den Jungen ins Heim abzuschieben. Andreas ist noch heute im Heim.

Es ist höchste Zeit, diesen seelisch geschädigten, wehrlosen Kindern zu helfen, aus ihrem „unzumutbaren, anonymen Heimleben“ herauszukommen und ein menschenwürdiges Zuhause zu finden. Dies geschieht jedoch nur, wenn die Eltern sich freiwillig melden, ihre Kinder reumütig zurückholen oder sie schriftlich gegenüber dem Heim adoptieren lassen. Nur dann haben diese Kinder vielleicht eine hoffnungsvollere Zukunft.

Die NVA warnt: „Deutsche schießen auf Deutsche“ – Das Training zur Panzerabwehr im Kalten Krieg

0

Ein Lehrfilm der Nationalen Volksarmee (NVA) enthüllt die ernste Vorbereitung auf einen möglichen Panzerangriff der Bundeswehr gegen die Deutsche Demokratische Republik, unter dem düsteren Motto: „Deutsche schießen auf Deutsche…“. Diese Ausbildung war ein zentraler Pfeiler der Verteidigungsstrategie gegen eine als unmittelbar und aggressiv wahrgenommene Bedrohung aus dem Westen.

Die NVA sah in den westdeutschen Streitkräften einen potenziellen Angreifer, dessen Absicht, „gegen uns vorerst in Manöver hier erproben sie die Varianten des Überfalls auf unser sozialistisches Vaterland“, klar sei. Manöver wie „Schwarzer Löwe“ im September 1968, bei dem 16.000 Rad- und Kettenfahrzeuge zum Einsatz kamen und Starfighter sowie Kampfflugzeuge G91 Angriffe mit Raketen und erstmals auch Napalmbomben simulierten, wurden als Beweis für eine „Vorwärtsstrategie“ gewertet. Diese Strategen, ermutigt durch „zeitweilige Erfolge der israelischen Aggressoren“, spekulierten laut NVA mit einem „begrenzten konventionellen Blitzkrieg“, für den Panzer als „Stoßkeile für ihre Aggression“ dienten.

NVA’s Defensive Strategie
Die NVA bereitete sich darauf vor, solche Angriffe abzuwehren. Zunächst ging es darum, „einen Gegenangriff abzuschlagen“ durch den Einsatz von „schweren panzerbrechenden Waffen“, darunter Panzerabwehrkanonen und Panzerbüchsen, die „die Mehrzahl der angreifenden Panzer des Gegners unter Feuer“ nehmen sollten. Doch die NVA erkannte auch, dass im „modernen Gefecht keine durchgehenden Frontlinien“ existierten und gegnerische Panzer „in unseren rückwärtigen Raum durchbrechen“ konnten. Daher war die Sicherung von Bauvorhaben im rückwärtigen Raum, beispielsweise zur Wiederherstellung zerstörter Straßenabschnitte, mit Panzerbüchsen und Panzerhandgranaten unerlässlich.

Der Nahkampf mit Panzern: Eine psychologische Herausforderung
Wenn Panzer in die eigenen Stellungen einbrachen, wurde der Nahkampf unausweichlich. Oberstleutnant Schäfer, ein erfahrener Soldat, der selbst „gegnerischen Panzern gegenüber gestanden“ hatte – zwar nicht auf dem Gefechtsfeld, aber in einer direkten Konfrontation mit amerikanischen Panzern nach dem 13. August 1961 an der Staatsgrenze zu Westberlin – sprach von der immensen psychologischen Wirkung. Er beschrieb, wie die Panzermassen **“eine starke psychologische Wirkung auf den einzelnen aus“**übten. Der Anblick einer Kanone, mehrerer schwerer Maschinengewehre und die massive Panzerung, die den Panzer als „Koloss“, als „uneinnehmbare Festung“ erscheinen ließ, konnten schnell den Eindruck der eigenen Machtlosigkeit erwecken. Auch die „Geländegängigkeit“ und das „anschwellende Geräusch des Motors, das lauter werdende der Rasseln der Ketten“ konnten „einen unerfahrenen Soldaten in Angst versetzen und ihn damit handlungsunfähig machen“.

Den Panzer besiegen: Mut und Taktik
Doch die NVA lehrte, dass diese Angst überwunden werden musste. Entscheidend sei, die scheinbaren Vorteile des Panzers im Nahkampf zu dessen Nachteilen umzukehren. Die Feuerkraft und starke Bewaffnung seien gegen den Panzer-Nahkämpfer auf kürzester Distanz nutzlos. Die massive Größe und Panzerung führten zu einer „Sichtbehinderung“ für die Besatzung und machten den Panzer selbst zu einem „gut zu treffenden Ziel“. Für Sekunden sei der Panzer dem Nahkämpfer „völlig ausgeliefert“, und diese Chance müsse genutzt werden.

Dies erforderte vom NVA-Soldaten „Mut, feste politisch-moralische Haltung, Standhaftigkeit“ und das Bewusstsein, gemeinsam mit seinen Genossen zu siegen. „Ruhe und Kaltblütigkeit“ waren nötig, um im richtigen Moment die Panzerhandgranate zu werfen – das „wichtigste Kampfmittel gegen Panzer“.

Die Panzerhandgranate: Präzision und Wirkung
Die Handhabung der Panzerhandgranate wurde akribisch trainiert: Abschrauben des Stieles, Einsetzen der Zündladung, Aufschrauben des Stieles, Einnehmen in die Wurfhand, Drücken der Sicherungsschiene, Zusammenbiegen der Enden des Sicherungssplintes mit der freien Hand und Herausziehen des Sicherungssplintes. Diese Griffe mussten schnell und sicher beherrscht werden, um den „heranrollenden Gegner ständig beobachten“ zu können.

Die Panzerhandgranate besaß einen Stabilisierungsfallschirm, der unmittelbar nach dem Wurf, sobald sich die Sicherungsschiene gelöst hatte, herausgedrückt wurde. Dieser Fallschirm war entscheidend, da er die Granate „mit ihrer Stirnseite und im günstigsten Winkel auftreffen“ ließ, sodass die Hohlladung „die Panzerung durchschlagen“ konnte. Die NVA versicherte: „Du kannst Vertrauen haben zur Panzerhandgranate, denn es gibt keinen gegnerischen Panzertyp, der nicht mit ihr vernichtet werden könnte“ – und das unabhängig davon, „an welcher Stelle der Panzerung du den Gegner triffst“.

Taktiken im Panzernahkampf:
Die NVA schulte ihre Soldaten darin, die Nachteile des Panzers auszunutzen:

• Deckung und Tarnung: Der Soldat sollte das Gelände geschickt zur Deckung nutzen und „unerkannt“ bleiben, da die Besatzung des Panzers „weniger sieht“ und nur „große Objekte und auffällige Bewegungen“ erkennen kann.

• Wurfweite und Toter Winkel: Die optimale Wurfweite betrug 15 bis 20 Meter, was bedeutete, sich „dicht vor dem toten Winkel der Bewaffnung und Beobachtung des Gegners“ zu positionieren.

• Angriffsvarianten:
◦ Seitlicher Angriff: Als beste und sicherste Variante galt, in Deckung zu bleiben, bis der Panzer „seitlich an dir vorbeigerollt ist“, um ihn dann anzugreifen.
◦ Frontaler Angriff: Falls ein Stellungswechsel nicht möglich war, konnte der Panzer auch von vorn angegriffen werden, da die Granate „auch den stark gepanzerten Bug des Gegners durchschlägt“.
◦ Angriff von hinten: Die Erfahrungen zeigten, dass es noch besser war, sich „überrollen zu lassen“ und den Panzer „direkt von hinten anzugreifen“, um die Treffsicherheit zu erhöhen.

• Nach dem Wurf: Nach der Detonation musste der Soldat bereit sein, die „eventuell ausbootende Panzerbesatzung mit seiner MP zu vernichten“.

Teamwork ist entscheidend:
Obwohl der Nahkampf oft ein Duell zu sein schien, wurde betont: „Allein bist du nicht“. Die Genossen der Gruppe deckten den Nahkämpfer, denn bei gedecktem Vorgehen war nicht der Panzer selbst, sondern die „ihn begleitende Infanterie“ die primäre Gefahr. Die Kameraden hatten die Aufgabe, „die Infanterie vom Panzer zu trennen“, sie durch gezieltes Feuer zu vernichten und Feuerschutz zu geben.

„Die Panzernahbekämpfung ist fester Bestandteil im System der Panzerabwehr“, so die klare Botschaft. Jeder Soldat musste sie erlernen, trainieren und beherrschen, denn „der Sieg hängt von dir, von deiner Überzeugung, von deinem Willen, von deinem Können, von deinem Mut zum Sturmangriff ab“. Es war eine nüchterne, aber entschlossene Vorbereitung auf einen Konflikt, der die DDR bis in die hintersten Reihen zu erreichen drohte.