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Wie die UdSSR die DDR zum bitteren Olympiaboykott zwang

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Los Angeles, 1984. Unter strahlender kalifornischer Sonne sollen die ersten privat organisierten Sommerspiele der Geschichte zu einer „ganz großen Show“ mit Hollywood-Feeling werden. Doch für eine der weltweit führenden Sportnationen, die Deutsche Demokratische Republik (DDR), wird der Medaillenkampf zum Albtraum: Das DDR-Team, das vier Jahre lang hart für den Traum von Olympia-Gold trainiert hatte, gerät im Frühjahr 1984 in den Strudel der Weltpolitik. Trotz immenser Vorbereitung und weltweiter Anerkennung als Sportgroßmacht mussten die ostdeutschen Athleten dem politischen Druck weichen und blieben den Spielen fern.

Die DDR: Eine Sportmacht auf ihrem Höhepunkt
Anfang der 1980er Jahre war die DDR „sportlich gesehen weltführend“ und galt als „Sportgroßmacht“. Nicht nur in der Leichtathletik, sondern auch im Radsport, Schwimmen oder Kanu führte kaum ein Weg an den Ostdeutschen vorbei. Selbst in Sportarten wie Fechten, Gewichtheben oder Boxen sahen Experten beste Aussichten auf Edelmetall. Peter Ueberroth, der Organisationschef der Olympischen Spiele 1984, bezeichnete das DDR-Team in seinen Memoiren sogar als das „bestvorbereitete Team“. Rechnet man die Medaillen der DDR-Sportler auf die Bevölkerungszahl um, war die DDR wohl der erfolgreichste Sportstaat der Welt.

Der Erfolg basierte auf einem professionell durchgeführten Sportsystem, das offiziell als Amateursport galt. Ein ausgeklügeltes Sichtungs- und Ausbildungssystem, gepaart mit optimaler Trainingsmethodik und -betreuung, ließ die DDR anderen Ländern nach Einschätzung eines Experten um zehn Jahre voraus sein. Topathleten wie die Sprinterin Marlies Göhr oder der Kugelstoßer Udo Beyer waren nicht nur sportliche Aushängeschilder, sondern auch „Diplomaten im Trainingsanzug“, die die DDR international bekannter machten. Zwar gehörte auch der Einsatz unerlaubter Mittel wie der „Staatsplan 14.25“ zum DDR-Sportsystem, doch dies wurde damals öffentlich nicht thematisiert, und im Westen wurde laut einem Zeitzeugen mit ähnlichen, wenn auch anders organisierten Mitteln gearbeitet.

Die Stärke der DDR-Sportler zeigte sich eindrucksvoll:
• Im Juni 1983 gewann die DDR einen Leichtathletik-Länderkampf gegen die USA in Los Angeles mit fast 20 Punkten Vorsprung, sogar die ARD übertrug umfangreich. Marlies Göhr schlug die amerikanische Sprinterin Evelyn Ashford in ihrem „eigenen Stadion“, und Kugelstoßer Udo Beyer stellte trotz Fußverletzung einen neuen Weltrekord mit 22,22 Metern auf.

• Nur wenige Monate zuvor, im Februar 1984, führte die DDR bei den Olympischen Winterspielen in Sarajevo erstmals den Medaillenspiegel an, vor der Sowjetunion und den USA, mit neun Gold-, neun Silber- und sechs Bronzemedaillen.

Diese Erfolge nährten hohe Erwartungen an die Sommerspiele in Los Angeles.

Schatten des Kalten Krieges: Der Boykott kündigt sich an
Die Euphorie wurde jedoch von einer angespannten politischen Lage überschattet. Nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 und der sowjetischen Invasion in Afghanistan spitzte sich der Kalte Krieg zwischen der UdSSR und den USA zu. US-Präsident Ronald Reagan sah die Sowjetunion als das „Reich des Bösen“. Der amerikanische Boykott der Moskauer Spiele 1980, an dem sich die Bundesrepublik Deutschland und weitere 62 Länder beteiligten, war eine klare politische Reaktion. Schon damals gab es die Befürchtung, dass der Ostblock vier Jahre später einen Gegenboykott starten würde.

Im Vorfeld der Spiele in Los Angeles 1984 spitzte sich die Situation weiter zu:
• In den USA gab es eine „gewaltige Kampagne“, die die Teilnahme der sowjetischen Mannschaft verhindern sollte, einschließlich geplanter Reklametafeln, die zum Übertritt sowjetischer Sportler aufrufen sollten.

• Anfang 1984 kam es in den USA immer wieder zu antisowjetischen Demonstrationen.

• Die Verweigerung der Akkreditierung für einen sowjetischen Olympia-Attaché im April 1984, der als Geheimdienstoffizier bezeichnet wurde, eskalierte die Lage weiter.

DDR-Athleten wie Hartwig Gauder spürten die feindselige Stimmung bei Trainingslagern in Mexiko. Dennoch konnten sich die meisten DDR-Sportler und sogar Funktionäre wie Volker Kluge, Pressesprecher des DDR-NOK, einen Boykott nicht vorstellen, da die DDR „politisch interessiert an der Ausstrahlung [war], die mit den sportlichen Erfolgen ja zweifellos verbunden waren“.

Manfred Ewalds Kampf gegen den unvermeidlichen Beschluss
Die DDR-Sportführung wollte unbedingt in Los Angeles starten. NOC-Präsident Manfred Ewald, der insgeheim davon träumte, Nachfolger von IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch zu werden, versuchte, die Teilnahme der DDR zu sichern. Er ging sogar in die Offensive und sandte einen offenen Brief an den amerikanischen Cheforganisator Peter Ueberroth, um Verletzungen der Olympischen Charta durch die USA anzuprangern.

Ewald hatte sogar einen kühnen Plan: Er wollte lediglich 40 bis 50 Einzelsportler entsenden, um sicher Goldmedaillen zu holen, und hatte dafür sogar die Rückendeckung von IOC-Chef Samaranch erhalten.

Doch Ewalds Bemühungen wurden auf höchster Ebene abgeschmettert. Die UdSSR drohte der DDR, „den Ölhahn abzudrehen“, sollte sie nicht dem Boykott folgen. Honecker soll Ewald direkt konfrontiert haben: „Manfred, willst du verantworten, dass es in der DDR Arbeitslose gibt?“.

Am 8. Mai 1984, dem Tag des Sieges, gab das sowjetische NOC offiziell bekannt, aus Sicherheitsgründen nicht an den Spielen teilzunehmen.

Diese „sehr wohl kalkulierte“ Entscheidung galt als direkte Antwort auf den Boykott von 1980. Stunden später schloss sich die DDR an. Die offizielle Erklärung des Nationalen Olympischen Komitees der DDR sprach von „keinen regulären Bedingungen“ für eine Teilnahme. Hinter den Kulissen war die „eingehende Beratung“ und die „einstimmige“ Beschlussfassung jedoch ein „Fake“, da es „niemals einen Beschluss gegeben“ hatte, die DDR-Sportler nicht zu schicken.

Ein zerbrochener Traum: Das Leid der Sportler
Für die Topstars der DDR war die Nachricht vom Boykott ein Schock. Marlies Göhr, die sich in ihrem sportstärksten Jahr befand und vier Jahre trainiert hatte, war so wütend und enttäuscht, dass sie ihren „Ausweis der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft genommen und den verbrannt“. Waldemar Cierpinski, zweifacher Marathon-Olympiasieger und Hoffnungsträger für ein drittes Gold, beendete sofort seine Karriere. Er konfrontierte Manfred Ewald in einer Versammlung und erklärte seinen Rücktritt, was Ewald als „demoralisierend“ empfand. Heike Drechsler, die amtierende Weitspring-Weltmeisterin, hätte mit ihrer Bestweite von 7,32 Metern das olympische Gold in Los Angeles (6,66 Meter) locker gewonnen – eine „bittere“ Erkenntnis.

Viele Athleten fühlten sich betrogen, da sie Jahre ihres Lebens auf diesen Höhepunkt hingearbeitet hatten. Olaf Ludwig, der seine Silbermedaille von Moskau 1980 vergolden wollte, empfand große Frustration und Enttäuschung, als er vom Boykott erfuhr. Einige schalteten dennoch Westfernsehen ein, um die Spiele zu verfolgen, mussten dabei aber den Schmerz über die verpasste Chance ertragen.

Als Trostpflaster veranstaltete der Ostblock die „Wettkämpfe der Freundschaft“ – sogenannte Gegenspiele. Die Ergebnisse dieser Wettbewerbe wurden von der DDR-Sportführung wie Olympia-Ergebnisse gewertet, und die Athleten erhielten Prämien und Orden. Doch für viele war dies kein Ersatz für den entgangenen olympischen Ruhm.

Das Erbe des Boykotts
Erst vier Jahre später, bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul, kehrten die DDR-Stars auf die olympische Bühne zurück. Sie belegten erneut den zweiten Platz im Medaillenspiegel, hinter der UdSSR und vor den USA. Für Sportler wie Olaf Ludwig, der dort Gold im Straßen-Einzelrennen gewann, wurde in Seoul der „klassische olympische Gedanke“ wieder lebendig, da „alle da waren“.

Der Olympia-Boykott von 1984 bleibt für viele eine „ganz dunkle Stunde“, in der der Sport gegen die Politik verlor. Für die meisten Athleten ist der Schmerz nach über 40 Jahren verflogen, auch wenn es gedauert hat. Als wertvollstes Zeugnis aus ostdeutscher Sicht bleiben die damals bereits gedruckten, aber nie offiziell herausgegebenen Briefmarken mit Olympiamotiven für Los Angeles 1984 – ein stilles Mahnmal an einen Olympiatraum, der nie wahr wurde.

Fritz Fleischer: Der unbeugsame Karosseriebauer aus Gera

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Gera – Wer sie kennt, spricht oft ehrfürchtig von ihnen: die legendären Reisebusse der einst in Gera ansässigen Fritz Fleischer Konsumgenossenschaft. Doch hinter den innovativen Fahrzeugen verbirgt sich die Geschichte eines Mannes, der zahlreiche Rückschläge erlitt und sich doch immer wieder aufrichtete und neu begann: Fritz Fleischer. Eine akribische Aufarbeitung von Christian Suer, Autor bekannter Kfz-Fachliteratur des ostdeutschen Fahrzeugbaus, wirft ein Licht auf das außergewöhnliche Leben dieses Karosserie- und Fahrzeugbauers.

Frühe Prägung und ein unstillbarer Wissensdurst
Fritz Fleischer wurde am 21. Dezember 1903 in Niedndorf bei Gera geboren. Sein Vater Leonhard erkrankte früh an Tuberkulose und verstarb 1912, als Fritz neun Jahre alt war. Die Mutter Hedwig musste als Landarbeiterin drei kleine Kinder alleine durchbringen und prägte ihre Söhne früh zur Arbeit an. Mit 13 Jahren arbeitete Fritz in einer Pappenfabrik, wo ihm Bücher und Zeitschriften in die Hände fielen, die seinen unstillbaren Wissensdurst weckten. Obwohl das Familienbudget keine höhere Schulbildung zuließ, erhielt er von seinem Lehrer zusätzlichen Unterricht. Ein Studium wurde von der Mutter abgelehnt, sodass Fritz die Schule nach der achten Klasse verlassen musste, die Sonderstunden aber weiterhin erhielt.

Die Faszination für Autos, die damals selten auf den Landstraßen vorbeifuhren, weckte in ihm einen Wunsch, den er zunächst für illusorisch hielt. Er sollte Eisenbahner werden oder Dorfschmied – Berufe, die ihn nicht reizten. Ein Tipp aus dem Familienkreis führte ihn jedoch zu einem Vorstellungsgespräch bei der Kutschwagenfabrik Breitbad und Söhne. Hier konnte er trotz Stellmacherausbildung vielfältige handwerkliche Erfahrungen in Schlosserei, Schmiede, Lackiererei und Sattlerei sammeln. Sein Streben, möglichst viel zu lernen, führte ihn dazu, sich fehlendes Wissen in Fachbüchern über Automobilbau anzueignen.

Wanderjahre, politische Ambitionen und die Rückkehr nach Gera
Nach seiner Gesellenprüfung wechselte Fritz Fleischer Ende 1921 zu renommierten Firmen der deutschen Karosseriebranche wie der Traugot Golde AG und später zur Wagenfabrik Gottläuber und der Maschinenfabrik Friedrich Erdtmann in Gera. Erfahrungen im Fahrzeugbau suchte er bei den Wiesbadener Kruckwerken GmbH, wo er erstmals mit Spezialwagen und Landauern in Holzgerippe-Konstruktion in Berührung kam.

Unerwartet nahm sein Leben eine andere Wendung, als er sich einem Turn- und Sportverein anschloss und mit einer Akrobatengruppe auftrat. Sein Weg führte ihn an die erste Arbeiterakademie nach Frankfurt am Main, wo er Journalist werden wollte. Während er 1925 in ein Karosseriewerk in Frankfurt wechselte, begann er ein Fernstudium an der Universität, das er nur mit Unterstützung des Landtagspräsidenten Max Greil absolvieren konnte.

Im April 1926 kehrte Fritz Fleischer nach Gera zurück und trat eine Stelle bei Bauer und Schiewe an, wo er der Stellmacherei vorstand. Als die Firma ein Jahr später schloss, überzeugte Fleischer seinen Kollegen Werner Bergner, gemeinsam einen kleinen Betrieb – eine Stellmacherei, Schlosserei und Schmiede – zu übernehmen. Am 1. August 1927 gründeten sie die „Fleischer und Bergner Werkstätte für Karosseriebau“.

Von Schneerutschern zu Pullman-Karosserien – Aufstieg und erste Schicksalsschläge
Die Anfangszeiten waren hart, die Auftragslage schwierig. Neuanfertigungen, meist Last- und Lieferwagenaufbauten in Holzbauweise, waren selten. Eine zündende Idee zur Überbrückung der Wintermonate war die Herstellung von Schneerutschern und Schneeschuhen unter dem Namen „Flyback Sport“, die heute als Ski bekannt sind und sich hervorragend verkauften.

Doch das junge Unternehmen wurde erneut von einem Schicksalsschlag getroffen: Werner Bergner erkrankte an Leukämie und musste den Betrieb verlassen, was das Ende des Unternehmens zu bedeuten drohte. Fritz Fleischer weigerte sich, aufzugeben, auch da er inzwischen Gehilfen und einen Lehrling eingestellt hatte. Um den Betrieb weiterführen zu können, legte er eine Meisterprüfung ab, bei der er eine Pullman-Karosserie auf Benz-Fahrgestell fertigte und mit „vorzüglich“ bestand. Nach Bergners endgültigem Ausscheiden und frühem Tod im Jahr 1930 firmierte das Unternehmen als „Fritz Fleischer Gerer Werkstätten für Karosseriebau“.

Trotz der Weltwirtschaftskrise ging es langsam aufwärts, Fleischers handwerkliche Fähigkeiten sprachen sich herum, weitere Mitarbeiter wurden eingestellt und die Werkstatträume wurden zu klein. Nach seiner Heirat übernahm Luz Tomaswski die Bürotätigkeiten und verstand die Priorität des Geschäfts vor familiären Ausgaben.

Expansion, Krieg und die Stunde Null
Eine Expansion am alten Standort war nicht mehr möglich, daher zog der Betrieb auf das Gelände einer ehemaligen Textilfabrik um, was bessere Arbeitsmöglichkeiten und Platz für größere Fahrzeuge bot. Neue Produkte wie hydraulische Kippaufbauten und ab 1936 erste Campingwagen kamen hinzu. Als auch diese Kapazitäten nicht mehr ausreichten, erwarb Fleischer die ehemalige Rienbeckbrauerei.

Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs sah sich Fleischer als Fachgruppenleiter im Reichsverband der Karosserie- und Fahrzeugbauer dem dringenden Drängen ausgesetzt, Militärfahrzeuge zu bauen. Er lehnte dies jedoch ab, indem er auf den „Wiederaufbau“ seines Betriebs verwies und stattdessen Reparaturen für den Heimatkraftfahrpark Erfurt übernahm, wodurch er als „unabkömmlich“ eingestuft wurde. Dennoch musste er im Auftrag des Militärs Horch-Pullman-Limousinen zu Pritschenwagen umbauen.

Als der Krieg Gera erreichte, wurde die Fabrik bombardiert, Fritz Fleischer schwer verletzt, und sein Zustand galt als hoffnungslos. Nach monatelangem Krankenhausaufenthalt und Genesung stand er im Juni 1945 vor den Trümmern seiner Firma. Doch das Grauen war noch nicht vorbei: Eine Gasexplosion zerstörte kurz darauf alles, was halbwegs intakt geblieben war. Wiederum begann Fleischer mit dem Wiederaufbau, während er noch an Krücken ging. Der entstandene Schaden von 450.000 Mark wurde von der Versicherung nicht übernommen, da es sich um „Kriegsfolgeschäden“ handelte. Mit zusammengetragenen Barackenteilen konnte die Arbeit Ende September 1945 wieder aufgenommen werden.

Persönliche Tragödien und staatliche Repressalien
1946 traf Fritz Fleischer ein weiterer schwerer Schicksalsschlag: Seine geliebte Frau Luz erkrankte schwer und starb. Er stand nun mit Betrieb und vier eigenen Kindern allein da. 1947 fand er in Annelise Krebs ein Kindermädchen und später eine neue Ehefrau, die er 1950 heiratete. Trotz aller Widrigkeiten erhielt er Anerkennung: 1947 wurde er stellvertretender Obermeister der Landesgruppe Stellmacher und in die Gewerbeabteilung des Steuerausschusses der Stadt Gera berufen.

Unter der aufkommenden DDR-Mangelwirtschaft war die Materialbeschaffung das größte Problem. „Einfallsreichtum und absolute Improvisation“ retteten den Betrieb. Doch das Unternehmen wurde zur „Melkkuh“ des Staates und war ständiger Willkür und Sinnlosigkeit staatlicher Stellen ausgesetzt.

• Hausdurchsuchungen: Die Polizei führte dreimal Hausdurchsuchungen durch, um belastendes Material gegen das Privatunternehmen zu finden – alle erfolglos.

• Finanzielle Schikane: 1950 forderte eine Finanzkontrolle eine Nachzahlung von 120.000 Mark zur Einkommenssteuer, wovon nach Einsprüchen 24.000 Mark übrig blieben.

• „Aktion Hose“: Im Jahr 1953 begann eine landesweite Verhaftungs- und Enteignungswelle. Fritz Fleischer wurde von der Kripo abgeholt und inhaftiert, ohne dass Gründe für seine Verhaftung konstruiert werden konnten. Er erhielt eine Woche Einzelhaft in einem dunklen Loch.

• Schauprozess: In einem Schauprozess am 10. Juli 1953 wurde ihm „lächerliche Schrotthortung“ vorgeworfen. Seine Mitarbeiter und die Betriebsgewerkschaftsleitung bezeugten jedoch, dass der Betrieb davon existierte. Es wurde sogar bewiesen, dass der Treuhänder über Fleischers Vermögen, Johannes Butnik, selbst viel Material ausgebaut und zum Schrotthandel gebracht hatte. Die Anklage brach zusammen, und Fritz Fleischer wurde freigesprochen.

Während seiner Abwesenheit fehlte es an Geld, und er musste einen Kredit von 50.000 Mark aufnehmen. Dennoch wuchs die Belegschaft wieder an, und jedes Jahr wurden etwa 12 Lehrlinge eingestellt, auch solche ohne Schulabschluss.

Innovation und der Weg zum Omnibusbauer
In den Nachkriegsjahren begann Fleischer, neben Reparaturen, mit der vollständigen Neukleidung von Personenwagen. Restbestände der Armee, wie der VW Typ 82 (Kübelwagen), wurden in neue Coupés und Cabrios umgebaut und waren in Ost- und Westdeutschland sehr gefragt, besonders wegen ihrer Geräuscharmut. Bereits 1949 wagte sich Fritz Fleischer an siebensitzige Kleinbusse auf modifizierten Kübelwagenfahrgestellen – noch vor dem ersten VW Transporter Typ 2.

Die Idee des Campingwagens flackerte wieder auf, und 1959 wurden erste Musterexemplare gezeigt, die Schlafplatz für vier Personen boten. Doch das Hauptaugenmerk lag auf den Großfahrzeugen. Ab 1947 wagte sich Fritz Fleischer mit dem Konstrukteur Martin Seipold an ein neues Terrain: den Omnibusbau. Anfangs wurden gebrauchte oder instandgesetzte Unterteile, oft von Metford (Ford V8), verwendet, da die volkseigene Fahrzeugindustrie keine neuen Chassis bereitstellen konnte.

Fleischer war Vorreiter in vielen Bereichen des Busbaus:
• Designintegration: Schon Ende der 40er Jahre integrierte er die Haubengestaltung in das Gesamtkonzept, was die Busse modern wirken ließ.

• Dachrandverglasung: Frühzeitig setzte er auf die Dachrandverglasung für ein schöneres Aussehen und hellen Innenraum.

• Eigenproduktion: Viele Teile wie Zierleisten und Sitze wurden im Werk selbst hergestellt.

• Ganzstahlausführung: Bereits 1954 gab es den ersten Bus in Ganzstahlausführung, wobei Profile selbst hergestellt wurden, um vom Holzaufbau wegzukommen.

Die Produktionskapazität lag in den 50er Jahren bei beachtlichen einem Bus pro Woche, alles in Handarbeit gefertigt.

Der Weg zur Verstaatlichung und die Fleischer-Busse S1, S2, S3, S4, S5
Unter staatlichem Druck erklärte sich Fritz Fleischer 1958 bereit, unter staatlicher Beteiligung zu arbeiten, ein Schritt, der die vollständige Verstaatlichung auf lange Sicht nicht mehr abwenden konnte.

In der DDR war der Bedarf an Omnibussen ungesättigt. 1959 verschärfte sich die Situation, als die Produktion des Schwerlast-LKWs H6 und des Busses H6B eingestellt werden sollte. Dies war die Chance für Fritz Fleischer, eigene Omnibusse zu bauen, auch wenn Fachwissen bei Motoren und Fahrwerk fehlte. Die Zusammenarbeit mit Martin Seipold ermöglichte den Bau von selbsttragenden Karosserien, ein Unterfangen, das in der DDR aufgrund fehlender Zulieferbetriebe sehr schwierig war. Optische Parallelen zu Setra-Bussen aus Ulm waren eher dem Zeitgeschmack geschuldet.

• „Urfleischer Bus“ (S1): Am 12. April 1958 wurde der erste selbsttragende Omnibus an die Firma Michael Grauer ausgeliefert. Antrieb und Achsen stammten zunächst von einem Opel Blitz, später wurden H6B-Teile verwendet. Fleischers interne Typbezeichnung S1 setzte sich für das erste Modell durch.

• Fleischer S2: In Zusammenarbeit mit der BVG Berlin entstand der S2, der bereits im Spätsommer 1959 in Berlin auf Stadtrundfahrten zu sehen war. Er lehnte sich stilistisch an den S1 an, hatte ein H6-Bremssystem und später eine Lenkhilfe. Der 150 PS Horch-Dieselmotor, produziert im Dieselmotorenwerk Schönebeck, fand erstmals im Heck seinen Platz.

• Fleischer S3 (Stadtbus): Die BVG Berlin vergab einen Entwicklungsauftrag für Stadtbusse an Fleischer. Der S3 zeichnete sich durch einen tiefen Einstieg und flachen Fahrzeugboden aus, hatte 27 Sitz- und 40 Stehplätze. Insgesamt erhielt die BVG sechs Fahrzeuge dieses Typs.

• Fleischer S2 RU (Reparaturumbau): Ein Gesetz von 1963 untersagte die Vermehrung des Fahrzeugbestandes, sofern kein volkswirtschaftliches Interesse vorlag. Neue Busse mussten als Reparaturumbau deklariert werden, und ein alter H6-Bus musste ausgesondert werden. Der S2RU bot Luxus pur mit Radio, Tonband, Fernseher, Bordküche, Toilette und Tischen. Die Produktion des S2RU musste 1971 eingestellt werden, da nach dem Auslaufen des IFA H6B keine Ersatzteile mehr verfügbar waren.

• Fleischer S4: Ein neues, eckigeres Designprojekt, das 1968 in volle Fahrt kam und nicht als Reparaturumbau deklariert wurde. Es sollte W50-Komponenten nutzen, doch die Lieferung der W50-Teile wurde von Ludwigsfelde eingestellt, da man sie für den ungarischen Ikarus 211 benötigte. Nur 30 Einheiten des S4 verließen das Gerer Werk, obwohl der Bau einzelner S4 bis zur politischen Wende weitergeführt wurde.

• Fleischer S5: Um den Mangel an Ersatzteilen zu beheben, griff man auf Ikarus-Komponenten zurück. Der erste S5, mit 48 Sitz- oder 38 Liegesitzen, Kaffeemaschine, Kühltruhe, Tonband und WC, wurde 1971 ausgeliefert. Der letzte Fleischerbus, ein S5, entstand offenbar im August 1990.

Das Ende einer Ära und ein bleibendes Vermächtnis
Im Jahr 1972 drängte die DDR-Regierung auf die Überführung von Industriebetrieben in Volkseigentum. Fritz Fleischer wurde gezwungen, sein Unternehmen zu verkaufen, und die „Fleischer Karosserie und Fahrzeugfabrik“ ging am 17. April 1972 in den VEB Karosseriebau Gera über. Obwohl ihm zunächst die Leitung des volkseigenen Betriebs angeboten wurde, erhielt er bereits am 15. Oktober 1973 im Alter von 70 Jahren seine Abberufung als Werkdirektor. Sein Neffe Rolf Fleischer übernahm später eine leitende Position, doch die notwendigen Investitionen blieben aus, und die Betriebe verfielen.

Fritz Fleischer starb am 1. September 1989, kurz vor dem Mauerfall. Seine Geschichte ist ein Zeugnis von Willensstärke, Innovationskraft und der Fähigkeit, trotz größter Niederlagen immer wieder aufzustehen und von vorne anzufangen.

Heute bewahren Liebhaber und Vereine die noch existierenden Fleischerbusse als kulturelles Erbe und Zeichen des Respekts vor diesem bemerkenswerten Mann. Ein 1987 gebauter Fleischer S5, einer der letzten aus Gera, wird heute für besondere Fahrten und Hochzeiten eingesetzt, motorisiert mit einem 190 PS starken Bäcker-Dieselmotor und Ikarus-Komponenten. Die Bücher von Christian Suer und die Arbeit der Interessengemeinschaft historische Omnibusse international tragen dazu bei, das Vermächtnis Fritz Fleischers lebendig zu halten und seine Busse für die Nachwelt zu bewahren.

Die Geschichte der DDR-Ferienheime und eine unerwartete Wiedergeburt

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Oberwiesenthal, Erzgebirge – Während wir heute mühelos online das perfekte Hotel für den nächsten Urlaub buchen können, war die Ferienplanung in der DDR eine ganz andere Angelegenheit. Ein Blick zurück auf die Ära der Ferienheime offenbart ein System, das tief in der sozialistischen Ideologie verwurzelt war und mit dem Fall der Mauer ein abruptes Ende fand. Doch inmitten verfallener Ruinen gibt es in Oberwiesenthal ein bemerkenswertes Beispiel, das zeigt: Es geht auch anders.

Urlaub nach Plan: Das System der DDR-Ferienheime
In der Deutschen Demokratischen Republik war der Tourismus zu 60 Prozent über Betriebe und staatliche Institutionen organisiert. Die Verfassung sah den bezahlten Jahresurlaub vor, und nach dem Vorbild der Sowjetunion sollten so Verdienste für Betrieb und Partei belohnt sowie die sozialistische Haltung der Bürger gefördert werden. Der Grundstein für dieses System wurde am 10. Februar 1953 mit der „Aktion Rose“ gelegt. Diese staatliche Maßnahme führte zur Verstaatlichung von Hotels, Ferienheimen und anderen Dienstleistungsunternehmen, vor allem an der Ostseeküste. Über 400 Unternehmer wurden wegen angeblichen Verstoßes gegen das Volkseigentumsgesetz verhaftet, und über 400 Hotels sowie 180 weitere Einrichtungen im Wert von über 30 Millionen Mark wurden beschlagnahmt.

Damit wurde die Basis für den 1947 gegründeten FDGB Feriendienst geschaffen, der zum drittgrößten Anbieter staatlicher Unterkünfte avancierte. Die größten Anbieter waren jedoch die Betriebe selbst mit ihren eigenen Ferienheimen, gefolgt von staatlichen Campingplätzen.

Ein Urlaub war kein Selbstläufer: Bürger der DDR mussten sich für Aufenthalte in den Ferienheimen bewerben, wobei besonders Verdiente schneller den Zuschlag erhielten. Ziel war es, das Gemeinschaftsgefühl und die sozialistische Haltung der Bürger zu stärken. Neben den regulären Ferienheimen gab es auch Pionierlager und später Jugendtourist-Angebote, primär für FDJ-Mitglieder, um Kinder früh an das sozialistische System zu binden.

Jedes Jahr unternahmen knapp 80 Prozent der DDR-Bürger eine Urlaubsreise, die meist 13 Tage dauerte und zu 80 bis 90 Prozent im Inland stattfand. Beliebte Ziele waren die Ostseeküste, der Thüringer Wald, das Elbsandsteingebirge und das Erzgebirge, wo Hunderte von betrieblichen und staatlichen Ferienheimen entstanden. Im Jahr 1975 gab es beispielsweise über 1220 FDGB-Ferienheime und über 520 staatliche Campingplätze. Die Reisen waren stark subventioniert – mit jährlich knapp 2 Milliarden Mark – sodass Urlauber lediglich ein Drittel der tatsächlichen Kosten tragen mussten. Dies geschah oft mittels sogenannter Ferienchecks, die im Urlaubsort gegen Unterkunft und Verpflegung eingelöst wurden.

Das abrupte Ende nach der Wende
Mit dem Mauerfall 1989 und der Wiedervereinigung ein Jahr später kam das System der betrieblich und staatlich organisierten Ferienheime zu einem abrupten Ende. Viele der Immobilien wurden über die Treuhand an private Gesellschaften verkauft oder einfach aufgegeben. Insbesondere Regionen wie der Thüringer Wald litten massiv unter dem Wegfall der Ferienheime; hier wurden nur sehr wenige von anderen Betreibern übernommen.

In den ersten Jahren nach der Wende waren andere Urlaubsziele für die Bürger attraktiver und auch erschwinglicher geworden, was den Niedergang zusätzlich beschleunigte. Ein Beispiel dafür ist die ehemalige Hotelkette Euromill, die etliche Ferienheime übernommen hatte, aber bereits 1994 Insolvenz anmelden musste. Zwar wurden einige Anlagen von der späteren Ahorn Hotelgruppe übernommen, doch ein Großteil musste geschlossen werden.

Von den rund 1200 Ferienheimen existiert heute nur noch eine Handvoll. Einige wurden umfunktioniert und dienen nun als Seniorenheime oder Jugendherbergen. Auch die Besitzverhältnisse der nach der Aktion Rose enteigneten Eigentümer wurden neu geklärt; viele ehemalige Besitzer wurden auf Antrag rehabilitiert, aber nicht für den materiellen Verlust entschädigt. Eine Rückübertragung war in der Regel nicht möglich, und die Option des Rückkaufs zum Verkehrswert konnten sich viele nicht leisten. Bis heute stehen zahlreiche ehemalige Ferienheime leer und verfallen, oft mit der kompletten Einrichtung im Inneren.

Ein Lichtblick in Oberwiesenthal: Die Wiedergeburt der Wismut AG
Doch es gibt auch positive Ausnahmen. Ein beeindruckendes Beispiel ist das ehemalige Ferienheim der Wismut AG in Oberwiesenthal, direkt am Fuße des Fichtelbergs. Ursprünglich 1911 als Sporthotel errichtet und später als Lazarett im Zweiten Weltkrieg genutzt, übernahm die Wismut AG das Haus 1955 und führte es als Ferienheim weiter. Nach dem Bau der Mauer wurde Oberwiesenthal zu einem bedeutenden Wintersportort in der DDR, und das Ferienheim beherbergte zahlreiche Spitzensportler.

Auch dieses Objekt ereilte das Schicksal vieler anderer: Nach der Übernahme durch Euromill im Jahr 1990 wurde es 1994 endgültig geschlossen und dem Verfall preisgegeben. Bei einem Besuch im Jahr 2020 fanden Dirk und Daniel Fohrmann vom YouTube-Kanal „Doku Jäger“ das Hotel in einem katastrophalen Zustand vor; ein Abriss war damals bereits beschlossene Sache, da kein Investor gefunden werden konnte.

Doch nur ein Jahr später, 2021, wurde bekannt, dass die Chemnitzer Faser AG das Gebäude kaufen und komplett sanieren möchte. Im Jahr 2022 begann die Renovierung des Bettenhauses, wo etwa 70 Apartments entstehen sollen. Seit Ende 2024 sind die Apartments im ehemaligen Bettenhaus bereits buchbar, und das ältere Hauptgebäude wird ebenfalls saniert.

Dieses Projekt in Oberwiesenthal, heute bekannt als Hotel „Summit of Saxony“, ist ein leuchtendes Beispiel dafür, dass es auch anders gehen kann. Es zeigt, wie aus einem vergessenen Relikt der DDR-Geschichte wieder ein lebendiger Ort der Erholung entstehen kann, auch wenn dies nur in sehr wenigen Fällen gelingt. Es ist eine Geschichte von Verlust und Verfall, aber auch von der Hoffnung auf eine zweite Chance für ein Stück ostdeutscher Geschichte.

Vergessen im „Goldenen Westen“: Heimkinder der DDR nach der Wende

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Erfurt, Thüringens größte Stadt, bekannt für ihren Dom und die Severi-Kirche, hat seit der Wende am 9. November 1989 eine neue, traurige Berühmtheit erlangt: Sie ist die Stadt, in der die meisten Kinder in Heimen leben, weil ihre Väter und Mütter sie verlassen haben. Nicht einfach irgendwohin, sondern in den sogenannten „goldenen Westen“. Rund 100 Kinder in der gesamten DDR, vom Säugling bis zum 16. Lebensjahr, erleben derzeit dieses Schicksal.

Die Heime, in die die Kinder über Nacht von der Polizei oder dem Jugendamt eingewiesen wurden, sind weit um die historische Altstadt verstreut. Die Reportage blickt hinter die Mauern dieser Einrichtungen und gibt den zurückgelassenen Kindern eine Stimme.

Zerbrochene Familien, zerstörte Hoffnungen
Die Geschichten der Kinder sind erschütternd und offenbaren tiefe seelische Wunden:

• Enrico und Sven, beide 16 Jahre alt, wurden morgens von ihrer Mutter mit den Worten geweckt: „Die Grenzen sind offen, schlaft nur weiter, ich gehe mal rüber gucken.“ Sie kam nie wieder. Sven empfindet heute tiefen Groll: Er würde seine Mutter nicht einmal ansehen, sondern ihr den Rücken zukehren für das, was sie ihnen angetan hat. Er würde nicht zu ihr in den Westen gehen, da sie ihre eigene Freiheit wollte und sie nicht Bescheid gesagt hatte. Enrico vermisst seinen Opa und seine Oma, aber zu seiner Mutter gibt es keine Aussicht mehr.

• Sebastian, ebenfalls 16 und im selben Heim, ist oft depressiv. Seine Mutter ist bereits vor der Wende „abgehauen“ und hat in ihm „alles zerstört“. Er spricht nur ungern über seine Gefühle und verzeiht seiner Mutter nicht, dass sie in den Westen gegangen ist.

• Manuela wartet sehnsüchtig auf ihren Vater, der ihr in einem Brief versprach, hundertprozentig im Januar zu kommen, sobald alle Papiere da seien. Er schrieb, es sei vielleicht besser so für sie, sie solle ihre Lehre machen, und erwähnte eine neue Wohnung mit Bad und Warmwasser im Westen. Doch die letzten Zeilen waren eine Lüge – ihr Vater hat sich bis heute nicht gemeldet.

• Der fünfjährige Thomas wurde von seiner Mutter „abgeschoben“, weil er sich zu einem spastisch gehbehinderten Kind entwickelte. Die Mutter floh „feige“ in den Westen und beauftragte ihren Freund, Thomas ins Heim zu bringen. Der Freund setzte den Jungen einfach auf den Schreibtisch der Heimleiterin. Thomas wartet seit Wochen sehnsüchtig auf seine Mutter, da ihm gesagt wurde, sie sei im Urlaub – eine notwendige Lüge, da er die Wahrheit wohl nicht verkraftet hätte.

• Auch der zweijährige Danny wurde mit seinen beiden älteren Brüdern alleingelassen. Morgens fanden sie einen Zettel der Mutter auf dem Küchentisch: „Bin nach Westberlin, Essen ist im Kühlschrank“. Nachbarn brachten die drei zur Polizei. Danny muss sich nun morgens allein anziehen, niemand hilft ihm mehr, niemand nimmt ihn in die Arme oder streichelt ihn. Er weint sich abends oft in den Schlaf und ist nur wenige Minuten glücklich, wenn er seinen zwei Jahre älteren Bruder Markus im Waschraum trifft. Markus, der älteste, liegt nachts lange wach, kann nicht einschlafen und sucht nach einer Erklärung für das Verhalten seiner Mutter, die er bisher nicht gefunden hat. Er möchte seine Mutter anrufen und schreiben, kennt aber weder Nummern noch Adressen.

• Der 12-jährige Andreas erfuhr von seinem Vater, dass seine Mutter mit seinem Bruder in den Westen gefahren war. Er fühlt sich im Heim „gut“ und hat Freunde gefunden, doch die Schule läuft nicht gut und im Heim wird viel gestohlen und kaputt gemacht. Er fragt sich, warum seine Mutter ihn alleine gelassen hat und sucht täglich nach der richtigen Erklärung.

Überforderte Heime, fehlende Unterstützung
Die Heimerzieher in der DDR sind zu wenige und durch die hohe Anzahl der zurückgelassenen Kinder überfordert. Obwohl sie sich größte Mühe geben, können sie das Elternhaus nicht ersetzen. Viele Jugendliche warten noch immer auf Post oder Nachrichten von ihren Eltern, die in die Bundesrepublik gegangen sind.

Eine Heimleiterin fordert dringend ein Rechtshilfeabkommen zwischen beiden deutschen Staaten. Dies würde eine schnelle und unkomplizierte Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden, Polizei und Jugendämtern ermöglichen. Ziel ist es, gewissenlose Väter und Mütter in der Bundesrepublik aufzuspüren und wegen Vernachlässigung ihrer Fürsorgepflicht unter Strafe zu stellen. Solche Eltern, die ihre wehrlosen Kinder „wie ein weggeworfenes Paket“ zurücklassen, müssten durch ein solches Abkommen wieder an die DDR ausgeliefert werden. Ohne dies gehen die Eltern kein Risiko ein und können ihre Kinder einfach abschieben und vergessen.

Das Versagen des Systems
Ein gravierendes Problem liegt auch in den Anreizen des Westens: Eltern erhalten bei der Übersiedlung bis zu 6000 Mark zinsloses Darlehen und zusätzlich 3000 Mark von der Bundesrepublik als sogenannte Eingliederungshilfe. Diese Hilfen werden gewährt, ohne zu prüfen, ob die in den elterlichen DDR-Papieren aufgeführten Kinder auch tatsächlich mitgenommen werden. Solange dies so bleibt, werden weitere Kinderschicksale dieser Art entstehen.

Der Fall Andreas: Eine bittere Wahrheit
Im Fall des 12-jährigen Andreas suchten Reporter seine Mutter und fanden sie in einem kleinen Ort bei Celle in der Bundesrepublik, arbeitslos und zur Untermiete wohnend. Als ihr Aufnahmen ihres Sohnes vorgespielt wurden, reagierte sie ungerührt. Sie erklärte, Andreas sei „bockig“ gewesen, habe schon im Kindergarten Probleme gemacht und in der Schule seine Hausaufgaben nicht erledigt. Es stellte sich heraus, dass sie seine Adoptivmutter war, aber dieselben Rechte und Pflichten hatte wie eine leibliche Mutter. Dennoch wirkte ihre Flucht in den Westen wie eine passende Gelegenheit, den Jungen ins Heim abzuschieben. Andreas ist noch heute im Heim.

Es ist höchste Zeit, diesen seelisch geschädigten, wehrlosen Kindern zu helfen, aus ihrem „unzumutbaren, anonymen Heimleben“ herauszukommen und ein menschenwürdiges Zuhause zu finden. Dies geschieht jedoch nur, wenn die Eltern sich freiwillig melden, ihre Kinder reumütig zurückholen oder sie schriftlich gegenüber dem Heim adoptieren lassen. Nur dann haben diese Kinder vielleicht eine hoffnungsvollere Zukunft.

Die NVA warnt: „Deutsche schießen auf Deutsche“ – Das Training zur Panzerabwehr im Kalten Krieg

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Ein Lehrfilm der Nationalen Volksarmee (NVA) enthüllt die ernste Vorbereitung auf einen möglichen Panzerangriff der Bundeswehr gegen die Deutsche Demokratische Republik, unter dem düsteren Motto: „Deutsche schießen auf Deutsche…“. Diese Ausbildung war ein zentraler Pfeiler der Verteidigungsstrategie gegen eine als unmittelbar und aggressiv wahrgenommene Bedrohung aus dem Westen.

Die NVA sah in den westdeutschen Streitkräften einen potenziellen Angreifer, dessen Absicht, „gegen uns vorerst in Manöver hier erproben sie die Varianten des Überfalls auf unser sozialistisches Vaterland“, klar sei. Manöver wie „Schwarzer Löwe“ im September 1968, bei dem 16.000 Rad- und Kettenfahrzeuge zum Einsatz kamen und Starfighter sowie Kampfflugzeuge G91 Angriffe mit Raketen und erstmals auch Napalmbomben simulierten, wurden als Beweis für eine „Vorwärtsstrategie“ gewertet. Diese Strategen, ermutigt durch „zeitweilige Erfolge der israelischen Aggressoren“, spekulierten laut NVA mit einem „begrenzten konventionellen Blitzkrieg“, für den Panzer als „Stoßkeile für ihre Aggression“ dienten.

NVA’s Defensive Strategie
Die NVA bereitete sich darauf vor, solche Angriffe abzuwehren. Zunächst ging es darum, „einen Gegenangriff abzuschlagen“ durch den Einsatz von „schweren panzerbrechenden Waffen“, darunter Panzerabwehrkanonen und Panzerbüchsen, die „die Mehrzahl der angreifenden Panzer des Gegners unter Feuer“ nehmen sollten. Doch die NVA erkannte auch, dass im „modernen Gefecht keine durchgehenden Frontlinien“ existierten und gegnerische Panzer „in unseren rückwärtigen Raum durchbrechen“ konnten. Daher war die Sicherung von Bauvorhaben im rückwärtigen Raum, beispielsweise zur Wiederherstellung zerstörter Straßenabschnitte, mit Panzerbüchsen und Panzerhandgranaten unerlässlich.

Der Nahkampf mit Panzern: Eine psychologische Herausforderung
Wenn Panzer in die eigenen Stellungen einbrachen, wurde der Nahkampf unausweichlich. Oberstleutnant Schäfer, ein erfahrener Soldat, der selbst „gegnerischen Panzern gegenüber gestanden“ hatte – zwar nicht auf dem Gefechtsfeld, aber in einer direkten Konfrontation mit amerikanischen Panzern nach dem 13. August 1961 an der Staatsgrenze zu Westberlin – sprach von der immensen psychologischen Wirkung. Er beschrieb, wie die Panzermassen **“eine starke psychologische Wirkung auf den einzelnen aus“**übten. Der Anblick einer Kanone, mehrerer schwerer Maschinengewehre und die massive Panzerung, die den Panzer als „Koloss“, als „uneinnehmbare Festung“ erscheinen ließ, konnten schnell den Eindruck der eigenen Machtlosigkeit erwecken. Auch die „Geländegängigkeit“ und das „anschwellende Geräusch des Motors, das lauter werdende der Rasseln der Ketten“ konnten „einen unerfahrenen Soldaten in Angst versetzen und ihn damit handlungsunfähig machen“.

Den Panzer besiegen: Mut und Taktik
Doch die NVA lehrte, dass diese Angst überwunden werden musste. Entscheidend sei, die scheinbaren Vorteile des Panzers im Nahkampf zu dessen Nachteilen umzukehren. Die Feuerkraft und starke Bewaffnung seien gegen den Panzer-Nahkämpfer auf kürzester Distanz nutzlos. Die massive Größe und Panzerung führten zu einer „Sichtbehinderung“ für die Besatzung und machten den Panzer selbst zu einem „gut zu treffenden Ziel“. Für Sekunden sei der Panzer dem Nahkämpfer „völlig ausgeliefert“, und diese Chance müsse genutzt werden.

Dies erforderte vom NVA-Soldaten „Mut, feste politisch-moralische Haltung, Standhaftigkeit“ und das Bewusstsein, gemeinsam mit seinen Genossen zu siegen. „Ruhe und Kaltblütigkeit“ waren nötig, um im richtigen Moment die Panzerhandgranate zu werfen – das „wichtigste Kampfmittel gegen Panzer“.

Die Panzerhandgranate: Präzision und Wirkung
Die Handhabung der Panzerhandgranate wurde akribisch trainiert: Abschrauben des Stieles, Einsetzen der Zündladung, Aufschrauben des Stieles, Einnehmen in die Wurfhand, Drücken der Sicherungsschiene, Zusammenbiegen der Enden des Sicherungssplintes mit der freien Hand und Herausziehen des Sicherungssplintes. Diese Griffe mussten schnell und sicher beherrscht werden, um den „heranrollenden Gegner ständig beobachten“ zu können.

Die Panzerhandgranate besaß einen Stabilisierungsfallschirm, der unmittelbar nach dem Wurf, sobald sich die Sicherungsschiene gelöst hatte, herausgedrückt wurde. Dieser Fallschirm war entscheidend, da er die Granate „mit ihrer Stirnseite und im günstigsten Winkel auftreffen“ ließ, sodass die Hohlladung „die Panzerung durchschlagen“ konnte. Die NVA versicherte: „Du kannst Vertrauen haben zur Panzerhandgranate, denn es gibt keinen gegnerischen Panzertyp, der nicht mit ihr vernichtet werden könnte“ – und das unabhängig davon, „an welcher Stelle der Panzerung du den Gegner triffst“.

Taktiken im Panzernahkampf:
Die NVA schulte ihre Soldaten darin, die Nachteile des Panzers auszunutzen:

• Deckung und Tarnung: Der Soldat sollte das Gelände geschickt zur Deckung nutzen und „unerkannt“ bleiben, da die Besatzung des Panzers „weniger sieht“ und nur „große Objekte und auffällige Bewegungen“ erkennen kann.

• Wurfweite und Toter Winkel: Die optimale Wurfweite betrug 15 bis 20 Meter, was bedeutete, sich „dicht vor dem toten Winkel der Bewaffnung und Beobachtung des Gegners“ zu positionieren.

• Angriffsvarianten:
◦ Seitlicher Angriff: Als beste und sicherste Variante galt, in Deckung zu bleiben, bis der Panzer „seitlich an dir vorbeigerollt ist“, um ihn dann anzugreifen.
◦ Frontaler Angriff: Falls ein Stellungswechsel nicht möglich war, konnte der Panzer auch von vorn angegriffen werden, da die Granate „auch den stark gepanzerten Bug des Gegners durchschlägt“.
◦ Angriff von hinten: Die Erfahrungen zeigten, dass es noch besser war, sich „überrollen zu lassen“ und den Panzer „direkt von hinten anzugreifen“, um die Treffsicherheit zu erhöhen.

• Nach dem Wurf: Nach der Detonation musste der Soldat bereit sein, die „eventuell ausbootende Panzerbesatzung mit seiner MP zu vernichten“.

Teamwork ist entscheidend:
Obwohl der Nahkampf oft ein Duell zu sein schien, wurde betont: „Allein bist du nicht“. Die Genossen der Gruppe deckten den Nahkämpfer, denn bei gedecktem Vorgehen war nicht der Panzer selbst, sondern die „ihn begleitende Infanterie“ die primäre Gefahr. Die Kameraden hatten die Aufgabe, „die Infanterie vom Panzer zu trennen“, sie durch gezieltes Feuer zu vernichten und Feuerschutz zu geben.

„Die Panzernahbekämpfung ist fester Bestandteil im System der Panzerabwehr“, so die klare Botschaft. Jeder Soldat musste sie erlernen, trainieren und beherrschen, denn „der Sieg hängt von dir, von deiner Überzeugung, von deinem Willen, von deinem Können, von deinem Mut zum Sturmangriff ab“. Es war eine nüchterne, aber entschlossene Vorbereitung auf einen Konflikt, der die DDR bis in die hintersten Reihen zu erreichen drohte.

Die WM 1974 im geteilten Deutschland

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Die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 in der Bundesrepublik Deutschland war mehr als nur ein Sportereignis; sie war eine Bühne für politische Spannungen, Kalten Krieg und persönliche Schicksale, die sich zwischen Fluchtwunsch und nationaler Rivalität abspielten. Während die westdeutsche Nationalmannschaft sich auf den Titel konzentrierte, planten drei Abiturienten aus der DDR ihre lebensgefährliche Flucht in den Westen, während die Staatssicherheit mit beispielloser Härte gegen sogenannte „Grenzverletzer“ vorging.

Das deutsch-deutsche Duell: Sport vor politischem Hintergrund Die Auslosung der Gruppen am 5. Januar 1974 in Frankfurt am Main sorgte für ein Raunen im Saal: Die DDR wurde in die Gruppe der BRD gelost. Zum ersten Mal sollten die beiden deutschen Staaten bei einer Fußball-WM aufeinandertreffen, was den Kalten Krieg auf den grünen Rasen brachte. Für Paul Breitner, Torschütze des ersten WM-Tores der BRD und bekennender Kommunist, war es lediglich ein Spiel auf dem Weg zum Titel. Anders für Hans-Jürgen Kreische, den damaligen DDR-Fußballer des Jahres, und viele seiner Kollegen, für die das Duell eine besondere Gelegenheit war, sich mit westdeutschen Spielern zu messen. Sie freuten sich auf die WM und mussten die Auslosung annehmen und das Beste daraus machen.

Die politische Dimension war unverkennbar: Willy Brandt, Kanzler der Bundesrepublik, hatte die DDR als souveränen Staat anerkannt, um die Beziehungen zwischen Ost und West zu verbessern. Doch diese Anerkennung rückte eine Wiedervereinigung in weite Ferne und führte nicht zum Abbau der Grenzanlagen. Im Gegenteil: Die deutsch-deutsche Grenze, seit 1961 von der DDR mit einer Mauer und einem Todesstreifen versehen, wurde Anfang der 70er-Jahre durch die Installation von Selbstschussanlagen, den sogenannten SM-70, noch tödlicher. Diese Geräte waren mit Metallsplittern gefüllt und lösten aus, sobald Flüchtlinge einen dünnen, unsichtbaren Draht berührten, was oft zum Tod führte.

Die Schatten der Stasi: „Aktion Leder“ und die Guillaume-Affäre Parallel zu den WM-Vorbereitungen arbeitete die Staatssicherheit der DDR, unter der Leitung von Erich Mielke, auf Hochtouren, um Fluchtversuche zu vereiteln. Die Aktion „Leder“ war eine der größten Stasi-Maßnahmen der Geschichte: Tausende DDR-Bürger, die zu den WM-Spielen nach Westdeutschland reisen durften, wurden lückenlos überwacht und geschult, wie sie sich zu verhalten hatten. Sogar die eigene DDR-Nationalmannschaft und deren Betreuer, insgesamt 48 Personen, standen unter Beobachtung; Telefone wurden abgehört, Briefe gelesen, und es gab fünf inoffizielle Mitarbeiter (Spitzel) unter den Spielern. Die Stasi war sogar bereit, Sonderaufgaben bis hin zu Attentaten und Mordanschlägen zu veranlassen und plante, flüchtende Spieler mithilfe eines westdeutschen Kriminellen mit dem Decknamen „Rennfahrer“ in einer Holzkiste tot oder lebendig in die DDR zurückzubringen.

Doch die Pläne der Stasi wurden durch einen unerwarteten Zwischenfall erschüttert: Kurz vor der WM wurde ihr Topagent in der BRD, Günter Guillaume, Spion im Bundeskanzleramt und persönlicher Referent Willy Brandts, enttarnt. Die Festnahme Guillaumes belastete das Verhältnis zur DDR schwer und stürzte die Bundesregierung in eine Krise, die zum Rücktritt Willy Brandts führte. Guillaumes Sohn, Pierre Boom, war damals 17 und erlebte die Verhaftung seiner Eltern völlig ahnungslos, während er bis heute nach Antworten auf seine vielen Fragen sucht.

Ein gewagter Plan: Die Flucht der drei Abiturienten Inmitten dieser politischen Turbulenzen reifte der Fluchtplan der drei Abiturienten Bernd Herzog (19), Thomas Röthig (20) und Thomas von Fritsch (19). Sie wollten nicht länger „mit der Lüge leben“, die den Alltag in der DDR bestimmte, und sehnten sich nach Freiheit. Ihr Plan war, nach dem Abitur in den Westen zu gehen. Eine Flucht über Mauer und Todesstreifen kam für Thomas von Fritschs Cousin Rüdiger, der Fluchthilfe leistete, nicht infrage. Stattdessen entwickelte Rüdiger von Fritsch einen kühnen Plan: Er wollte die drei Freunde in Bulgarien treffen und sie dort mit drei gefälschten westdeutschen Reisepässen ausstatten, um sie als „Hippies“ auf dem Weg in die Türkei in den Westen zu schleusen.

Die „Fälscherwerkstatt“ war Rudigers eigenes Werk. Er versuchte sich mühsam an der Kunst des Fälschens, bastelte Einreisestempel mit Radiergummis und einem Federmesser, um die komplexen Details bulgarischer Stempel mit ihren kleinen kyrillischen Buchstaben und Farbverläufen nachzuahmen. Er wusste, dass jeder Fehler das Gefängnis bedeuten könnte. Die letzte Besprechung fand am 26. Mai 1974 in Ost-Berlin statt, wo der Zeitpunkt der Flucht auf das WM-Endspiel am 7. Juli 1974 festgelegt wurde – in der Hoffnung, dass alle Grenzbeamten durch das Spiel abgelenkt wären.

Der tragische Alltag an der Grenze und ein folgenschwerer Fehler Die Grausamkeit des Grenzregimes zeigte sich während der WM auf erschütternde Weise: Am Tag nach dem Auftaktsieg der DDR gegen Australien ertrank der Sohn italienischer Gastarbeiter, Giuseppe Savoca, in der Berliner Spree, da DDR-Grenzpatrouillen nicht eingriffen und Westberliner Retter mit Waffen bedrohten. Auch der 38-jährige Czeslaw Kukuczka wurde bei einem Fluchtversuch getötet, als ein Stasi-Offizier ihm in den Rücken schoss – eine Tat, für die der Schütze einen Orden und eine Beförderung erhielt.

Kurz vor ihrer geplanten Flucht, in der Nacht vor ihrer Abreise, begingen die drei Abiturienten jedoch eine schwerwiegende Dummheit. Bei einem Haldenfest warfen sie ein großes DDR-Emblem aus Holz, Hammer und Zirkel mit Ehrenkranz, ins Lagerfeuer. Dieser „dumme Jungenstreich“ war in der DDR ein Straftatbestand: staatsfeindliche Hetze. Wenn sie verpfiffen würden, wären sie in größter Gefahr.

Die WM 1974 war somit nicht nur ein sportliches Großereignis, sondern auch ein Zeugnis der tiefen Spaltung Deutschlands und der verzweifelten Suche nach Freiheit im Schatten des Kalten Krieges, dessen Auswirkungen bis in die persönlichsten Lebensbereiche reichten. Die Frage bleibt: Werden die drei Freunde es trotz ihres folgenschweren Fehlers bis nach Bulgarien und von dort in den Westen schaffen?

Verlassene Kinder der DDR: Eine Generation zwischen Sehnsucht und Verrat

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Die Geschichten von Tausenden Kindern, die während der deutschen Teilung und in den Wirren der Wende von ihren Eltern in der DDR zurückgelassen wurden, sind ein oft unausgesprochenes Kapitel der deutschen Geschichte. Zwischen eiserner Vorhang und plötzlicher Freiheit zerbrachen Familien, und Kinder wurden zu stillen Leidtragenden, deren Schicksale tiefgreifende Spuren hinterließen.

Christine Erhard: Ein Abschied am Bahnhof und Jahrzehnte der Trennung
Für Christine Erhard zerbrach das Leben im Sommer 1958. Mit elf Jahren verabschiedete sie ihren Vater auf einem Bahnhof in Sachsen, ohne zu ahnen, dass sie ihn zum letzten Mal sah. Ihr Vater floh hals über Kopf nach West-Berlin, da er zu einem Verhör erwartet wurde. Eine Woche später folgte die Mutter mit nur vier der neun Geschwister. Der Plan war, die vier Kleinkinder am nächsten Tag nachzuholen, doch eine Kontrolle bei der Ausreise und das Risiko, beim Zurückfahren aufzufliegen, hielten die Eltern davon ab. Obwohl man damals über Berlin einfacher fliehen und auch jemanden nachholen konnte, bestand immer die Gefahr, dass die Flucht auffliegt. Christine und ihre beiden kleinen Schwestern Ingrid und Konstanze fanden sich plötzlich allein in ihrer Wohnung wieder. Sie wurden abgeholt und ins Rathaus gebracht – für Christine „das Ende meiner Kindheit“.

Die Kinder landeten in einem Heim in Berbesdorf. Christine glaubte fest daran, dass ihre Eltern sie bald abholen würden, lebte „auf gepackten Koffern“ und wartete täglich. Doch der Mauerbau 1961 machte diese Hoffnung zunichte. Erst 1964 gab es Familienzusammenführungen, doch Christine und ihre Geschwister blieben zurück, eine „Gewissheit“, die Christine als das Schlimmste empfand. Sie fühlte sich nicht nur verlassen, sondern auch „festgehalten“ an einem Ort, an dem sie nicht sein wollte. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis sie ihre Mutter wiedersah.

Günther Neumann und die Folgen der Wende: Freiheit um jeden Preis
Ein anderes Schicksal ereignete sich im Herbst 1989. Günther Neumann floh in den Westen und ließ Frau und fünf Kinder zurück. Er wollte einfach „ein freier Mensch sein“, nicht mehr in der Diktatur leben. Seine Tochter Yvon Neumann, heute Kellnerin, sah in ihren Eltern nie ein Vorbild, sondern ein „abschreckendes Beispiel“. Sie wollte nie dorthin gelangen, wo ihre Eltern waren – die Mutter war Alkoholikerin, der Vater Gelegenheitsarbeiter und überfordert, die Familie zusammenzuhalten.

Die fünf Neumann-Geschwister blieben in einem Heim im sächsischen Barratal zurück und zahlten den Preis für die neue Freiheit ihres Vaters. Das Westfernsehen berichtete 1990 über ihr Schicksal. Yvon kam mit der Zeit im Heim besser zurecht als ihre Geschwister, machte einen Schulabschluss und einen Beruf. Obwohl die Sehnsucht nach den Eltern immer da war, wussten Yvon und ihre Geschwister genau, wie schlimm die Zustände zu Hause gewesen waren, geprägt von Arbeitslosigkeit, Alkohol und mangelnder Fürsorge. Für Günther Neumann war die Flucht ein „Gefühl der Freiheit – endlich, endlich frei“, begleitet von der quälenden Frage: „was machen meine Kinder?“.

Claudia Sachsel: Ein Kampf um Anerkennung und Unterhalt
Claudia Sachsel kämpfte vor dem Amtsgericht Leipzig um Unterhalt für ihre Tochter Nadin, nachdem ihr Lebensgefährte sich mit dem Zusammenbruch der DDR einfach „aus dem Staub gemacht“ hatte. Er wählte „Freiheit statt Familienleben“. Bei einem Jugendabend erfuhr Claudia durch Zufall, dass ihr Ex-Freund sechs Kinder von fünf Frauen hatte, für die er nie Unterhalt zahlte.

Als sie ihn Jahre später im Gericht traf, gab sie ihm die Hand und sagte: „Hallo, ich bin die Mutter einer deiner zahlreichen Kinder, falls du es nicht mehr weißt.“ Seine Perplexität verschaffte ihr ein Gefühl der Genugtuung. Claudia Sachsel musste sich und ihre Tochter Nadin alleine durchschlagen. Ihre anfängliche Wut auf ihn, den sie als „Schwein“ bezeichnete, war tief. Sie konnte als Mutter nicht begreifen, dass ein Vater so anders denken konnte, und war wütend und verzweifelt.

Ein tiefes Tabu und niedere Motive
Die Flucht in den Westen riss tausendfach Familien auseinander. Unzählige DDR-Bürger, darunter auch „zehntausende Väter“, konnten der Versuchung einer neuen, unverhofften Freiheit nicht widerstehen. Der Gedanke, die Familie sei eine „Last“, trieb Männer an, im Westen eine neue Existenz aufzubauen. Experten gehen von mehreren zehntausend verlassenen Kindern aus.

Das Thema, dass Mütter oder Väter ihre Kinder verlassen, ist ein „großes Tabu“. Viele der Eltern, die ihre Kinder zurückließen, handelten aus „ganz niederen Motiven“, geblendet vom Wohlstand des Westens und oft die Kinder als „Klotz am Bein“ empfindend. Hierfür gibt es keine Entschuldigung. Die Kinder der Republik wurden zu „Geiseln des Staates“, die die DDR nicht nachreisen ließ. Nadin, die Tochter von Claudia Sachsel, hat heute drei Töchter und mit diesem Kapitel ihres eigenen Vaters abgeschlossen, der vor einigen Jahren starb.

Die Geschichten dieser verlassenen Kinder zeigen auf erschütternde Weise die persönlichen Tragödien hinter politischen Umbrüchen und die tiefen Narben, die durch Entscheidungen entstehen, die für viele unverzeihlich bleiben.

Regiment Robert Urich: Ein Erbe voller Tradition, Leistung und Engagement für den Frieden

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zum Video einfach auf das Bild klickenBad Frankenhausen – Das Robert-Urich-Regiment der Nationalen Volksarmee (NVA) feiert dieser Tage sein 30-jähriges Bestehen und blickt dabei auf eine bewegte Geschichte und eine beeindruckende Entwicklung zurück. Nur wenige Monate jünger als die NVA selbst, hat sich der Truppenteil, der heute unter dem Kommando von Oberst Jürgen Hartmann steht, einen Ruf für herausragende Erfolge und eine vorbildliche Traditionspflege erarbeitet.

Von den Anfängen bis zur modernen Kampfstärke
Das Regiment, das mit seinem aktuellen Kommandeur Jürgen Hartmann, der selbst nur wenig älter ist, eine tiefe Verbindung pflegt, wurde vor drei Jahrzehnten aufgestellt und gegründet. Ursprünglich als „kadrierter“ Truppenteil konzipiert, wurde es zu einem Linienregiment aufgebaut und der Offiziersbestand qualifiziert. In den frühen Jahren war die technische Ausstattung noch bescheiden, mit LKWs H3A und SFL 74mm. Die erste große Truppenübung im Rahmen des Warschauer Vertrages, „Quartett“, fand bereits 1963 in der DDR statt, an der das Regiment, damals unter der Führung von Genossen Wöllner (heute Generalmajor der Grenztruppen), zusammen mit der polnischen und tschechoslowakischen Volksarmee teilnahm.

Zwischen 1967 und 1971 führte Genosse Grumpelt, heute Oberst a.D., das Regiment. Eine bedeutende Verlegung erlebte der Truppenteil, als er von Leipzig innerhalb von nur 48 Stunden in einem kombinierten Landmarsch nach Bad Frankenhausen verlegt wurde. Die Region zwischen Harz und Kyffhäuser ist nach 15 Jahren längst zur neuen Heimat geworden, und das Regiment identifiziert sich als das „Frankenhausener Regiment“.

Der Name Robert Urich: Verpflichtung und Erinnerung
Eine besondere Ehre wurde dem Regiment zuteil, als es den Namen „Robert Urich“ erhielt. Robert Urich war ein kommunistischer Widerstandskämpfer, der von den Faschisten ermordet wurde. Diese Namensverleihung, die als gute Tradition der Arbeiterklasse und ihrer bewaffneten Organe gilt, erfüllte die Angehörigen des Regiments mit Stolz und Verpflichtung. Charlotte Urich, die Witwe des Widerstandskämpfers, pflegt enge Beziehungen zum Regiment und nimmt an vielen Veranstaltungen persönlich teil.

Erfolgsrezept: Mischung aus Erfahrung und Jugend, harte Ausbildung
Das Regiment Robert Urich ist bekannt für seine Mischung aus erfahrenen und jungen Berufskadern. Die Kommandeure legen Wert auf das unbedingte Bestreben, Aufgaben zu erfüllen, und bilden ihre Soldaten so aus, dass sie diese auch bewältigen können. Zahlreiche Kommandeursgenerationen haben an diesem Erfolg mitgewirkt. Die Basis für die heutigen Leistungen wurde von Vorgängern gelegt, auf die aufgebaut und die weiterentwickelt wurde. Der Grundsatz lautet: „Die Nachfolger müssen besser werden, weil die Anforderungen höher werden“.
Die harte und gute Ausbildung durch vorbildliche Offiziere ist ein Eckpfeiler des Regimentserfolgs. Junge Offiziere werden von Anfang an von älteren Kameraden unterstützt und sind bestrebt, die Erfolge fortzusetzen und zu übertreffen.

Die Truppenfahne: Symbol und Zeuge der Geschichte
Ein wichtiger Höhepunkt in der Geschichte des Regiments war die Verleihung der Truppenfahne, dem Symbol der sozialistischen Staatsmacht. Diese Fahne, die das Regiment zu vielen gesellschaftlichen Höhepunkten begleitete, darunter der 30. Jahrestag der NVA in Berlin und der 11. Parteitag, ist mit zahlreichen „Fahnenschleifen“ geschmückt. Diese Schleifen zeugen von herausragenden Leistungen, wie der Auszeichnung zum „Besten Regiment“ und „Vorbildlichen Regiment“ durch das Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR sowie der Verleihung des „Kampfordens für Verdienste um Volk und Vaterland in Gold“.

Heute verfügt das Regiment über die modernste Kampftechnik und gilt als eines der kampfstärksten Regimenter der Landstreitkräfte der NVA. Dies wurde kürzlich bei einer Inspektion des Vereinten Oberkommandos der Staaten des Warschauer Vertrages unter Beweis gestellt.

Partnerschaften und Friedensverpflichtung
Das Regiment pflegt umfangreiche Beziehungen zum Territorium in Bad Frankenhausen. Es bestehen partnerschaftliche Verbindungen zu 30 Schulen und 25 Betrieben. Eine besondere Beziehung besteht zur Gedenkstätte der frühbürgerlichen Revolution in Deutschland, wo Frankenhausener Soldaten auch bei der Installation des Monumentalgemäldes von Professor Tüpke halfen. Die enge Zusammenarbeit mit den Partei- und Staatsorganen im Kreis ist vorbildlich.

Trotz aller militärischen Stärke und Leistungsbereitschaft betont das Regiment seine tiefe Verpflichtung zum Frieden. Es ist der Überzeugung, dass es dafür da ist, dass die Kinder des Landes immer jünger sein müssen als der Frieden und dass auch die Kunstwerke der Gegenwart jünger sein müssen als der Frieden im Land. Das Motto „In Arbeiterhand bleibt das freie Land“ und die Bereitschaft, jederzeit kampfbereit zu sein, um den Frieden zu erhalten, spiegeln diese Haltung wider.

Der Kommandeurwechsel, bei dem Oberstleutnant Becker kürzlich das Regimentssymbol aus den Händen zweier Vorgänger erhielt, ist ein „normaler, wenn auch nicht alltäglicher Vorgang“, der die Kontinuität und das Fortbestehen der Geschichte dieses traditionsreichen Regiments symbolisiert.

Einblicke in Liebe und Pflicht: Soldaten-Beziehungen im DDR-Alltag 1975

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„Meiner ist bei den Soldaten“ – unter diesem Titel gewährte ein Film aus dem Jahr 1975, produziert im DDR-Chemiefaserwerk, intime Einblicke in das Leben von Frauen, deren Partner ihren Dienst bei der Nationalen Volksarmee (NVA) verrichteten. Der Film erzählte von Bindungen, die stärker sein sollten als „jedes Garn, jede Kunstfaser“. Im Mittelpunkt standen drei Paare, deren Geschichten die Herausforderungen, Freuden und die tiefen emotionalen Verbindungen inmitten der Anforderungen des Armeedienstes beleuchteten.

Ute und Rudolf Ettrich: Eine Liebe unter dem Stern der Armee
Ute Ettrich, eine 23-jährige Laborantin im Chemiefaserwerk, heiratete den Oberfeldwebel und Berufssoldaten Rudolf Ettrich. Rudolf, ursprünglich aus Karl-Marx-Stadt und gelernter Elektroinstallateur, hatte sich auf Jahrzehnte der Armee verschrieben und befand sich zum Zeitpunkt der Dreharbeiten in der Umschulung vom Flugzeugmechaniker zum Fallschirmwärter. Ihr Kennenlernen fand auf unkonventionelle Weise statt: Ute traf Rudolf am Polterabend einer anderen Person und war sofort von seinem Charakter angetan. Sie beschreibt ihn als geschickt, zuvorkommend, hilfsbereit und „flott“.

Die Beziehung ist geprägt von Rudolfs militärischem Engagement. Ute äußert sich stolz über seine Auszeichnungen und Urkunden, die ihn als „guten Soldat“ bestätigen. Doch der Armeedienst bringt auch Schwierigkeiten mit sich. Utes Arbeitszeiten im Vier-Schicht-System, kombiniert mit Rudolfs Dienst, führen dazu, dass sie sich manchmal nur nachts sehen oder „die ganzen sechs Tage nicht da“ sind. Trotz dieser Hürden konzentrieren sich die frisch Vermählten auf die Einrichtung ihrer ersten gemeinsamen Wohnung, wobei das Möbelangebot in Guben, insbesondere die Schlafzimmermöbel, von großem Interesse sind. Der Staat unterstützte sie möglicherweise finanziell dabei. Der Film lässt offen, wie sich ihre berufliche, persönliche und politische Zukunft gestalten wird.

Elke Wendt und Wolfgang Schmidt: Das seltene „Herz zu Herz“
Eine weitere Geschichte ist die von Elke Wendt und Wolfgang Schmidt. Elke arbeitet ebenfalls im Chemiefaserwerk und gehört zu einer „Patenbrigade“, die Wolfgang und seine Genossen vom diensthabenden System der Luftstreitkräfte besucht. Der 22-jährige Wolfgang hatte sich nach dem Abitur als Soldat auf Zeit verpflichtet. Ihr Zusammentreffen wird als glückliche Ausnahme beschrieben, bei der sich „Herz zu Herz gefunden“ hat – eine Seltenheit zu jener Zeit.

Der Besuch der Mädchen im Stützpunkt der Soldaten bot beiden Seiten die Gelegenheit, Vorurteile abzubauen und einen Eindruck von der Verantwortung zu gewinnen, die die Soldaten tragen. Auch hier stellten sich die typischen Herausforderungen des Armeedienstes ein, die geplante Unternehmungen durchkreuzen konnten. Trotz offener Fragen bezüglich einer möglichen Ehe und des Glücks betonte der Film, dass diese erste Phase ihres gemeinsamen Lebens in einer schönen Zeit begonnen wurde und ihr persönliches Glück auf einer „sicheren sozialen und politischen Basis“ aufbauen kann.

Christine Balon und ihr Verlobter: Bewährungsproben im Alltag
Die dritte Episode widmet sich der 20-jährigen Chemiefacharbeiterin Christine Balon, die kürzlich in die Partei aufgenommen wurde. Ihr Verlobter, dessen Name dem Publikum unbekannt bleibt, ist Unteroffizier bei der Armee. Diese Beziehung steht stellvertretend für die Bewältigung von Enttäuschungen durch den Armeedienst. Christines Verlobter, der als zielstrebig und mit „sicherem Auftreten“ beschrieben wird, kann aufgrund seines Dienstes manchmal nicht zu geplanten Feiern oder Treffen, selbst nicht zu seinem eigenen Kurzurlaub, erscheinen.

Solche Absagen führen zu Traurigkeit und Enttäuschung bei Christine, die sie aber als „Bewährung für beide“ betrachtet. Sie zeigt großes Verständnis für die schwierige Zeit, die der Armeedienst für beide Partner darstellt, und kritisiert Mädchen, die ihre Verlobten verlassen, nur weil diese sich für drei Jahre bei der Armee verpflichtet haben. Trotz der Herausforderungen, die sich oft in Gesprächen über Alltagsprobleme manifestieren – wobei Christine bei ihrer Arbeit mit vielen Mädchen mehr Probleme zu haben scheint als er – freut sie sich sehr auf ihren Verlobten, wenn er Zeit für sie hat.

Der Film „Meiner ist bei den Soldaten NVA Film DDR 1975“ zeichnete ein Bild von jungen Frauen, die ihren Partnern in der NVA zur Seite standen. Er zeigte, dass Liebe und Beziehungen auch unter den besonderen Bedingungen des Armeedienstes Bestand haben können, wenn gegenseitiges Verständnis, Stolz und die Bereitschaft zur Bewältigung von Enttäuschungen vorhanden sind. Die Geschichten von Ute, Elke und Christine geben einen tiefen Einblick in die persönlichen Opfer und die Stärke der Bindungen, die in der DDR zwischen jungen Zivilistinnen und ihren Soldaten geschmiedet wurden.

Heftige Debatten im sächsischen Corona-Ausschuss

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Dresden – Der Corona-Untersuchungsausschuss im sächsischen Landtag wurde kürzlich erneut zum Schauplatz einer intensiven Auseinandersetzung über die deutsche Pandemiestrategie. Im Fokus standen der Virologe Christian Drosten, der in der Vergangenheit die Maßnahmen der Bundesregierung verteidigte und als Architekt der Coronabekämpfungsstrategie gilt, sowie der Datenanalyst Tom Lausen. Während Drosten Falschbehauptungen vehement zurückwies und seine wissenschaftlichen Einschätzungen verteidigte, warf Lausen gravierende Mängel in der Datenerhebung vor und zog die Wirksamkeit vieler Maßnahmen in Zweifel.

Drosten: Impfung verhinderte Tote, Schwedens Weg „grundlegend falsch“
Christian Drosten nutzte seine Befragung, um aus seiner Sicht „Falschbehauptungen“ klarzustellen. Er betonte, dass ein PCR-Test sehr wohl eine Infektion nachweisen könne und dass über die Unterbrechung der Übertragung durch die Impfung nicht diskutiert werden müsse, da die Datenlage hier eindeutig sei. Infektionen seien durch die Impfung zurückgegangen, zumindest bis zur Delta-Variante, und die Impfung habe garantiert Coronatote verhindert.

Die in Schweden verfolgte Pandemiestrategie bezeichnete Drosten als „grundlegend falsch“ und Vergleiche mit diesem Land als unzulässig. Er kritisierte zudem offen die Medien, die ihn seiner Meinung nach „angegriffen“ und „zerstören“ wollten, betonte jedoch, sich nicht kleinkriegen zu lassen und weiterhin zu seinen wissenschaftlichen Einschätzungen zu stehen. Drosten hob hervor, dass Kinder die gleiche Menge Viren ausscheiden könnten wie Erwachsene und jeder positive Coronatest eine Infektion bedeute. Überraschend war jedoch, dass er sich im Untersuchungsausschuss von der Maskenpflicht im öffentlichen Raum distanzierte und angab, eine symptomfreie Testung nie empfohlen zu haben. Zudem kritisierte er Wissenschaftskollegen, die seiner Ansicht nach „unwissenschaftliche Aussagen“ gemacht hätten.

Lausen: Fehlende Impfdaten und „hinterer Platz“ für Deutschland bei Übersterblichkeit
Der Datenanalyst Tom Lausen sah hingegen erhebliche Widersprüche und eine mangelhafte Datengrundlage. Er warf Drosten vor, nicht alles ergebnisoffen zu prüfen. Insbesondere bemängelte Lausen die unzureichende Erfassung von Impfdaten. Obwohl die Kassenärztliche Vereinigung gesetzlich verpflichtet war, Impfdaten – nicht nur zu Schäden, sondern alle relevanten Informationen – an das Paul-Ehrlich-Institut weiterzuleiten, sei dies nicht geschehen. In Sachsen sei der Impfstatus von bis zu 90% der wegen Covid ins Krankenhaus gekommenen Patienten in den Jahren 2021 und 2022 nicht abgefragt worden. Noch gravierender: Eine Anfrage der BSW-Abgeordneten zum Impfstatus bei Coronatoten in Sachsen ergab, dass bei 92,2% der Verstorbenen keinerlei Daten zum Impfstatus vorlagen. Laut Lausen wurden die vorgesehenen Bußgelder für die Nichtmeldung nie erhoben, was die Aussagekraft der Daten erheblich einschränkt. Diese fehlende Datenlage sei in seinen Augen für ein so wichtiges Thema wie eine Pandemie unzureichend gewesen.

Lausen stellte auch die schwedische Strategie in einen anderen Kontext: Während Drosten Vergleiche ablehnte, bemerkte Lausen, dass Deutschland, ein großes Land mit vielen Einwohnern, am Ende bei der Übersterblichkeit auf einem „ziemlich hinteren Platz“ gelandet sei. Er visualisierte, dass viele Länder mit weniger Impfungen am Ende mit weniger Übersterblichkeit davongekommen seien als Deutschland. Dies führte Lausen zu dem Gefühl, dass Deutschland langsam aufwache und merke, dass die Maßnahmen „eher schlecht gewesen“ seien.

Krankenhausüberlastung, Kinder als Pandemietreiber und die Rolle des RKI
Weitere strittige Punkte waren die Behauptung einer drohenden Krankenhausüberlastung und die Rolle von Kindern in der Pandemie:

• Krankenhausüberlastung: Drosten sah 2021 die sächsischen Intensivstationen überfüllt und brachte dies mit einer geringen Impfquote in Verbindung. Andere Sachverständige widersprachen, dass Patientenverlegungen in andere Kliniken und Bundesländer eine Überlastung belegen würden. Zudem kam zutage, dass die Krankenhäuser insgesamt nicht überlastet gewesen seien.

• Kinder als Pandemietreiber: Laut Drosten wurden hierüber „Scheindiskussionen“ in den Medien geführt. Im sächsischen Landtag hatten jedoch bereits andere Sachverständige entgegengesetzte Meinungen geäußert, nämlich dass Kinder und Jugendliche keine Pandemietreiber waren und Kita- sowie Schulschließungen nicht notwendig gewesen wären.

• Robert Koch-Institut (RKI): Verschiedene Sachverständige kritisierten, das RKI habe nicht auf eine breite Basis unterschiedlicher Meinungen gesetzt, sondern ausschließlich ausgesuchte Meinungen abgewogen, was Fragen nach der Steuerung der Pandemiebekämpfung aufwirft.

Die Befragung wurde als sehr intensiv empfunden, wobei insbesondere bei den Datenanalysen die Interpretationsfähigkeit der Daten erklärungsbedürftig sei. Lausen warf Drosten vor, Aussagen anderer Wissenschaftler, die nicht mit seinen Erkenntnissen übereinstimmten, schlichtweg „negiert“ zu haben, was als sehr überraschend empfunden wurde, da den anderen Sachverständigen nicht unterstellt werde, weniger Ahnung von ihren Fachgebieten zu haben.

Die AfD, die den Antrag auf den Corona-Untersuchungsausschuss stellte, pocht auf die Veröffentlichung der Zeugenprotokolle und fragt, was es angesichts öffentlicher Anhörungen zu verbergen gäbe. Für dieses Jahr sind noch zwei weitere Sitzungen in Sachsen geplant, zu denen auch Christian Drosten erneut geladen werden soll, ebenso wie weitere Sachverständige. Damit dürfte die Debatte um die deutsche Corona-Strategie und ihre Folgen noch lange nicht abgeschlossen sein.