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Jenas Corona-Bilanz auf dem Prüfstand: RKI fordert Klarheit und Strategie in Dokumentation

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Ein detaillierter Peer-Review des Robert Koch-Instituts (RKI) wirft ein kritisches Licht auf ein Dokument der Stadt Jena zum Umgang mit der COVID-19-Pandemie. Die Anmerkungen, die einem mutmaßlichen „Strategiepapier“ gelten sollten, zeichnen das Bild eines Textes, der in seiner aktuellen Form weniger eine kohärente Strategie als vielmehr ein Sammelsurium von Einzelmaßnahmen darstellt. Die Kritikpunkte reichen von der Grundstruktur über die Datenpräsentation bis hin zu konkreten inhaltlichen Widersprüchen und dem Fehlen einer klaren strategischen Linie.

Ein „Maßnahmenbündel“ statt Strategiepapier
Die grundlegendste Anmerkung des RKI betrifft bereits den Titel des Dokuments. Es handle sich weniger um ein Strategiepapier als vielmehr um ein Maßnahmenbündel oder einen Zwischenstand im Umgang mit dem Virus. Diese Vermischung von Arbeitshypothesen, Infektionsgeschehen und Situationsbeschreibung erschwert die Lesbarkeit und das Verständnis einer klaren Vorgehensweise.

Kritisiert wird zudem, dass viele der dargestellten Maßnahmen individuell von Ereignissen abgeleitet wurden und sich kein Gesamtbild einer übergeordneten Strategie ergibt. Die Entscheidungen mögen getroffen worden sein, doch eine „Power dargestellte Strategie“ habe gefehlt.

Das RKI schlägt eine klare Umstrukturierung vor, um dem Anspruch eines Strategiepapiers gerecht zu werden. Der Beitrag sollte eine Einleitung mit Problembeschreibung, eine detaillierte Strategiebeschreibung, die Darstellung der Effekte sowie eine abschließende Bewertung mit „lessons learned“ umfassen.

Mangelnde Klarheit bei Daten und Begrifflichkeiten
Besondere Beanstandungen gibt es bei der Darstellung von Daten und der verwendeten Terminologie. Es wird bemängelt, dass Zahlenangaben oft ohne Kontext bleiben und nicht eingeordnet wird, ob sie hoch sind oder ob Vergleichszahlen existieren. Die Differenzierung zwischen Neuinfektionen, Erkrankungen und tatsächlichen Infektionen sei unklar, ebenso wie die Relevanz der „7-Tage Inzidenz“ oder die Angabe pro „100.000 Einwohner“. Konkrete Zahlen wie „327“ müssten präzisiert werden, ob es sich um eine exakte Zahl oder „mehr als die“ handelt.

Die Wirksamkeit von Maßnahmen wird kritisch hinterfragt. Es fehlen Aussagen darüber, welchen Einfluss die Maßnahmen auf das ökonomische und soziale Gefüge der Stadt hatten. Die genaue Definition von „Risikogebieten“ und die Rolle von Pendlern aus diesen Gebieten (z.B. Norditalien, Wuhan) bleiben unzureichend erläutert. Eine spekulative Aussage zur Übertragung durch Personen mit „hohem Bildungsniveau, Einkommen, Mobilität“ bedürfe einer Evidenz oder Differenzierung.

Ein inhaltlicher Widerspruch wird bezüglich der Maskenpflicht hervorgehoben: Während an einer Stelle die Maskenpflicht als maßgeblich für die Reduzierung der Neuinfektionen auf null erwähnt wird, deutet eine andere Passage auf eine andere Interpretation hin. Zudem wird die Verwendung des Begriffs „Schutzmasken“ zugunsten von „MNB“ (Mund-Nasen-Bedeckung) angeregt. Die Aussage einer „freiwilligen Pflicht“ sei widersprüchlich.

Fehlende Visualisierungsstandards und Ausdrucksweise
Auch die grafische Aufbereitung wird kritisiert. Grafiken seien oft unklar in Beschriftung, Datenquellen und Legenden. Eine Abbildung zeige bestimmte Annahmen nicht, und die y-Achsenbeschriftung sowie Bildunterschriften müssten eindeutiger erklären, was abgebildet ist. Der Vergleich von Infektionszahlen mit früheren Grippewellen wird als nicht überzeugend empfunden, da die unterschiedlichen Schlüsse genau betrachtet werden müssten.

Formulierungen wie „sehr hoch“ oder „überraschend“ bedürfen einer Einordnung, und absolute Aussagen sollten nur mit gezeigter Signifikanz gemacht werden. Das RKI fordert eine Verbesserung des „Wording“ für Begriffe wie „Mitarbeitern aus dem volkswirtschaftlichen Umfeld“ und rät davon ab, einzelne Firmen namentlich zu nennen.

Wichtige Empfehlungen und fehlende Aspekte
Das RKI betont die Notwendigkeit, Kommunikation als entscheidenden Faktor in der Pandemiebekämpfung deutlich hervorzuheben, da sie maßgeblich für die Akzeptanz und den Erfolg von Maßnahmen sei. Es fehle an konkreten Empfehlungen im Dokument, und einzelne wichtige Punkte, die nicht Teil der Strategie sind, könnten in einen Dankesabschnitt verschoben werden. Es wird zudem die Frage aufgeworfen, welche Maßnahmen und Prozesse aus dem Maßnahmenbündel unmittelbar implementiert wurden und ob diese auf andere Städte oder Landkreise adaptierbar sind. Die Rückkehr von Studierenden sollte als Ansatzpunkt für ein vorausschauendes Vorgehen beschrieben werden.

Insgesamt legen die Kommentare des RKI nahe, dass das Dokument aus Jena zwar wichtige Einblicke in lokale Maßnahmen gibt, aber in seiner aktuellen Form weder den Ansprüchen eines wissenschaftlichen Strategiepapiers noch der notwendigen Klarheit und Kohärenz genügt, um als übertragbares Modell oder umfassende Bilanz zu dienen. Es ist ein Aufruf zu mehr wissenschaftlicher Präzision und einer stringenten Darstellung des Vorgehens, um die ergriffenen Maßnahmen und deren Effekte nachvollziehbar und bewertbar zu machen.

Neue Bahnstrecke verbindet die Berliner Innenstadt mit dem BER

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Berlin bereitet sich auf eine deutliche Verkürzung der Reisezeiten zum Flughafen BER vor: Nach fast 30 Jahren Planung und Bau wird die Dresdner Bahn am 14. Dezember offiziell eröffnet. Dieses Mammutvorhaben verspricht schnellere, direktere und häufigere Verbindungen zum Flughafen und soll die Verkehrsanbindung Berlins neu ordnen. Doch hinter den Feierlichkeiten verbergen sich auch tiefe Wunden und ungelöste Probleme, insbesondere für die Anwohnerinnen und Anwohner in Lichtenrade.

Schnellere Anbindung und Entlastung für Berlin
Die Eröffnung der Dresdner Bahn ist ein Meilenstein für die Berliner und Brandenburger Verkehrspolitik. Die Fahrzeiten zum BER werden sich drastisch verkürzen:
• Vom Berliner Hauptbahnhof zum BER dauert die Fahrt statt bisher 39 nur noch 23 Minuten.
• Vom Potsdamer Platz sind es künftig 19 Minuten.
• Vom Südkreuz beträgt die Fahrzeit 14 Minuten.

Diese neue Verbindung ermöglicht es, S-Bahn- und Regionalzuglinien in und um Berlin neu zu ordnen und den BER besser anzubinden. Auch der Flughafen selbst profitiert, da die rund 20.000 Menschen, die dort arbeiten, zuverlässiger zu ihren Schichten gelangen können. Alle neuen Verbindungen können auf der Webseite des VBB unter www.vbb.de/ber eingesehen werden. Trotz der anfänglich geplanten vier Züge pro Stunde vom Hauptbahnhof zum BER wird davon ausgegangen, dass dies ausreicht, da weitere Verbindungen, etwa über das Ostkreuz, und die S-Bahn zur Verfügung stehen.

Ein Weg voller Hindernisse und Bürgerprotest
Die Entstehung der Dresdner Bahn war alles andere als ein Spaziergang. Fast 30 Jahre vergingen von der Planung bis zum Abschluss. Anfangs klemmte es, da die beiden Länder, der Bund und die Bahn sich nicht über die Konfiguration, insbesondere in Lichtenrade, einig waren.
Bereits Ende der 90er Jahre formierte sich in Lichtenrade eine Bürgerinitiative, die statt einer ebenerdigen Strecke einen Tunnel forderte. Nach dem Planfeststellungsbeschluss klagten die Anwohner bis zum Bundesverfassungsgericht, scheiterten jedoch. Der Baubeginn erfolgte erst 2017, und selbst zur Eröffnung des Flughafens war das Projekt noch nicht fertig.

Lichtenrade: Das „Herz zerrissen“ und ungelöste Probleme
Für die Menschen in Lichtenrade hat das Projekt tiefe Spuren hinterlassen. „Das Herz von Lichtenrade zerrissen“, so beschreiben es Anwohner. Schallschutzwände, Baustellen und abgeschaffte Bahnübergänge prägen das Bild. Die Bürger haben sich lange und auch gerichtlich gegen die Bahn gewehrt, nun geht es um Schadensbegrenzung.

Ein akutes Problem ist die Schließung des beschrankten Bahnübergangs Wolziger Zeile. Der geplante Fußgänger- und Radfahrtunnel, der eine Querung ermöglichen sollte, ist bis heute nicht freigegeben. Dies zwingt die Anwohner zu einem Umweg von über 20 Minuten. Für Menschen mit Gehproblemen und Betreuer, die mit Menschen mit Behinderung arbeiten und auf kurze Wege zu Ärzten und Einrichtungen angewiesen sind, ist dies eine „große Katastrophe“. Der Tunnel sollte ursprünglich letztes Jahr, dann in diesem Sommer fertig sein, doch es fehlen Bauressourcen.

Auch eine weitere Baustelle direkt am S-Bahnhof Lichtenrade, die seit vier Jahren ruht, sorgt für Frust. Die Bürgerinitiative fühlt sich übergangen: Für die Bahn gebe es freie Fahrt, während die Anwohner auf der Strecke blieben. Sie planen, Lärmmessgeräte zu installieren, sobald der Echtzeitbetrieb Mitte Dezember beginnt, um die tatsächlichen Lärmemissionen zu prüfen.

Professor Christian Böttger von der Hochschule für Technik und Wirtschaft erkennt zwar die Kritik an, stuft die unfertigen Bauarbeiten jedoch als „Kleinigkeiten“ ein. Er sieht die grundsätzliche Ablehnung von Verkehrsprojekten in Deutschland als problematisch an und geht davon aus, dass der Bahnbetrieb, da rechtlich durchgeklagt, wie geplant laufen kann.

Zukunftsvisionen und Systemische Herausforderungen
Die Verkehrssenatorin blickt bereits weiter und denkt über eine Magnetschwebebahn vom ICC zum BER nach. Diese solle keine Konkurrenz, sondern eine Entlastung für den „Knoten Berlin“ darstellen und vom Bund finanziert werden. Professor Böttger zeigt sich zwar interessiert an der Technologie, äußert jedoch ein „leichtes Störgefühl“, da zuerst die Technologie und die Strecke feststehen, bevor über die Grundlagen einer solchen Verbindung nachgedacht wurde. Er mahnt an, dass Berlin sich zunächst auf grundlegende Themen des öffentlichen Verkehrs konzentrieren müsse, wie die Pünktlichkeit der BVG und die Behebung von Planungsfehlern bei Straßenbahnprojekten.

Die Dresdner Bahn ist, wie der BER oder Stuttgart 21, ein Beispiel für die lange Dauer großer Projekte in Deutschland. Professor Böttger erklärt dies mit komplizierten Planungs- und Finanzierungsprozessen sowie weitreichenden Bürgerbeteiligungsrechten, die Projekte verzögern.

Trotz aller Widrigkeiten und anhaltenden Diskussionen rollt ab Mitte Dezember eine schnellere Bahn vom Hauptbahnhof zum BER. Ein Grund zum Feiern für die Ausführenden, doch ein „kein Ruhmesblatt für Berlin“, wie Professor Böttger die langwierige Planung beschreibt.

Datenanalyst Tom Lausen kritisiert Aufarbeitung der Corona-Krise in Thüringen: „Eine Farce“

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Erfurt, Thüringen – Im Rahmen des Corona-Untersuchungsausschusses in Thüringen hat der Datenanalyst Tom Lausen eine scharfe Kritik an der Aufarbeitung der Pandemie geäußert und die Darstellungen anderer Sachverständiger, insbesondere Dr. Lundershausen und Dr. Dickmann, als nicht sachgerecht zurückgewiesen. Er präsentiere „Daten und nicht böse Absichten“ und sehe die Bemühungen, das Geschehene im Nachhinein schönzureden, als problematisch an, insbesondere angesichts von 13.000 Toten in Thüringen.

Kritik an der Darstellung der Krise
Lausen, der selbst als Datenanalyst im Ausschuss gehört wurde, bemängelt, dass seine Vorrednerinnen, darunter die ehemalige Präsidentin der Landesärztekammer Thüringen, Dr. Lundershausen, und die Risikokommunikationsexpertin Dr. Petra Dickmann, keine datenbasierten Erkenntnisse, sondern vielmehr emotionale Darstellungen und Behauptungen präsentiert hätten, man habe alles gut gemacht. Er widerspricht explizit der Annahme, dass die Impfungen „toll gewirkt“ hätten und man Busfahrer und andere Berufsgruppen hätte impfen sollen, da dies keine Strategie sei, sondern die Hinnahme einer Situation, in der man sich auf Pharmafirmen verlasse.

Entkräftung der Überlastungsthese durch Daten
Ein zentraler Punkt von Lausens Vortrag war die Widerlegung der These einer Überlastung der Krankenhäuser. Während Dr. Lundershausen und Dr. Dickmann der Meinung waren, es habe sehr wohl eine Überlastung gegeben, der man nur durch das Verschieben wichtiger Operationen und ständige Patientenverlegungen Herr geworden sei, legte Lausen gegenteilige Zahlen vor. Er erklärte, dass Patientenverlegungen zum Tagesgeschäft deutscher Krankenhäuser gehören. Im Jahr 2019 wurden in Thüringen rund 18.600 Patienten verlegt, im Jahr 2020 waren es sogar nur etwa 16.500. Zwar gab es auf Intensivstationen 2020 etwas mehr Verlegungen, doch Lausen betonte, dass dies das Verlegungsargument als „propagandistisches Element“ komplett aufhebe. Er bezeichnete es als „frech“, zu behaupten, Verlegungen hätten alles gerettet, und sah den Einsatz von Bundeswehrmaschinen für Verlegungen als eine „mediale Inszenierung“ ohne Notwendigkeit an.

Zweifel an der Statistik zu ungeimpften Patienten
Bezüglich der Behauptung, 90 % der schweren Verläufe hätten ungeimpfte Patienten betroffen, äußerte Lausen ebenfalls Bedenken. Er forderte eine genaue Betrachtung von Zeitpunkten und Zeiträumen und kritisierte, dass Dr. Lundershausen möglicherweise nur eine Momentaufnahme ohne genaue Quellenangabe oder Fallzahlen herangezogen habe. Lausen wies darauf hin, dass die Bundesregierung Daten vorlege, die zeigten, dass bei vielen im Krankenhaus liegenden Corona-Fällen der Impfstatus nicht erhoben, ermittelt oder verfügbar gewesen sei. Dies sei eine grundsätzliche Problematik, die verlässliche Aussagen verhindere. Er verwies darauf, dass im Herbst 2021, zum Zeitpunkt der 2G-Maßnahmen in Thüringen, viele Patienten mit Pflegegraden im Krankenhaus lagen und starben. Diese Menschen seien höchstwahrscheinlich geimpft gewesen, da sie oft aus Pflege- oder Altenheimen stammten, wo Ungeimpfte kaum zugelassen wurden, insbesondere wenn sie ihren Impfstatus nicht selbst bestimmen konnten. Dies stelle die Aussage von Dr. Lundershausen infrage.

Gesamtsterblichkeit als entscheidender Indikator
Lausen betonte die Notwendigkeit, die Gesamtsterblichkeit zu betrachten, anstatt sich ausschließlich auf wöchentliche Dashboards zu konzentrieren, die lediglich die COVID-19-Todesfälle zeigten. Er argumentierte, dass bei einer neuen Krankheit immer auch die Frage gestellt werden müsse, ob insgesamt mehr Menschen sterben als erwartet, um eine mögliche Umetikettierung von Todesursachen auszuschließen. Das wichtigste Ziel sei immer, Todesfälle zu verhindern, weshalb die Übersterblichkeit der entscheidende Endpunkt sei. Die Fokussierung auf die Einzelsterblichkeit von Corona verkenne die Realität und die umfassenderen Probleme.

Ablehnung von ausländischen Daten im Krisenmanagement
Lausen kritisierte vehement die Heranziehung von Daten aus Israel, Australien, England oder Südkorea zur Beurteilung der Lage in Thüringen. Er argumentierte, ein thüringischer Ministerpräsident müsse die Krise im eigenen Land managen und auf die Nachbarländer schauen, nicht ins Ausland. Die Verwendung von englischen Zahlen, wie sie auch von Prof. Drosten als Rechtfertigung für Maßnahmen genannt wurden, sei nicht nur unnötig, da deutsche Daten verfügbar gewesen wären, sondern auch irreführend, da England seiner Meinung nach „ziemlich schlecht abgeschnitten“ habe. Die Vergleichbarkeit von Daten aus verschiedenen Ländern sei zudem fragwürdig, da geografische und bevölkerungsspezifische Unterschiede relevant seien. Die hohen Übersterblichkeitsraten in Bergamo oder Madrid seien Ausnahmen gewesen und könnten nicht verallgemeinert werden.

Datenbasierte Entscheidungen versus „First Mover“-Strategie
Der Datenanalyst hob hervor, dass Daten die Grundlage für jede Entscheidungsfindung sein müssen. Er widersprach der Ansicht, in einer akuten Situation müsse man schnell handeln („First Mover“) und erst später Daten abgleichen. Lausen betonte, dass man keine Maßnahmen ergreifen dürfe, die Schaden anrichten, wenn keine Krisensituation im Krankenhaus vorliege und keine absehbar sei. Maßnahmen seien nicht immer gut, sondern könnten auch Schaden anrichten, indem sie Menschen verschrecken, Lebenswillen nehmen oder die Betreuung verschlechtern. Die Pflicht der Verordnungsgeber sei es gewesen, die Daten anzusehen und darauf basierend Entscheidungen zu treffen. Er sah ein „Unverständnis von Krisenlagen“ in der Haltung, die Wirklichkeit von den Entscheidungen abzukoppeln.

Deutschland im Vergleich zu Schweden
Abschließend stellte Lausen einen deutlichen Vergleich zwischen Deutschland und Schweden her. Er führte an, dass Schweden seit der Impfkampagne bei der Übersterblichkeit auf Platz 1 in Europa abgeschnitten habe, während Deutschland auf Platz 21 liege. Mit einer Übersterblichkeit von etwa 2 % in Schweden gegenüber rund 10 % in Deutschland, zeige sich, dass das größte Land in Europa „richtig schlecht abgeschnitten“ habe. Trotzdem wolle niemand mehr hinschauen.

Lausen sieht seine Aufgabe darin, Fakten sichtbar zu machen und Daten zu präsentieren, um eine fundierte Aufklärung zu ermöglichen, anstatt „Verschwörungstheorien“ zu nähren, wie ihm teilweise unterstellt wurde. Er kritisiert, dass ein anfangs beklagter „wackeliger Datenlage“ nun, wo Daten verfügbar sind, nicht gehört werden wolle.

Ein Blick hinter den Eisernen Vorhang: Alltag und Härte der DDR-Grenztruppen

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Ein ehemaliger Offizier der DDR-Grenztruppen gewährt seltene Einblicke in den harten und von Misstrauen geprägten Alltag an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer. Die Informationen stammen aus einem Video auf dem YouTube-Kanal „Zurückgespult – Geschichte auf VHS-Band“, das die Mechanismen des Überwachungsstaates beleuchtet.

Alltag im Grenzdienst: Beobachtung und Diffamierung von Flüchtlingen
Der Dienst an der Grenze war für die Soldaten eine intensive Aufgabe: In der Regel verbrachten sie 8 bis 10 Stunden täglich direkt an der Grenze. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, in der sogenannten „feindfertigen Richtung“ – also in Richtung Bundesrepublik – zu observieren. Ziel war es, Angehörige des Bundesgrenzschutzes (BGS), des Zolls, zivile Personen oder Truppenansammlungen zu identifizieren und zu melden.
Besondere Vorsicht war geboten, wenn es um die Flucht aus der DDR ging. Der ehemalige Offizier berichtet, dass Flüchthilfen meist schon vorab als „Vorfahndungsmeldungen“ bekannt waren, die den Soldaten die wahrscheinlichen Abschnitte nannten, in denen mit Grenzübertritten zu rechnen sei. Um die Soldaten psychologisch vorzubereiten, wurden potenzielle Flüchtlinge systematisch dämonisiert: Sie wurden als „Verbrecher“, „mehrfach vorbestraft“ und „bewaffnet“ dargestellt, obwohl die Beschaffung einer Waffe in der DDR nahezu unmöglich war. Diese Darstellungen sollten die Soldaten „heiß machen“.

Die Festnahme von Flüchtlingen wurde von der DDR-Führung großzügig belohnt. Soldaten erhielten Auszeichnungen in Form von Medaillen, Orden, Urlaub, Geldprämien von etwa 150 Mark oder sogar Kaffeemaschinen.

Der Schießbefehl: Eine grausame Realität bis zuletzt
Trotz eines neuen Grenzgesetzes von 1982, das die Schusswaffenbrauchsordnung formell festlegte, blieb der berüchtigte „Schießbefehl“ bis zuletzt in Kraft. Die Soldaten erhielten bei jeder „Vergatterung“ – der täglichen Befehlsausgabe vor dem Einsatz – die Anweisung, Grenzverletzer aufzuspüren, festzunehmen „oder zu vernichten“.

Die Geschichte der Grenztruppen: Vom Polizeiapparat zur „Elitetruppe“
Die Ursprünge der DDR-Grenzsicherung reichen weit zurück. Bereits 1946 erteilte die sowjetische Besatzungsmacht Anweisungen zur Aufstellung einer Grenzpolizei. Bis zur Gründung des Bundesgrenzschutzes 1951 umfasste die deutsche Grenzpolizei der DDR bereits rund 20.000 Mann. Ihre Zugehörigkeit wechselte mehrfach zwischen dem Ministerium des Innern und dem Ministerium für Staatssicherheit.

Mitte der 1950er Jahre erfolgte eine Umstrukturierung von einer Polizeieinheit zu einer Grenztruppe. Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 wurden sie im September desselben Jahres als „Kommando Grenze der NVA“ in die Nationale Volksarmee (NVA) integriert. In den 1960er Jahren galten sie als „Garde der nationalen Volksarmee“ – eine Art Elitetruppe. Aus strategischen Gründen, um die 50.000 Mann starke Truppe nicht bei den Wiener MBFR-Verhandlungen (Verhandlungen über einen Truppenabbau in Europa) ausweisen zu müssen, wurden die Grenztruppen Experten zufolge entweder 1972/73 oder ein Jahr später wieder aus der NVA ausgegliedert.

Die Berliner Mauer: Ein „Stachel im Fleisch“
Die 162 Kilometer lange Grenze der DDR zu West-Berlin war ähnlich aufgebaut wie die innerdeutsche Grenze, mit ausgeklügelten Überwachungs- und Sperrsystemen, einschließlich Hundelaufanlagen. Selbst in Flüssen und Seen markierten Grenztonnen die Demarkationslinie, an die sich Wassersportler und Angler gewöhnen mussten. Trotzdem blieb diese Grenze „der Stachel im Fleisch der Deutschen“ und ein Zeichen „rücksichtsloser Entschiedenheit“.

Die 44,8 Kilometer lange Berliner Mauer, die Sektorengrenze zwischen Ost- und West-Berlin, galt als praktisch unüberwindbar und aus östlicher Richtung kaum durchlässig. Immer wieder gab es Sprengstoffanschläge auf das „hässliche Bauwerk“, zuletzt offenbar von Rechtsradikalen. Ein dramatischer Vorfall während der Dreharbeiten im Juni 1986 zeigte die Härte dieser Grenze: Ein 17-jähriger West-Berliner raste mit seinem Auto gegen die Mauer, durchbrach zwei Betonplatten und landete verletzt auf DDR-Gebiet. Während der Fahrer medizinisch versorgt und in Gewahrsam genommen wurde, schoben DDR-Grenztruppen den PKW umgehend durch das Mauerloch auf West-Berliner Gebiet zurück.
Die Mauer bleibt ein Symbol der Trennung, poetisch beschrieben als „Mauer die Mauer grau und kahl“, „schmutzige Schande“ und „aus Hassbeton“. Eine „Röhre aus Stahlbeton“ auf der Mauer, an der „die Hände abrutschen“ und „die Blicke abgleiten“, verdeutlichte die Unüberwindbarkeit.

Kerstin Meisners Flucht vor einem Staat, der „irsinnige Angst“ hatte

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Kerstin Meisner sehnte sich nach Meinungsfreiheit, Demokratie und weniger Reglementierungen in der DDR. Im Frühjahr 1983 fasste sie einen weitreichenden Entschluss: Sie wollte die Deutsche Demokratische Republik verlassen. Gemeinsam mit ihrem Verlobten und einem Bekannten plante sie einen Fluchtversuch, der sie über die Tschechoslowakei und Österreich in die Bundesrepublik führen sollte.

Die drei waren sich der immensen Risiken bewusst. Eine Flucht über die Westgrenze der DDR, sei es nach Westdeutschland oder Berlin, schlossen sie schnell aus. Sie hatten die Grenzanlagen in Berlin-Friedrichstraße besichtigt und wussten um Stacheldraht, die Mauer, Selbstschussanlagen, Minen und breite, überwachte Grenzstreifen. Die Gefahr, erschossen zu werden, war real und keine Option. Auch ein offizieller Ausreiseantrag kam für sie nicht infrage, da dies jahrelanges Warten, Repressalien und möglichen Arbeitsplatzverlust bedeuten konnte.

Der Plan: Verhaftung einkalkuliert, auf Freikauf gehofft
So kristallisierte sich heraus, dass nur der Weg über das „sozialistische Ausland“ blieb. Ihnen war klar, dass der Fluchtversuch zu 80 % nicht funktionieren würde und sie ins Gefängnis kommen würden. Doch genau das war Teil ihres Plans: Sie wollten sich verhaften lassen, um dann durch die Bundesrepublik freigekauft zu werden und so nach Westdeutschland zu gelangen.

Am 13. April 1983 wurde Kerstin Meisner in der Tschechoslowakei festgenommen. Bei den Verhören, die nicht besonders lange oder schlimm waren, legte sie sofort die Wahrheit auf den Tisch. Sie bestätigte, dass sie nach Bratislava, Österreich und schließlich nach Bayern wollte und ihr bewusst war, dass dies „Republikflucht“ nach Paragraph 213 war.

Einzelhaft unter schwierigen Bedingungen
Zunächst verbrachte Kerstin Meisner zwei Wochen in Einzelhaft in der Tschechoslowakei. Die Bedingungen dort waren extrem unangenehm:
• Alle Bediensteten waren Männer, und es gab Sprachbarrieren.
• Die Zelle im Erdgeschoss war trotz Mitte April sehr kalt, möglicherweise wegen der dicken Mauern.
• Sie durfte sich tagsüber nicht aufs Bett legen.
• Es gab nur kaltes Wasser, und die hygienischen Bedingungen waren schlecht; sie erhielt keine Zahnbürste und ihre private Kleidung wurde zwei Wochen lang nicht gewaschen.
• Die kombinierte Toilette und Waschgelegenheit mit einem kalten Wasserstrahl empfand sie als eklig.

In dieser Zeit, beim Blick aus dem Fenster auf Frauen, die Wäsche aufhingen, begriff sie zum ersten Mal, „was Freiheit eigentlich bedeutet“.

Von Hohenschönhausen bis zum Freikauf
Nach der Einzelhaft in der Tschechoslowakei wurde Kerstin Meisner in die DDR überstellt. Ihre erste Station war die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Berlin-Hohenschönhausen. Dort musste sie sich einer kompletten Entkleidung und Untersuchung aller Körperöffnungen unterziehen. Dies empfand sie als „sehr, sehr unangenehm“ und gleichzeitig als „paradox und albern“, da sie sich fragte, wovor der Staat Angst hatte, was sie aus dem Gefängnis hätte mitbringen sollen. Sie sah darin ein Zeichen der „irsinnigen Angst“ des Staates vor oppositionellen Menschen.
Anschließend wurde sie nach Potsdam verlegt. Im Juli 1983 erfolgte die Verurteilung wegen „ungesetzlichen Grenzübertritts“ zu einem Jahr und fünf Monaten Haft. Ihre Strafzeit verbrachte sie in einem Frauenarbeitskommando in einer Wäscherei in Leipzig-Markkleeberg. Dort stellte sie auch einen Ausreiseantrag.

Ein Jahr nach ihrer Festnahme, im April 1984, wurde Kerstin Meisner schließlich von der Bundesrepublik freigekauft. Die Ausreisehaft erfolgte im Kaßberg-Gefängnis Karl-Marx-Stadt. Ihr wohlüberlegter und riskanter Plan war aufgegangen.

Bürokratie-Chaos: Warum Ostdeutschland Integrationspotenziale ungenutzt lässt

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Zehn Jahre nach Angela Merkels historischem Satz „Wir schaffen das“ präsentiert sich die Integration von Geflüchteten in Ostdeutschland als ein komplexes Bild aus Erfolgen, ungenutzten Potenzialen und systemischen Hürden. Während Unternehmen und Städte wie Neubrandenburg von der Zuwanderung profitierten und viele Menschen ein neues Leben aufbauen konnten, bleibt die Entwicklung einer gemeinsamen, zielgerichteten Integrationspolitik eine ungelöste Aufgabe.

Herausforderungen im Alltag und bei der Jobsuche
In Städten wie Neubrandenburgs Oststadt, einem Plattenbauviertel, das heute einen 50 Prozent höheren Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund aufweist als der Rest der Stadt, treten im Zusammenleben vielfältige Probleme auf. Vermittler der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Neuwoges sind täglich gefordert, da seit 2015 1200 Mietverträge an ausländische Mieter vergeben wurden. Konflikte entstehen oft durch kulturelle Unterschiede – etwa bei der Mülltrennung oder dem Verständnis deutscher Hausordnungen, die zu Schäden und Ärger in der Nachbarschaft führen können. Sozialarbeiterinnen berichten sogar von eskalierenden Gesprächen, die Unterstützung durch Sicherheitsdienste erforderten, da Sprachbarrieren die Einschätzung und Lösung von Problemen erschweren. Viele langjährige Bewohner empfinden die Veränderungen als negativ und sehen die Oststadt als „Brennpunkt“, wo sich der Kontakt zwischen deutschen und migrantischen Mietern aufgrund von Verständigungsproblemen kaum entwickelt.

Die Sprachbarriere ist ein wiederkehrendes Thema. Auch nach Jahren in Deutschland haben viele Migranten, wie der Palästinenser Ahmad Umay, Schwierigkeiten, sich im Alltag ohne Hilfe zurechtzufinden. Obwohl sein Deutsch für seinen Job bei Amazon ausreicht, ist er bei Behördengängen oder dem Ausfüllen komplexer Formulare auf die Unterstützung von Freunden wie Doreen angewiesen.

Besonders im Bereich der Arbeitsmarktintegration stoßen Geflüchtete auf große Schwierigkeiten. Viele sind zwar hochmotiviert, schnell finanziell unabhängig zu werden, bleiben jedoch beruflich unter ihren Qualifikationen. Dies liegt oft an fehlenden Nachweisen ihrer im Ausland erworbenen Bildungs- und Berufsabschlüsse sowie an langwierigen Bürokratieprozessen und Wartezeiten. Rashid, ein ausgebildeter Taucher aus Syrien, kann seine frühere Arbeitserfahrung nicht nachweisen und wird ihm vom Jobcenter lediglich ein Job als Paketbote angeboten, während sein Antrag auf eine Weiterbildung abgelehnt wurde.

Die Jobcenter-Bürokratie erweist sich als massives Hindernis. Ein Programm der Johanniter, das Geflüchtete zu Rettungssanitätern und Pflegehilfskräften ausbilden sollte, scheiterte an der inkonsistenten Vergabe von Bildungsgutscheinen. Bewerber wurden teils ohne klare Begründung abgelehnt oder mit unnötigen Zusatzanforderungen belegt, was zu geringen Teilnehmerzahlen und einem finanziellen Verlust von 60.000 Euro für die Johanniter führte, die das Angebot einstellen mussten. Obwohl der Bedarf an Pflegekräften in Deutschland bis 2049 um ein Drittel steigen wird, konnten die Potenziale der Geflüchteten nicht ausreichend genutzt werden. Die Migrationsforscherin Birgit Glorius kritisiert, dass die Kriterien für Bildungsgutscheine regional unterschiedlich ausgelegt werden und oft von der „politischen Kultur vor Ort“ abhängen, die Geflüchtete entweder als Potenzial oder als „Verhandlungsmasse“ betrachtet.

Erfolge und Zukunftsperspektiven
Trotz der zahlreichen Hürden gibt es auch Beispiele gelingender Integration. Die Wohnungsbaugesellschaft Neuwoges in Neubrandenburg profitierte erheblich von der Zuwanderung. Nach jahrelanger Abwanderung und dem Abriss von etwa 3000 Wohnungen seit den 1990er Jahren stoppte der Zuzug von Geflüchteten den weiteren Abriss und führte zu einer Reduzierung des Wohnungsleerstands auf nur noch rund zwei Prozent. Dies sicherte Einnahmen und ermöglichte Investitionen in die Sanierung von Gebäuden, was Vorteile für alle Mieter mit sich brachte.

Auch persönliche Erfolgsgeschichten zeigen, dass Integration möglich ist. Abdullah, ein syrischer Geflüchteter mit Tiermedizin-Studium, konnte seinen ursprünglichen Berufswunsch nicht fortsetzen. Doch durch das Johanniter-Programm absolvierte er eine Ausbildung zum Rettungssanitäter und später zum Pfleger. Heute ist er eine gefragte Fachkraft im Gesundheitswesen und leistet einen wichtigen Beitrag zur Versorgung älterer Menschen.

Soziale Projekte tragen zur Völkerverständigung bei. Das Programm „Schmaus und Plausch“ der Neuwoges bringt im Stadtteilbüro Neubrandenburgs alteingesessene und zugewanderte Bewohner zum gemeinsamen Kochen und Essen zusammen. Hier sind bereits Freundschaften und Bekanntschaften entstanden, wie Rentnerin Karin und die iranische Geflüchtete Hanifah berichten. Hanifah selbst möchte Köchin werden und hat ambitionierte Pläne für ihre Kinder: Sie sollen Abitur machen und Ärzte werden.

Migrationsforscherin Birgit Glorius hebt hervor, dass die „zweite Generation“ – also Kinder, die jung als Geflüchtete kamen oder in Deutschland geboren wurden – die größten Integrationschancen hat. Sie sind die „Gewinner“ dieser Bewegung, während jene, die bereits eine Berufsbiografie mitbrachten, oft nicht daran anknüpfen konnten.

Insgesamt zeigt sich zehn Jahre nach „Wir schaffen das“: Das Versprechen konnte dort eingelöst werden, wo Unternehmen Chancen nutzten und Menschen sich persönlich engagierten. Doch eine kleinteilige Bürokratie und langwierige Prozesse verhindern oft eine effektive und schnelle Integration in den Arbeitsmarkt. Während 75 Prozent der 2015 angekommenen Männer bis 2022 in Arbeit waren (bei Frauen 31 Prozent), bleibt die Fähigkeit, die hohe Motivation der Geflüchteten in qualifizierte Arbeit umzusetzen, eine zentrale Herausforderung, die dringend eine gemeinsame, zielgerichtete Integrationspolitik erfordert.

Eine Gesellschaft am Scheideweg: „Triggerpunkte“ und die Suche nach der Mitte

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Die Verleihung des Preises „Das politische Buch“ 2024 an Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westhäuser für ihr Werk „Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ war mehr als eine akademische Ehrung; sie war ein Weckruf und eine Bestätigung zugleich. In Zeiten, in denen das Gefühl einer tief gespaltenen Gesellschaft allgegenwärtig scheint, liefert dieses Buch eine dringend benötigte, empirisch fundierte Analyse, die Mut macht und gleichzeitig zum Handeln auffordert.

Die vielleicht wichtigste Erkenntnis der Autoren ist die Widerlegung der These einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in zwei feindliche Lager. Stattdessen sprechen sie von einer „zerklüfteten Konfliktlandschaft“ und betonen, dass wir weiterhin auf einen relativ breiten Konsens in der Mitte der Gesellschaft bauen können. Das ist eine ungemein motivierende Nachricht, besonders für alle, die um den gesellschaftlichen Zusammenhalt ringen.

Doch es gibt keinen Grund, sich zurückzulehnen, denn das Buch identifiziert „Triggerpunkte“. Diese „Sollbruchstellen der öffentlichen Debatte“ sind oft vermeintlich kleine Fragen, die aber als Chiffren für tiefere gesellschaftliche Konflikte dienen und verlässlich zu einer hohen Emotionalisierung der Diskussion führen. Beispiele wie das Gendersternchen oder Transgender-Toiletten mögen auf den ersten Blick trivial erscheinen, aber sie entzünden sich, wenn Menschen das Gefühl haben, eine „rote Linie“ werde überschritten, Dinge „geraten außer Kontrolle“ oder die „Normalität“ werde verletzt.

Das Kernproblem: Die „schweigende Mitte“. Dieses große Segment der Bevölkerung – etwa zwei Drittel, die in wichtigen Konfliktfeldern wie Migration, Identität oder Klima „desorganisiert“ oder „differenzierte Meinungen“ haben – bleibt in der öffentlichen Auseinandersetzung oft unsichtbar. Sie wird von einem lauten und zunehmend radikalisierten rechten Rand übertönt. Die Autoren argumentieren überzeugend, dass Polarisierung oft „von oben erzeugt“ wird. Politische und mediale Akteure spitzen bewusst Themen zu, um Menschen emotional zu mobilisieren. Tragischerweise scheint diese „Affektpolitik“ von der rechten Seite leichter herzustellen zu sein.

Die Gefahren dieser Entwicklung sind alarmierend. Wenn aus radikalen Worten tätliche Gewalt wird, wie jüngste Angriffe auf Politiker wie Matthias Ecke in Sachsen schockierend gezeigt haben, müssen alle Demokratinnen und Demokraten alarmiert sein. Solche Angriffe zielen auf den Kern unserer Demokratie, indem sie einschüchtern und verängstigen wollen.

Auch die Medien spielen eine Rolle. Durch die algorithmische Prämierung extremer Positionen und die Konzentration auf Aufreger-Themen, die Klickzahlen versprechen, verstärken sie die Polarisierung und tragen zu einer „gefühlt polarisierten Gesellschaft“ bei. Politiker wiederum haben einen Anreiz, zuzuspitzen, um Medienpräsenz zu erlangen.

Was ist also zu tun? Das Buch liefert zwar keine fertigen Rezepte, aber denkbare Strategien zum Umgang mit Polarisierung:

• Antizipation und Versachlichung: Politische Programme sollten potenzielle Triggerpunkte vorhersehen, um sachliche Diskussionen zu ermöglichen und Gegennarrative zu etablieren.

• Dethematisierung und Gegen-Emotionalisierung: Manchmal muss man Provokationen ignorieren, um eine Eskalation zu vermeiden. Aber es braucht auch den Mut zur klaren Kante und eigenen positiven Triggern, um demokratische Werte zu verteidigen und radikalen Normbrüchen entgegenzutreten. Wie Petra Köpping betonte: Manchmal muss man laut und klar einfordern, dass die Polarisierung der radikalen Ränder beendet wird.

• Stärkung der „stillen Mitte“: Es ist entscheidend, dieser Gruppe mit ihren differenzierten Meinungen wieder eine Stimme und Raum zu geben.

• Bekämpfung von Ungleichheit: Extreme Vermögensungleichheit untergräbt den demokratischen Diskurs, da sie den Zugang zu medialer und politischer Macht ungleich verteilt. Die „demobilisierte Klassengesellschaft“, in der Menschen Ungleichheit erleben, aber kaum Hoffnung auf kollektive Handlungsfähigkeit setzen, muss wieder mobilisiert werden. Die „Verteilungsfrage“ muss stärker politisiert werden.

• Wiederherstellung von Vertrauen und mutiger Idealismus: Politik muss Probleme lösen und konkret abrechnen. Die Sozialdemokratie hat die Aufgabe, die stille Mitte mitzunehmen, ohne dabei Haltung und Richtung zu verlieren. Es braucht ein klares, emotional ansprechendes Ziel für die Gesellschaft, das über bloße Verwaltung hinausgeht. Robert Misik empfiehlt, auf die Macht des Wortes, des Nachdenkens und des Abwägens, aber auch auf die Macht der Gesprächsführung zu setzen, die Zuhören und Argumentieren umfasst.

• Respekt: Als zentraler Begriff, der die Gesellschaft zusammenhalten kann, indem er die Arbeit, Leistung und Lebensweise der „einfachen Leute“ wertschätzt.

Der Blick nach Ostdeutschland zeigt, dass die Polarisierung dort zwar nicht unbedingt größer, aber schneller ankommt, bedingt durch tiefsitzende Verlustängste und Erfahrungen der Transformation. Doch trotz dieser Herausforderungen bleibt ein Grund zum Optimismus: Sachsen verfügt über eine „unheimlich gut organisierte Zivilgesellschaft“, auf die man setzen kann, um die negative Entwicklung abzuwenden.

Das Buch „Triggerpunkte“ ist somit nicht nur eine beeindruckende Analyse unserer Gegenwart, sondern auch ein Plädoyer für eine handlungsfähige Demokratie. Es erinnert uns daran, dass die Zukunft nicht vorherbestimmt ist, sondern von unserem gemeinsamen Engagement abhängt. Es ist ein Appell an uns alle, die differenzierte Meinung zu pflegen, den Diskurs zu versachlichen, wo nötig, aber auch klar und mutig für die Werte unserer Demokratie einzustehen.

Das falsche Leben leben: Wie gesellschaftliche Erwartungen unsere Identität formen

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In einem tiefgehenden Gespräch beleuchtet der Psychotherapeut und Bestsellerautor Dr. Hans-Joachim Maaz das Phänomen der Normopathie und des „falschen Lebens“, das viele Menschen dazu bringt, im Alltag zu funktionieren, sich aber innerlich leer zu fühlen. Er argumentiert, dass gesellschaftliche Erwartungen unsere Identität von Kindheit an prägen und emotionale Entfremdung zu einer weit verbreiteten Normalität geworden ist.

Die Wurzeln des „falschen Lebens“ und emotionale Entfremdung
Laut Dr. Maaz beginnt das „falsche Leben“ schon in der Kindheit. Kinder lernen sehr früh, wie sie sich verhalten müssen, um Zuwendung und Bestätigung von ihren Eltern und der Gesellschaft zu erhalten. Dies geschieht oft unkritisch und mündet in eine Selbstentfremdung, bei der das Kind nicht dazu ermutigt wird, herauszufinden, „wer bin ich denn wirklich“, sondern lernt, so zu sein, wie es gewünscht wird. Eltern handeln dabei oft nicht aus böser Absicht, sondern weil sie wissen, dass Anpassung dem Kind Schwierigkeiten in der Schule oder im Kindergarten erspart.

Diese frühkindliche Prägung führt dazu, dass viele Menschen später ein Leben führen, das sich nicht authentisch anfühlt – ein „falsches Leben“, das Dr. Maaz als ständigen, permanenten Stressfaktor identifiziert, der krank machen kann. Erkrankungen werden so zu einem „Feedbacksystem“, das auf das falsche Leben hinweist und ein „Fenster der möglichen Erkenntnis“ öffnet, was uns wirklich krank gemacht hat.

Normopathie: Wenn die Gesellschaft sich selbst täuscht
Der Begriff der Normopathie beschreibt einen angepassten Menschen, dessen Leben davon abhängt, Erwartungen zu erfüllen. Überträgt man dies auf die Gesellschaft, spricht Maaz von einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung, die nicht mehr als problematisch erkannt wird, weil die Mehrheit sich so verhält. Das menschliche Grundbedürfnis nach sozialer Eingebundenheit und Anerkennung übt einen starken Verführungsdruck aus, „hochabnorme Dinge mitzumachen“.

Dr. Maaz sieht Normopathie in der Geschichte wiederkehren: vom Nationalsozialismus über den DDR-Sozialismus bis hin zur heutigen finanzkapitalistischen Normopathie, in der menschliche Konkurrenz über Verbundenheit dominiert. Symptome dieser Normopathie sind Narzissmus, übermäßiges Leistungsstreben und Profitgier, die als Kompensation für ein tief sitzendes narzisstisches Defizit – eine Unsicherheit des Selbstwertes – dienen. Während gesunder Egoismus wichtig ist, um für sich selbst zu sorgen, treibt der Narzissmus zu einem Suchtverhalten nach immer mehr Geltung, Geld und äußerem Erfolg an, da diese keinen echten Ersatz für Liebe bieten.

Die Bedeutung der „Omegas“ und der echten Kommunikation
In jeder Gruppe gibt es nach Maaz „Omegas“ – Außenseiter, die kritisch sind und oft Wahrheiten vertreten, die die Mehrheit nicht sehen will. Er betont, wie wichtig es ist, diesen Stimmen zuzuhören, da sie Aufschluss darüber geben können, worin eine Gesellschaft normopathisch geworden ist. Als Beispiel nennt er die kritischen Fragen während der Corona-Pandemie, die oft ausgegrenzt wurden, anstatt als gesunder Teil eines gesellschaftlichen Diskurses akzeptiert zu werden.

Die gesündeste Form sozialer Kommunikation erfordert laut Dr. Maaz, dass man anfängt, von sich selbst zu sprechen – von persönlichen Erfahrungen, Ängsten und Unsicherheiten, statt nur über politische oder ideologische Argumente. Wenn Menschen ihre persönlichen Beweggründe offenlegen, können sie trotz unterschiedlicher Meinungen Verständnis füreinander entwickeln und Freundschaften oder Kooperationen aufrechterhalten.

Wege zur Heilung und Selbstfindung

Für die Heilung vom „falschen Leben“ und die Entwicklung eines authentischen Selbst schlägt Dr. Maaz mehrere Schritte vor:

• Akzeptanz des kritischen Gefühls: Zuerst muss man zulassen, dass man sich möglicherweise auf dem falschen Weg befindet.

• Selbsterfahrung: Dies beinhaltet das Sammeln vielseitiger Informationen aus unterschiedlichen Quellen, um eine selbstkritische Haltung zu dem zu entwickeln, was als richtig angesehen wird. Er warnt vor einseitiger Information und betont die Notwendigkeit eines gesunden Misstrauens gegenüber politisch oder medial verbreiteten Aussagen.

• Kommunikativer Austausch: Die Beziehungskultur zu pflegen, indem man Gelegenheiten schafft, sich mit anderen Menschen auszutauschen, die bereit sind zuzuhören und zu verstehen, anstatt zu belehren oder zu kritisieren. Auch im Freundeskreis kann man sich bewusst mit anderen Meinungen auseinandersetzen, um die eigene Perspektive zu erweitern.

• Bewusstes Handeln: Es geht darum, herauszufinden, was man leisten will und leisten kann, anstatt nur leisten zu müssen. Sich durch Arbeit oder Tätigkeit selbst zu verwirklichen, kann eine Lebensfreude sein. Methoden wie Meditation können dabei helfen, nach innen zu gehen und zu spüren, was wirklich zu einem passt.

• Elternschaft: Eltern können ihren Kindern helfen, indem sie zuerst sich selbst verstehen und ihre eigenen Defizite und Prägungen reflektieren, anstatt diese unbewusst auf die Kinder zu übertragen. Es geht darum, dem Kind ein Gefühl für die eigenen Grenzen zu vermitteln, anstatt das Kind für übertriebene Forderungen verantwortlich zu machen.

Dr. Maaz betont, dass die Reise zur Selbsterkenntnis ein niemals endender lebenslanger Prozess ist. Wichtig ist das Bemühen, sich selbst und andere immer besser zu verstehen, auch wenn man nicht immer einer Meinung ist. Dies ist die Grundlage für eine gesunde Gesellschaft und persönliche Erfüllung.

Die Berliner Mauer: Ein Blick hinter die Betonfassade des „Antifaschistischen Schutzwalls“

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Berlin – Die Berliner Mauer, über Jahrzehnte hinweg ein physisches Symbol der deutschen Teilung und des Kalten Krieges, war weit mehr als nur eine Betonwand. Ein aktuelles Video des YouTube-Kanals „Videos Ravensburg“ beleuchtet die komplexen Konstruktionsmerkmale und die tiefgreifenden menschlichen Erfahrungen, die mit diesem monumentalen Bauwerk verbunden waren.

Ein undurchdringliches Bollwerk aus Stahlbeton
Im Zentrum der Grenzanlagen stand die „Grenzmauer 75“, das vorderste Sperrelement zum Territorium West-Berlins. Jedes dieser Elemente war 3,60 Meter hoch und 1,20 Meter breit, gefertigt aus stahlbeton- und niereisenverstärktem Material. Die Kosten pro Element beliefen sich auf 856 Mark, zuzüglich weiterer Aufwendungen für Verrohrung und regelmäßigen Farbanstrich. Major Volker Fölbier, ein Spezialist für den Mauerbau, schätzt die Gesamtzahl der in Berlin stehenden Elemente auf rund 29.000, während im Grenzkommando Mitte (rund um Berlin) etwa 45.000 Elemente verbaut waren.

Der Aufbau der Grenzanlagen: Ein System der totalen Kontrolle

Das Videos gibt einen detaillierten Einblick in den Aufbau des Sperrsystems, das darauf ausgelegt war, jede Fluchtbewegung zu unterbinden:
• Grenzmauer 75: Das vorderste Sperrelement von West-Berlin aus gesehen.
• KFZ-Sperrgraben: Ein Graben, der das Überqueren für Fahrzeuge unmöglich machte.
• Kontrollstreifen: Ein Sandstreifen, der Spuren von Grenzverletzern sichtbar machen sollte und durch eine Lichttrasse beleuchtet wurde.
• Kolonnenweg: Eine befestigte Straße, die der schnellen Befahrung und Kontrolle des Grenzabschnitts durch die Grenztruppen diente.
• Splitterbunker: Schutzeinrichtungen für die Grenzposten gegen äußere Einwirkungen.
• Beobachtungstürme: Türme unterschiedlicher Höhen zur Überwachung des gesamten Grenzverlaufs.
• Hundelaufanlage: Eine Einrichtung, die taktisch genutzt wurde, um potentielle Grenzverletzer in bestimmte Richtungen zu lenken.
• Grenzsignalzaun: Ein Zaun, der auf das Durchschneiden oder Berühren der Drähte reagierte und Alarm auslöste.
• Hinterlandsmauer oder Hinterlandszaun: Die rückseitige Begrenzung des Handlungsraums der Grenztruppen.

Die offizielle Haltung der SED, wie sie Albert Norden vom Politbüro 1963 formulierte, war unmissverständlich: „Verrätern gegenüber menschliche Gnade zu üben heißt unmenschlich am ganzen Volke zu handeln“. Dies verdeutlichte die kompromisslose Ideologie hinter dem Bau und der Aufrechterhaltung der Mauer.

Persönliche Schicksale im Schatten der Mauer
Das Video vermittelt auch die menschliche Seite dieser unwirklichen Grenze. Major Volker Fölbier, der 1979 den schmalen Grenzstreifen zwischen Mauer und Spree mit modernster Sicherungstechnik ausbaute – sein „Gesellenstück“ – hatte die Rückseite der Mauer 29 Jahre lang nicht gesehen. Für ihn war die Spree all die Jahre direkt hinter dem Turm.

Ein weiteres Zeugnis ist die Erinnerung an die Oberbaumbrücke, die für Kinder einst der Verbindungspfad zwischen Friedrichshain und Kreuzberg, zwischen Ost- und West-Berlin, war. Nur fünf Minuten von Wohnung und Schule entfernt, wurde sie am 13. August 1961 „dicht gemacht“. Die Kinder spürten, dass „etwas in der Luft lag“. Obwohl täglich Mitschüler in den Westen verschwanden und Begriffe wie „Aus- und Einreise“ bedeutungslos wurden, hegten viele die Hoffnung, dass die Mauer nur von kurzer Dauer sein würde. Doch als die Schule am 1. September 1961, 18 Tage nach dem Mauerbau, wieder begann, waren die Soldaten vor den Häusern eine traurige Realität. Trotz der Erklärungen von Lehrern und Eltern, die Soldaten verteidigten „unsere Interessen“, bleibt das Bild einer tiefen Zäsur in der Geschichte Berlins und seinen Bewohnern haften.

Kathrin Schmidts DDR: Zwischen unbedingter Freiheit und gelebter Gleichheit

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Kathrin Schmidt, die preisgekrönte Schriftstellerin, die nach kritischen Äußerungen zur Corona-Impfpolitik aus dem etablierten Kulturbetrieb verbannt wurde, blickt auf ihre ersten 30 Lebensjahre in der DDR mit einer bemerkenswerten Mischung aus Sicherheit, Pragmatismus und einer tiefen Prägung zurück. Im Gespräch mit Michael Meyen teilt sie ihre Erfahrungen und Gedanken über ein System, das sie als junge Künstlerin und Mutter formte, ohne ihr ein Gefühl der Bedrohung zu vermitteln.

Die frühen Jahre als „Kind der Poetenbewegung“
Schon als Mädchen begann Kathrin Schmidt, Gedichte zu schreiben. Dieser Weg führte sie über Regionalseminare in Thüringen nach Schwerin, wo sich alljährlich die Schriftstellertalente der DDR trafen. Nach einem Psychologiestudium in Jena hatte sie in den 80ern und frühen 90ern zunächst auch die Optionen einer Kinderpsychologin oder Wissenschaftlerin in Betracht gezogen. Ihr Einstieg in die Literatur war dabei eher zufällig und unkonventionell: Sie wurde von einem Deutschlehrer entdeckt, der ihre Gedichte einschickte – ein Weg, den sie selbst nie gewählt hätte, da das Schreiben für sie etwas sehr Persönliches war. Schmidt, die in der DDR vier Kinder hatte, betonte, dass sie sich nie hätte vorstellen können, vom Schreiben ihren Lebensunterhalt zu bestreiten oder Literatur zu studieren. Dennoch erhielt sie nach ihrem ersten Buch, einem Poesiealbum, die Möglichkeit, einen „Sonderkurs“ am Literaturinstitut Leipzig zu besuchen, der ihr ein monatliches Stipendium von 500 DDR-Mark einbrachte und ihr die finanzielle Überbrückung in einer Übergangszeit ermöglichte.

Die Abwesenheit von existenzieller Angst
Eine zentrale Aussage Schmidts über ihre Zeit in der DDR ist die völlige Abwesenheit von Angst. Sie habe sich dort nicht bedroht gefühlt, selbst als Freunde in Bautzen inhaftiert waren oder sie der Opposition nahestand. Sie beschreibt ihre Haltung als jung und unerfahren, nach dem Motto: „Was wollen die mir, was können die mir?“. Mit vier Kindern habe sie sich nicht einspannen lassen. Ihr Verständnis der DDR war nicht „prinzipiell feindlich“. Diese mangelnde existenzielle Angst sei ein Merkmal der DDR gewesen, das auch für Schriftsteller galt, die ihre Bücher nicht an der Zensur vorbei veröffentlichen konnten und stattdessen als Friedhofsgärtner oder Heizer arbeiteten – materielle Not gab es nicht.

Das Erbe eines „egalitären Aufwachsens“
Kathrin Schmidt ist davon überzeugt, dass ihr „tendenziell egalitäres Aufwachsen“ in der DDR ein anderes Bewusstsein geformt hat, das bis heute bei Ostdeutschen nachwirkt. Das Wissen, dass man „nichts Besonderes“ ist, sondern als Schreibende „eine von vielen“, führte dazu, dass die Literaturszene in der DDR von Anfang an „nicht von Konkurrenz geprägt“ war. Auch ihre familiäre Prägung war stark: Sie wuchs in einer gebundenen Familie auf, die ihr Schutz bot.

Die Erfahrungen ihres Vaters, der als Abiturient in einen Protestkontext geraten und deswegen zehn Jahre Haft in den sowjetischen Speziallagern und später in Bautzen verbracht hatte, erfuhr Schmidt erst mit 17 Jahren. Ihr Vater habe sie gebeten, niemals darüber zu sprechen, was sie auch tat. Diese traumatische Geschichte ihres Vaters erschütterte weder ihr Verhältnis zu ihm noch zur DDR, da sie die Verhaftung nicht direkt mit dem System verband, sondern es als eine Gegebenheit der Zeitläufte interpretierte.

Der Herbst ’89 und die Akzeptanz des Wandels
Im Herbst 1989 erlebte Kathrin Schmidt – wie viele andere auch – die Illusion, „den Laden jetzt zu übernehmen“ und die DDR nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Sie war aktiv in der „Initiative für eine Vereinigte Linke“ und saß am Runden Tisch. Doch als bei den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 die Allianz für Deutschland (CDU/DA/DDU) mit 40% gewann, sah sie sich als Demokratin unterlegen. Sie fügte sich dem Ergebnis und war „relativ froh, dem Grundgesetz der Bundesrepublik zu unterliegen“. Im Nachhinein räumt sie jedoch ein, dass sie damals als 30-Jährige die massiven Kampagnen und Finanzierungen aus dem Westen, die dieses Wahlergebnis mitbeeinflussten, nicht wahrgenommen habe.

Ein tief verwurzeltes Selbstverständnis
Die Erfahrungen in der DDR haben Kathrin Schmidt maßgeblich geprägt. Sie ist stolz darauf, ihre fünf Kinder – die ersten beiden als Alleinerziehende – bekommen zu haben, ohne darüber nachzudenken. Die DDR habe es materiell ermöglicht, dass eine Frau mit Kind alleine zurechtkam, auch durch Maßnahmen wie den Haushaltstag oder die Kinderbetreuung, wenngleich dies auch der Mobilisierung von Frauen für die Wirtschaft diente.

Heute betrachtet Schmidt die Welt mit einer gewissen Resignation, dass sie nach „anderer Leute Gesetzen“ läuft und historische Ereignisse sich wiederholen. Dennoch bleibt ihr ein tief verwurzeltes Selbstverständnis aus der DDR-Zeit, das sie befähigt, zu dem zu stehen, was sie wirklich denkt, ohne Angst vor den Konsequenzen.