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Das Mysterium um Sabines erstgeborenes Kind in der DDR

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Wenn das eigene Kind kurz nach der Geburt verstirbt, gerät die Welt jeder Mutter aus den Fugen. Doch was ist, wenn plötzlich Ungereimtheiten auftreten? Was ist, wenn es sich um staatlich organisierten Kindesentzug handelt? Was nach dem Plot eines Krimis klingt, könnte sich so in der ehemaligen DDR abgespielt haben. Hunderte Mütter sind heute auf der Suche nach ihren vermutlich geraubten Kindern. Das „akte. Spezial – Die gestohlenen Kinder der DDR“ begleitet drei von ihnen.

Frankfurt an der Oder – Seit Jahrzehnten quält Sabine Zapf, heute 59 Jahre alt, die Ungewissheit über das Schicksal ihres erstgeborenen Kindes, das ihr 1980 unter mysteriösen Umständen in einem Krankenhaus in Eisenhüttenstadt weggenommen wurde. Was damals geschah, ist bis heute ein Rätsel, doch neue Erkenntnisse und der Mut einer Ärztin lassen Sabines Hoffnung auf Antworten wieder aufleben. Ihre Geschichte ist exemplarisch für die Skrupellosigkeit des DDR-Systems gegenüber sogenannten „kriminellen Bürgern“.

Ein Leben im Widerstand gegen das System
Sabine hatte es von Kindheit an nicht leicht. Schon früh wurde sie vom Jugendamt ihrer leiblichen Mutter entzogen und in ein Heim gesteckt, da ihre Mutter als nicht fähig erachtet wurde, sie im sozialistischen Sinne zu erziehen. Später wurde sie adoptiert, doch auch ihre Adoptiveltern waren sehr streng und schlugen sie angeblich als Teenager. Sabine galt als rebellisch und stellte sich gegen das Regime. Dies führte dazu, dass sie in ihren Stasi-Akten als „nicht staatstreu“ oder „kriminelle Bürgerin“ geführt wurde – eine Einschätzung, die ihr später zum Verhängnis werden sollte. Ihre Adoptivmutter reiste zudem oft in den Westen und hatte offenbar gute Kontakte zur Parteispitze, was später eine wichtige Rolle spielen sollte.

Das Verschwinden des ersten Kindes
Im Alter von 18 Jahren wurde Sabine 1980 mit ihrem Freund Frank zum ersten Mal schwanger. Vier Wochen vor dem Geburtstermin erlitt sie bei einer Routineuntersuchung im Krankenhaus einen stechenden Schmerz, der möglicherweise auf ein angekratztes Fruchtwasser zurückzuführen ist. Vorsichtshalber sollte sie in der Geburtsklinik bleiben. In einem Einzelzimmer ging plötzlich alles sehr schnell: Ihr Kind drückte sich heraus. Sie rief nach einer Schwester, doch ein Assistenzarzt weigerte sich, sie in den Operationssaal zu begleiten. Danach verlor Sabine das Bewusstsein.

Als sie am nächsten Tag erwachte, war ihr Kind verschwunden. Eine Schwester verweigerte jegliche Auskunft und verwies auf eine Ärztin, die nie kam. Eine Woche lang blieb Sabine im Krankenhaus, doch niemand erklärte ihr, was passiert war oder wo ihr Kind war. „Es ist dann einfach weg und wo ist es hin?“ fragt Sabine verzweifelt. Sie hat keine Narben und weiß nicht, wie ihr Baby überhaupt zur Welt kam. Von ihrem ersten Kind blieben ihr lediglich ein Schwangerschaftsfoto und Seiten aus ihrem Sozialversicherungsausweis, die ihren Krankenhausaufenthalt und gynäkologische Untersuchungen belegen. Diese Seiten fehlten zunächst aus ihrem Ausweis und wurden später in ihrer Haftakte gefunden – ein klares Indiz für eine Vertuschungsaktion. Ihr wurde sogar gesagt, sie müsse beweisen, überhaupt schwanger gewesen zu sein.

Spurensuche und schockierende Vermutungen
Sabine forderte ihre Krankenakte von 1980 an, doch es gibt keinerlei Unterlagen mehr. Laut deutscher Gesetzgebung müssen solche Akten nur 30 Jahre aufbewahrt werden, was Sabines Suche erschwert. Die große Frage bleibt: Warum sollte man ihr das Kind weggenommen haben? Ihre Einstufung als „kriminelle Bürgerin“ in der Schulzeit, weil sie sagte, was sie dachte, könnte eine Rolle gespielt haben.

Eine unglaubliche Entdeckung machte Sabine beim Durchforsten ihrer Stasi-Akten: Sie fand Beweise dafür, dass ihre Adoptivmutter und das Jugendamt zusammengearbeitet hatten, um ihr andere Kinder wegzunehmen. Ihre Adoptivmutter hatte beispielsweise eine Urlaubskarte an eine Mitarbeiterin des Jugendamtes geschickt, in der sie über das Wohl von Sabines Tochter Maren berichtete, die ihr nach einem Fluchtversuch weggenommen worden war. Henriette, die Journalistin, hegt nun den schlimmen Verdacht, dass diese Zusammenarbeit bereits beim ersten Kind begonnen haben könnte. Sabine erinnert sich, dass ihre Adoptivmutter sie kurz nach der Geburt unerwartet im Krankenhaus besuchte, ohne dass Sabine sie benachrichtigt hatte. „Es muss ja definitiv so sein, dass irgendjemand, wenn dein erstes Kind noch leben sollte, unsere Adoption hinter deinem Rücken freigegeben wurde,“ vermutet Sabine. Leider ist ihre Adoptivmutter 2006 verstorben, sodass Sabine sie nicht mehr zur Rede stellen konnte.

Hoffnung durch eine Ärztin und die Wiedervereinigung mit einer Tochter
Ein Termin in dem damaligen Geburtskrankenhaus in Eisenhüttenstadt bringt Licht ins Dunkel. Eine Ärztin, die bereits damals dort tätig war, trifft sich unter Ausschluss der Kamera mit Sabine und Henriette. Obwohl sie selbst keine konkreten Fälle erlebt hat, bestätigt die Ärztin, dass es „vorstellbar [ist], dass Kinder verkauft wurden“ oder dass das Jugendamt einer volljährigen Mutter das Kind wegnahm, wenn beispielsweise eine Großmutter die Mutter für unfähig hielt. Statistiken des Krankenhauses zeigen, dass im Juni 1980, als Sabine entband, kein Kind in diesem Krankenhaus verstorben ist. Die Ärztin vermutet, dass Sabines Kind noch leben könnte.

Diese Aussage ist für Sabine einerseits eine Bestätigung, andererseits weckt sie tiefe Wut und den Wunsch nach Gerechtigkeit. Sie fragt sich: „Wieso habt ihr mir eigentlich die ganzen Jahre geklaut mit welchem Recht eigentlich?“.

Trotz dieser traumatischen Erfahrungen gibt es für Sabine auch einen Lichtblick: Drei ihrer Kinder wurden ihr in der DDR weggenommen, doch ihr vierter Sohn fand Jahre später ihre dritte Tochter Michaela wieder. Im Jahr 2019 kam es nach 34 Jahren zu einem emotionalen Wiedersehen zwischen Sabine und Michaela. Michaela hatte in ihrer Pflegefamilie keine Liebe erfahren und wurde angeblich geschlagen. Diese Wiedervereinigung stärkt Sabines Entschlossenheit, auch ihr erstgeborenes Kind zu finden.

Der Kampf geht weiter
Sabine und ihr Ehemann Rainer suchen weiterhin nach dem verschwundenen Kind und wollen das Krankenhaus nun juristisch belangen, um an die fehlenden Unterlagen von 1980 zu gelangen. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, da viele Akten bereits vernichtet sein könnten. Die Hoffnung liegt nun auf Menschen, die sich über Verschwiegenheitspflichten hinwegsetzen und den Frauen, die ihre Kinder suchen, endlich Antworten geben.

30 Jahre DDR: Eine Republik im Zeichen von Stärke und Frieden

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Die Deutsche Demokratische Republik feierte ihr 30-jähriges Bestehen mit eindrucksvollen Demonstrationen militärischer Stärke und einem klaren Bekenntnis zum Frieden. Unter dem Motto „Schaut her, was aus uns geworden ist“, würdigte Genosse Erich Honecker, Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates, die hervorragenden Leistungen des Volkes und der Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Er betonte, die vergangenen drei Jahrzehnte seien eine Zeit der Verwirklichung der historischen Mission der Arbeiterklasse auf deutschem Boden gewesen, ein Weg harter Arbeit, großer Opfer und ständiger Klassenausseinandersetzungen mit dem Imperialismus. Die DDR, als erster sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern, sei buchstäblich „aus Ruinen auferstanden“.

Die Nationale Volksarmee: Garant des Friedens und der Sicherheit
Im Mittelpunkt der Feierlichkeiten stand die Nationale Volksarmee (NVA), die sich als zuverlässiger Gefährte im Kampf für die gemeinsame Sache präsentierte. Die Angehörigen der NVA wurden als treu in der Arbeit, beharrlich, tüchtig und bei Prüfungen standhaft gelobt. Im Sommer 1979 besuchte Genosse Honecker persönlich die Luftstreitkräfte/Luftverteidigung der NVA, wo er die Notwendigkeit betonte, die Verteidigungskraft der sozialistischen Staaten stets auf dem erforderlichen Niveau zu halten. Er unterstrich die hohe Verantwortung der DDR an der „Nahtstelle der beiden Gesellschaftssysteme, der beiden Militärbündnisse in Europa“ und forderte die Streitkräfte auf, jederzeit allen Provokationen des Klassenfeindes zu begegnen und die Heimat zuverlässig zu schützen.

Die Manöver der Luftwaffe demonstrierten die beeindruckende Beherrschung sowjetischer Kampftechnik, die den wissenschaftlich-technischen Höchststand verkörpert. Hierbei wurde deutlich, dass die erfolgreiche Erfüllung von Gefechtsaufgaben ein kollektives Zusammenwirken von Flugzeug- und Hubschrauberführern, ingenieurtechnischem Personal, funktechnischen Truppen und rückwärtigen Diensten erfordert. Über 1400 militärische Kollektive hatten bereits den Titel „beste“ errungen, und 16 FDJ-Grundorganisationen erhielten in diesem Jahr ein rotes Ehrenbanner der SED. Die hohe militärische Meisterschaft zeigte sich auch bei der Vernichtung von Seezielen. Honecker forderte dabei eine kontinuierlich hohe Gefechtsbereitschaft und betonte, der Schlüssel zum Erfolg liege im vorbildlichen Handeln jedes Kommunisten.

Unzerstörbare Kampfgemeinschaft mit der Sowjetunion
Ein zentrales Thema war die unzerstörbare Kampfgemeinschaft mit der Sowjetarmee. Eine Militärdelegation der DDR unter Leitung des Ministers für Nationale Verteidigung, Armeegeneral Heinz Hoffmann, besuchte die UdSSR, um die brüderlichen Bande zu festigen. Überall fanden die Genossen der NVA bei den sowjetischen Mot-Schützen, Panzersoldaten, Fliegern und Matrosen offene Herzen und die selbstlose Bereitschaft, reiche Erfahrungen im Ringen um eine hohe Gefechtsbereitschaft zu vermitteln. Gemeinsame Klasseninteressen, proletarische Traditionen, koordinierte Ausbildungsprogramme und eine einheitliche Ausrüstung und Bewaffnung bilden die Grundlage für die weitere Vertiefung dieses Bruderbundes.

Bei einem Besuch Honeckers bei sowjetischen Truppen, die eine taktische Übung mit Gefechtsschießen abhielten, wurde die Kampfkraft der sowjetischen Streitkräfte hervorgehoben – nicht nur durch moderne Waffen, sondern vor allem durch die Soldaten selbst: treue Internationalisten, ideologisch gefestigt und gut ausgebildete Verteidiger der Heimat. Honecker gratulierte den Gardisten zu ihren hervorragenden Leistungen. Er betonte, dass 30 Jahre DDR auch drei Jahrzehnte fester Freundschaft mit dem Sowjetland bedeuten. Die enge Kampfgemeinschaft der NVA mit der Sowjetarmee, insbesondere mit den in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräften, habe einen hohen Reifegrad erreicht. Beide Armeen kämpfen verantwortungsbewusst an einer für das Schicksal der Menschheit entscheidenden Front.

Die Berliner Friedensinitiative und die Verteidigung des Sozialismus
Trotz der militärischen Schlagkraft unterstrich die DDR ihren Einsatz für den Weltfrieden. Genosse Leonid Breschnew unterbreitete im 30. Jahr der DDR ein Programm gegen „imperialistischen Rüstungswahn und Kriegspolitik“ für die Festigung des Friedens, bekannt als „Berliner Friedensinitiative“. Diese Vorschläge seien Ausdruck der Friedensliebe und des guten Willens der Sowjetunion und der anderen Staaten des Warschauer Vertrages. Der Filmbericht betonte, dass der Frieden „hartnäckig und zäh errungen sein“ will und die Soldaten ihren militärischen Auftrag in diesem Sinne erfüllen.

Die strategische Doktrin der sozialistischen Staaten ist explizit auf die Sicherung des Friedens ausgerichtet, ohne die Absicht, Staaten oder Staatengruppen zu bedrohen. Die Ehrenparade der NVA in Berlin am Morgen des 30. Jahrestages war daher nicht nur ein Zeugnis militärischer Schlagkraft, sondern auch ein Bekenntnis zu Lenins Feststellung, dass nur die Revolution etwas wert ist, die sich auch zu verteidigen versteht. Sie veranschaulichte die qualitativen Veränderungen der Kampftechnik in den Waffengattungen der NVA.

Gleichzeitig bewies die Volksmarine bei ihrer Flottenparade im Rostocker Hafen hohe Kampfkraft und Disziplin. Ihr ist der Schutz des Küstenvorfeldes der Republik anvertraut, und gemeinsam mit den verbündeten Ostseeflotten sorgen sie dafür, dass die Ostsee „ein Meer des Friedens“ bleibt.

Die gute Ausrüstung und Ausbildung der NVA sei auch der fleißigen Arbeit der Werktätigen zu verdanken – des Drehers, des Genossenschaftsbauern und des Wissenschaftlers. Mit gleichem Kampfgeist und Optimismus wie im 30. Jahr will die DDR gemeinsam mit ihrem ganzen Volk und an der Seite starker Freunde die Aufgaben der Zukunft meistern.

Jenas Corona-Bilanz auf dem Prüfstand: RKI fordert Klarheit und Strategie in Dokumentation

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Ein detaillierter Peer-Review des Robert Koch-Instituts (RKI) wirft ein kritisches Licht auf ein Dokument der Stadt Jena zum Umgang mit der COVID-19-Pandemie. Die Anmerkungen, die einem mutmaßlichen „Strategiepapier“ gelten sollten, zeichnen das Bild eines Textes, der in seiner aktuellen Form weniger eine kohärente Strategie als vielmehr ein Sammelsurium von Einzelmaßnahmen darstellt. Die Kritikpunkte reichen von der Grundstruktur über die Datenpräsentation bis hin zu konkreten inhaltlichen Widersprüchen und dem Fehlen einer klaren strategischen Linie.

Ein „Maßnahmenbündel“ statt Strategiepapier
Die grundlegendste Anmerkung des RKI betrifft bereits den Titel des Dokuments. Es handle sich weniger um ein Strategiepapier als vielmehr um ein Maßnahmenbündel oder einen Zwischenstand im Umgang mit dem Virus. Diese Vermischung von Arbeitshypothesen, Infektionsgeschehen und Situationsbeschreibung erschwert die Lesbarkeit und das Verständnis einer klaren Vorgehensweise.

Kritisiert wird zudem, dass viele der dargestellten Maßnahmen individuell von Ereignissen abgeleitet wurden und sich kein Gesamtbild einer übergeordneten Strategie ergibt. Die Entscheidungen mögen getroffen worden sein, doch eine „Power dargestellte Strategie“ habe gefehlt.

Das RKI schlägt eine klare Umstrukturierung vor, um dem Anspruch eines Strategiepapiers gerecht zu werden. Der Beitrag sollte eine Einleitung mit Problembeschreibung, eine detaillierte Strategiebeschreibung, die Darstellung der Effekte sowie eine abschließende Bewertung mit „lessons learned“ umfassen.

Mangelnde Klarheit bei Daten und Begrifflichkeiten
Besondere Beanstandungen gibt es bei der Darstellung von Daten und der verwendeten Terminologie. Es wird bemängelt, dass Zahlenangaben oft ohne Kontext bleiben und nicht eingeordnet wird, ob sie hoch sind oder ob Vergleichszahlen existieren. Die Differenzierung zwischen Neuinfektionen, Erkrankungen und tatsächlichen Infektionen sei unklar, ebenso wie die Relevanz der „7-Tage Inzidenz“ oder die Angabe pro „100.000 Einwohner“. Konkrete Zahlen wie „327“ müssten präzisiert werden, ob es sich um eine exakte Zahl oder „mehr als die“ handelt.

Die Wirksamkeit von Maßnahmen wird kritisch hinterfragt. Es fehlen Aussagen darüber, welchen Einfluss die Maßnahmen auf das ökonomische und soziale Gefüge der Stadt hatten. Die genaue Definition von „Risikogebieten“ und die Rolle von Pendlern aus diesen Gebieten (z.B. Norditalien, Wuhan) bleiben unzureichend erläutert. Eine spekulative Aussage zur Übertragung durch Personen mit „hohem Bildungsniveau, Einkommen, Mobilität“ bedürfe einer Evidenz oder Differenzierung.

Ein inhaltlicher Widerspruch wird bezüglich der Maskenpflicht hervorgehoben: Während an einer Stelle die Maskenpflicht als maßgeblich für die Reduzierung der Neuinfektionen auf null erwähnt wird, deutet eine andere Passage auf eine andere Interpretation hin. Zudem wird die Verwendung des Begriffs „Schutzmasken“ zugunsten von „MNB“ (Mund-Nasen-Bedeckung) angeregt. Die Aussage einer „freiwilligen Pflicht“ sei widersprüchlich.

Fehlende Visualisierungsstandards und Ausdrucksweise
Auch die grafische Aufbereitung wird kritisiert. Grafiken seien oft unklar in Beschriftung, Datenquellen und Legenden. Eine Abbildung zeige bestimmte Annahmen nicht, und die y-Achsenbeschriftung sowie Bildunterschriften müssten eindeutiger erklären, was abgebildet ist. Der Vergleich von Infektionszahlen mit früheren Grippewellen wird als nicht überzeugend empfunden, da die unterschiedlichen Schlüsse genau betrachtet werden müssten.

Formulierungen wie „sehr hoch“ oder „überraschend“ bedürfen einer Einordnung, und absolute Aussagen sollten nur mit gezeigter Signifikanz gemacht werden. Das RKI fordert eine Verbesserung des „Wording“ für Begriffe wie „Mitarbeitern aus dem volkswirtschaftlichen Umfeld“ und rät davon ab, einzelne Firmen namentlich zu nennen.

Wichtige Empfehlungen und fehlende Aspekte
Das RKI betont die Notwendigkeit, Kommunikation als entscheidenden Faktor in der Pandemiebekämpfung deutlich hervorzuheben, da sie maßgeblich für die Akzeptanz und den Erfolg von Maßnahmen sei. Es fehle an konkreten Empfehlungen im Dokument, und einzelne wichtige Punkte, die nicht Teil der Strategie sind, könnten in einen Dankesabschnitt verschoben werden. Es wird zudem die Frage aufgeworfen, welche Maßnahmen und Prozesse aus dem Maßnahmenbündel unmittelbar implementiert wurden und ob diese auf andere Städte oder Landkreise adaptierbar sind. Die Rückkehr von Studierenden sollte als Ansatzpunkt für ein vorausschauendes Vorgehen beschrieben werden.

Insgesamt legen die Kommentare des RKI nahe, dass das Dokument aus Jena zwar wichtige Einblicke in lokale Maßnahmen gibt, aber in seiner aktuellen Form weder den Ansprüchen eines wissenschaftlichen Strategiepapiers noch der notwendigen Klarheit und Kohärenz genügt, um als übertragbares Modell oder umfassende Bilanz zu dienen. Es ist ein Aufruf zu mehr wissenschaftlicher Präzision und einer stringenten Darstellung des Vorgehens, um die ergriffenen Maßnahmen und deren Effekte nachvollziehbar und bewertbar zu machen.

Neue Bahnstrecke verbindet die Berliner Innenstadt mit dem BER

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Berlin bereitet sich auf eine deutliche Verkürzung der Reisezeiten zum Flughafen BER vor: Nach fast 30 Jahren Planung und Bau wird die Dresdner Bahn am 14. Dezember offiziell eröffnet. Dieses Mammutvorhaben verspricht schnellere, direktere und häufigere Verbindungen zum Flughafen und soll die Verkehrsanbindung Berlins neu ordnen. Doch hinter den Feierlichkeiten verbergen sich auch tiefe Wunden und ungelöste Probleme, insbesondere für die Anwohnerinnen und Anwohner in Lichtenrade.

Schnellere Anbindung und Entlastung für Berlin
Die Eröffnung der Dresdner Bahn ist ein Meilenstein für die Berliner und Brandenburger Verkehrspolitik. Die Fahrzeiten zum BER werden sich drastisch verkürzen:
• Vom Berliner Hauptbahnhof zum BER dauert die Fahrt statt bisher 39 nur noch 23 Minuten.
• Vom Potsdamer Platz sind es künftig 19 Minuten.
• Vom Südkreuz beträgt die Fahrzeit 14 Minuten.

Diese neue Verbindung ermöglicht es, S-Bahn- und Regionalzuglinien in und um Berlin neu zu ordnen und den BER besser anzubinden. Auch der Flughafen selbst profitiert, da die rund 20.000 Menschen, die dort arbeiten, zuverlässiger zu ihren Schichten gelangen können. Alle neuen Verbindungen können auf der Webseite des VBB unter www.vbb.de/ber eingesehen werden. Trotz der anfänglich geplanten vier Züge pro Stunde vom Hauptbahnhof zum BER wird davon ausgegangen, dass dies ausreicht, da weitere Verbindungen, etwa über das Ostkreuz, und die S-Bahn zur Verfügung stehen.

Ein Weg voller Hindernisse und Bürgerprotest
Die Entstehung der Dresdner Bahn war alles andere als ein Spaziergang. Fast 30 Jahre vergingen von der Planung bis zum Abschluss. Anfangs klemmte es, da die beiden Länder, der Bund und die Bahn sich nicht über die Konfiguration, insbesondere in Lichtenrade, einig waren.
Bereits Ende der 90er Jahre formierte sich in Lichtenrade eine Bürgerinitiative, die statt einer ebenerdigen Strecke einen Tunnel forderte. Nach dem Planfeststellungsbeschluss klagten die Anwohner bis zum Bundesverfassungsgericht, scheiterten jedoch. Der Baubeginn erfolgte erst 2017, und selbst zur Eröffnung des Flughafens war das Projekt noch nicht fertig.

Lichtenrade: Das „Herz zerrissen“ und ungelöste Probleme
Für die Menschen in Lichtenrade hat das Projekt tiefe Spuren hinterlassen. „Das Herz von Lichtenrade zerrissen“, so beschreiben es Anwohner. Schallschutzwände, Baustellen und abgeschaffte Bahnübergänge prägen das Bild. Die Bürger haben sich lange und auch gerichtlich gegen die Bahn gewehrt, nun geht es um Schadensbegrenzung.

Ein akutes Problem ist die Schließung des beschrankten Bahnübergangs Wolziger Zeile. Der geplante Fußgänger- und Radfahrtunnel, der eine Querung ermöglichen sollte, ist bis heute nicht freigegeben. Dies zwingt die Anwohner zu einem Umweg von über 20 Minuten. Für Menschen mit Gehproblemen und Betreuer, die mit Menschen mit Behinderung arbeiten und auf kurze Wege zu Ärzten und Einrichtungen angewiesen sind, ist dies eine „große Katastrophe“. Der Tunnel sollte ursprünglich letztes Jahr, dann in diesem Sommer fertig sein, doch es fehlen Bauressourcen.

Auch eine weitere Baustelle direkt am S-Bahnhof Lichtenrade, die seit vier Jahren ruht, sorgt für Frust. Die Bürgerinitiative fühlt sich übergangen: Für die Bahn gebe es freie Fahrt, während die Anwohner auf der Strecke blieben. Sie planen, Lärmmessgeräte zu installieren, sobald der Echtzeitbetrieb Mitte Dezember beginnt, um die tatsächlichen Lärmemissionen zu prüfen.

Professor Christian Böttger von der Hochschule für Technik und Wirtschaft erkennt zwar die Kritik an, stuft die unfertigen Bauarbeiten jedoch als „Kleinigkeiten“ ein. Er sieht die grundsätzliche Ablehnung von Verkehrsprojekten in Deutschland als problematisch an und geht davon aus, dass der Bahnbetrieb, da rechtlich durchgeklagt, wie geplant laufen kann.

Zukunftsvisionen und Systemische Herausforderungen
Die Verkehrssenatorin blickt bereits weiter und denkt über eine Magnetschwebebahn vom ICC zum BER nach. Diese solle keine Konkurrenz, sondern eine Entlastung für den „Knoten Berlin“ darstellen und vom Bund finanziert werden. Professor Böttger zeigt sich zwar interessiert an der Technologie, äußert jedoch ein „leichtes Störgefühl“, da zuerst die Technologie und die Strecke feststehen, bevor über die Grundlagen einer solchen Verbindung nachgedacht wurde. Er mahnt an, dass Berlin sich zunächst auf grundlegende Themen des öffentlichen Verkehrs konzentrieren müsse, wie die Pünktlichkeit der BVG und die Behebung von Planungsfehlern bei Straßenbahnprojekten.

Die Dresdner Bahn ist, wie der BER oder Stuttgart 21, ein Beispiel für die lange Dauer großer Projekte in Deutschland. Professor Böttger erklärt dies mit komplizierten Planungs- und Finanzierungsprozessen sowie weitreichenden Bürgerbeteiligungsrechten, die Projekte verzögern.

Trotz aller Widrigkeiten und anhaltenden Diskussionen rollt ab Mitte Dezember eine schnellere Bahn vom Hauptbahnhof zum BER. Ein Grund zum Feiern für die Ausführenden, doch ein „kein Ruhmesblatt für Berlin“, wie Professor Böttger die langwierige Planung beschreibt.

Datenanalyst Tom Lausen kritisiert Aufarbeitung der Corona-Krise in Thüringen: „Eine Farce“

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Erfurt, Thüringen – Im Rahmen des Corona-Untersuchungsausschusses in Thüringen hat der Datenanalyst Tom Lausen eine scharfe Kritik an der Aufarbeitung der Pandemie geäußert und die Darstellungen anderer Sachverständiger, insbesondere Dr. Lundershausen und Dr. Dickmann, als nicht sachgerecht zurückgewiesen. Er präsentiere „Daten und nicht böse Absichten“ und sehe die Bemühungen, das Geschehene im Nachhinein schönzureden, als problematisch an, insbesondere angesichts von 13.000 Toten in Thüringen.

Kritik an der Darstellung der Krise
Lausen, der selbst als Datenanalyst im Ausschuss gehört wurde, bemängelt, dass seine Vorrednerinnen, darunter die ehemalige Präsidentin der Landesärztekammer Thüringen, Dr. Lundershausen, und die Risikokommunikationsexpertin Dr. Petra Dickmann, keine datenbasierten Erkenntnisse, sondern vielmehr emotionale Darstellungen und Behauptungen präsentiert hätten, man habe alles gut gemacht. Er widerspricht explizit der Annahme, dass die Impfungen „toll gewirkt“ hätten und man Busfahrer und andere Berufsgruppen hätte impfen sollen, da dies keine Strategie sei, sondern die Hinnahme einer Situation, in der man sich auf Pharmafirmen verlasse.

Entkräftung der Überlastungsthese durch Daten
Ein zentraler Punkt von Lausens Vortrag war die Widerlegung der These einer Überlastung der Krankenhäuser. Während Dr. Lundershausen und Dr. Dickmann der Meinung waren, es habe sehr wohl eine Überlastung gegeben, der man nur durch das Verschieben wichtiger Operationen und ständige Patientenverlegungen Herr geworden sei, legte Lausen gegenteilige Zahlen vor. Er erklärte, dass Patientenverlegungen zum Tagesgeschäft deutscher Krankenhäuser gehören. Im Jahr 2019 wurden in Thüringen rund 18.600 Patienten verlegt, im Jahr 2020 waren es sogar nur etwa 16.500. Zwar gab es auf Intensivstationen 2020 etwas mehr Verlegungen, doch Lausen betonte, dass dies das Verlegungsargument als „propagandistisches Element“ komplett aufhebe. Er bezeichnete es als „frech“, zu behaupten, Verlegungen hätten alles gerettet, und sah den Einsatz von Bundeswehrmaschinen für Verlegungen als eine „mediale Inszenierung“ ohne Notwendigkeit an.

Zweifel an der Statistik zu ungeimpften Patienten
Bezüglich der Behauptung, 90 % der schweren Verläufe hätten ungeimpfte Patienten betroffen, äußerte Lausen ebenfalls Bedenken. Er forderte eine genaue Betrachtung von Zeitpunkten und Zeiträumen und kritisierte, dass Dr. Lundershausen möglicherweise nur eine Momentaufnahme ohne genaue Quellenangabe oder Fallzahlen herangezogen habe. Lausen wies darauf hin, dass die Bundesregierung Daten vorlege, die zeigten, dass bei vielen im Krankenhaus liegenden Corona-Fällen der Impfstatus nicht erhoben, ermittelt oder verfügbar gewesen sei. Dies sei eine grundsätzliche Problematik, die verlässliche Aussagen verhindere. Er verwies darauf, dass im Herbst 2021, zum Zeitpunkt der 2G-Maßnahmen in Thüringen, viele Patienten mit Pflegegraden im Krankenhaus lagen und starben. Diese Menschen seien höchstwahrscheinlich geimpft gewesen, da sie oft aus Pflege- oder Altenheimen stammten, wo Ungeimpfte kaum zugelassen wurden, insbesondere wenn sie ihren Impfstatus nicht selbst bestimmen konnten. Dies stelle die Aussage von Dr. Lundershausen infrage.

Gesamtsterblichkeit als entscheidender Indikator
Lausen betonte die Notwendigkeit, die Gesamtsterblichkeit zu betrachten, anstatt sich ausschließlich auf wöchentliche Dashboards zu konzentrieren, die lediglich die COVID-19-Todesfälle zeigten. Er argumentierte, dass bei einer neuen Krankheit immer auch die Frage gestellt werden müsse, ob insgesamt mehr Menschen sterben als erwartet, um eine mögliche Umetikettierung von Todesursachen auszuschließen. Das wichtigste Ziel sei immer, Todesfälle zu verhindern, weshalb die Übersterblichkeit der entscheidende Endpunkt sei. Die Fokussierung auf die Einzelsterblichkeit von Corona verkenne die Realität und die umfassenderen Probleme.

Ablehnung von ausländischen Daten im Krisenmanagement
Lausen kritisierte vehement die Heranziehung von Daten aus Israel, Australien, England oder Südkorea zur Beurteilung der Lage in Thüringen. Er argumentierte, ein thüringischer Ministerpräsident müsse die Krise im eigenen Land managen und auf die Nachbarländer schauen, nicht ins Ausland. Die Verwendung von englischen Zahlen, wie sie auch von Prof. Drosten als Rechtfertigung für Maßnahmen genannt wurden, sei nicht nur unnötig, da deutsche Daten verfügbar gewesen wären, sondern auch irreführend, da England seiner Meinung nach „ziemlich schlecht abgeschnitten“ habe. Die Vergleichbarkeit von Daten aus verschiedenen Ländern sei zudem fragwürdig, da geografische und bevölkerungsspezifische Unterschiede relevant seien. Die hohen Übersterblichkeitsraten in Bergamo oder Madrid seien Ausnahmen gewesen und könnten nicht verallgemeinert werden.

Datenbasierte Entscheidungen versus „First Mover“-Strategie
Der Datenanalyst hob hervor, dass Daten die Grundlage für jede Entscheidungsfindung sein müssen. Er widersprach der Ansicht, in einer akuten Situation müsse man schnell handeln („First Mover“) und erst später Daten abgleichen. Lausen betonte, dass man keine Maßnahmen ergreifen dürfe, die Schaden anrichten, wenn keine Krisensituation im Krankenhaus vorliege und keine absehbar sei. Maßnahmen seien nicht immer gut, sondern könnten auch Schaden anrichten, indem sie Menschen verschrecken, Lebenswillen nehmen oder die Betreuung verschlechtern. Die Pflicht der Verordnungsgeber sei es gewesen, die Daten anzusehen und darauf basierend Entscheidungen zu treffen. Er sah ein „Unverständnis von Krisenlagen“ in der Haltung, die Wirklichkeit von den Entscheidungen abzukoppeln.

Deutschland im Vergleich zu Schweden
Abschließend stellte Lausen einen deutlichen Vergleich zwischen Deutschland und Schweden her. Er führte an, dass Schweden seit der Impfkampagne bei der Übersterblichkeit auf Platz 1 in Europa abgeschnitten habe, während Deutschland auf Platz 21 liege. Mit einer Übersterblichkeit von etwa 2 % in Schweden gegenüber rund 10 % in Deutschland, zeige sich, dass das größte Land in Europa „richtig schlecht abgeschnitten“ habe. Trotzdem wolle niemand mehr hinschauen.

Lausen sieht seine Aufgabe darin, Fakten sichtbar zu machen und Daten zu präsentieren, um eine fundierte Aufklärung zu ermöglichen, anstatt „Verschwörungstheorien“ zu nähren, wie ihm teilweise unterstellt wurde. Er kritisiert, dass ein anfangs beklagter „wackeliger Datenlage“ nun, wo Daten verfügbar sind, nicht gehört werden wolle.

Ein Blick hinter den Eisernen Vorhang: Alltag und Härte der DDR-Grenztruppen

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Ein ehemaliger Offizier der DDR-Grenztruppen gewährt seltene Einblicke in den harten und von Misstrauen geprägten Alltag an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer. Die Informationen stammen aus einem Video auf dem YouTube-Kanal „Zurückgespult – Geschichte auf VHS-Band“, das die Mechanismen des Überwachungsstaates beleuchtet.

Alltag im Grenzdienst: Beobachtung und Diffamierung von Flüchtlingen
Der Dienst an der Grenze war für die Soldaten eine intensive Aufgabe: In der Regel verbrachten sie 8 bis 10 Stunden täglich direkt an der Grenze. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, in der sogenannten „feindfertigen Richtung“ – also in Richtung Bundesrepublik – zu observieren. Ziel war es, Angehörige des Bundesgrenzschutzes (BGS), des Zolls, zivile Personen oder Truppenansammlungen zu identifizieren und zu melden.
Besondere Vorsicht war geboten, wenn es um die Flucht aus der DDR ging. Der ehemalige Offizier berichtet, dass Flüchthilfen meist schon vorab als „Vorfahndungsmeldungen“ bekannt waren, die den Soldaten die wahrscheinlichen Abschnitte nannten, in denen mit Grenzübertritten zu rechnen sei. Um die Soldaten psychologisch vorzubereiten, wurden potenzielle Flüchtlinge systematisch dämonisiert: Sie wurden als „Verbrecher“, „mehrfach vorbestraft“ und „bewaffnet“ dargestellt, obwohl die Beschaffung einer Waffe in der DDR nahezu unmöglich war. Diese Darstellungen sollten die Soldaten „heiß machen“.

Die Festnahme von Flüchtlingen wurde von der DDR-Führung großzügig belohnt. Soldaten erhielten Auszeichnungen in Form von Medaillen, Orden, Urlaub, Geldprämien von etwa 150 Mark oder sogar Kaffeemaschinen.

Der Schießbefehl: Eine grausame Realität bis zuletzt
Trotz eines neuen Grenzgesetzes von 1982, das die Schusswaffenbrauchsordnung formell festlegte, blieb der berüchtigte „Schießbefehl“ bis zuletzt in Kraft. Die Soldaten erhielten bei jeder „Vergatterung“ – der täglichen Befehlsausgabe vor dem Einsatz – die Anweisung, Grenzverletzer aufzuspüren, festzunehmen „oder zu vernichten“.

Die Geschichte der Grenztruppen: Vom Polizeiapparat zur „Elitetruppe“
Die Ursprünge der DDR-Grenzsicherung reichen weit zurück. Bereits 1946 erteilte die sowjetische Besatzungsmacht Anweisungen zur Aufstellung einer Grenzpolizei. Bis zur Gründung des Bundesgrenzschutzes 1951 umfasste die deutsche Grenzpolizei der DDR bereits rund 20.000 Mann. Ihre Zugehörigkeit wechselte mehrfach zwischen dem Ministerium des Innern und dem Ministerium für Staatssicherheit.

Mitte der 1950er Jahre erfolgte eine Umstrukturierung von einer Polizeieinheit zu einer Grenztruppe. Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 wurden sie im September desselben Jahres als „Kommando Grenze der NVA“ in die Nationale Volksarmee (NVA) integriert. In den 1960er Jahren galten sie als „Garde der nationalen Volksarmee“ – eine Art Elitetruppe. Aus strategischen Gründen, um die 50.000 Mann starke Truppe nicht bei den Wiener MBFR-Verhandlungen (Verhandlungen über einen Truppenabbau in Europa) ausweisen zu müssen, wurden die Grenztruppen Experten zufolge entweder 1972/73 oder ein Jahr später wieder aus der NVA ausgegliedert.

Die Berliner Mauer: Ein „Stachel im Fleisch“
Die 162 Kilometer lange Grenze der DDR zu West-Berlin war ähnlich aufgebaut wie die innerdeutsche Grenze, mit ausgeklügelten Überwachungs- und Sperrsystemen, einschließlich Hundelaufanlagen. Selbst in Flüssen und Seen markierten Grenztonnen die Demarkationslinie, an die sich Wassersportler und Angler gewöhnen mussten. Trotzdem blieb diese Grenze „der Stachel im Fleisch der Deutschen“ und ein Zeichen „rücksichtsloser Entschiedenheit“.

Die 44,8 Kilometer lange Berliner Mauer, die Sektorengrenze zwischen Ost- und West-Berlin, galt als praktisch unüberwindbar und aus östlicher Richtung kaum durchlässig. Immer wieder gab es Sprengstoffanschläge auf das „hässliche Bauwerk“, zuletzt offenbar von Rechtsradikalen. Ein dramatischer Vorfall während der Dreharbeiten im Juni 1986 zeigte die Härte dieser Grenze: Ein 17-jähriger West-Berliner raste mit seinem Auto gegen die Mauer, durchbrach zwei Betonplatten und landete verletzt auf DDR-Gebiet. Während der Fahrer medizinisch versorgt und in Gewahrsam genommen wurde, schoben DDR-Grenztruppen den PKW umgehend durch das Mauerloch auf West-Berliner Gebiet zurück.
Die Mauer bleibt ein Symbol der Trennung, poetisch beschrieben als „Mauer die Mauer grau und kahl“, „schmutzige Schande“ und „aus Hassbeton“. Eine „Röhre aus Stahlbeton“ auf der Mauer, an der „die Hände abrutschen“ und „die Blicke abgleiten“, verdeutlichte die Unüberwindbarkeit.

Kerstin Meisners Flucht vor einem Staat, der „irsinnige Angst“ hatte

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Kerstin Meisner sehnte sich nach Meinungsfreiheit, Demokratie und weniger Reglementierungen in der DDR. Im Frühjahr 1983 fasste sie einen weitreichenden Entschluss: Sie wollte die Deutsche Demokratische Republik verlassen. Gemeinsam mit ihrem Verlobten und einem Bekannten plante sie einen Fluchtversuch, der sie über die Tschechoslowakei und Österreich in die Bundesrepublik führen sollte.

Die drei waren sich der immensen Risiken bewusst. Eine Flucht über die Westgrenze der DDR, sei es nach Westdeutschland oder Berlin, schlossen sie schnell aus. Sie hatten die Grenzanlagen in Berlin-Friedrichstraße besichtigt und wussten um Stacheldraht, die Mauer, Selbstschussanlagen, Minen und breite, überwachte Grenzstreifen. Die Gefahr, erschossen zu werden, war real und keine Option. Auch ein offizieller Ausreiseantrag kam für sie nicht infrage, da dies jahrelanges Warten, Repressalien und möglichen Arbeitsplatzverlust bedeuten konnte.

Der Plan: Verhaftung einkalkuliert, auf Freikauf gehofft
So kristallisierte sich heraus, dass nur der Weg über das „sozialistische Ausland“ blieb. Ihnen war klar, dass der Fluchtversuch zu 80 % nicht funktionieren würde und sie ins Gefängnis kommen würden. Doch genau das war Teil ihres Plans: Sie wollten sich verhaften lassen, um dann durch die Bundesrepublik freigekauft zu werden und so nach Westdeutschland zu gelangen.

Am 13. April 1983 wurde Kerstin Meisner in der Tschechoslowakei festgenommen. Bei den Verhören, die nicht besonders lange oder schlimm waren, legte sie sofort die Wahrheit auf den Tisch. Sie bestätigte, dass sie nach Bratislava, Österreich und schließlich nach Bayern wollte und ihr bewusst war, dass dies „Republikflucht“ nach Paragraph 213 war.

Einzelhaft unter schwierigen Bedingungen
Zunächst verbrachte Kerstin Meisner zwei Wochen in Einzelhaft in der Tschechoslowakei. Die Bedingungen dort waren extrem unangenehm:
• Alle Bediensteten waren Männer, und es gab Sprachbarrieren.
• Die Zelle im Erdgeschoss war trotz Mitte April sehr kalt, möglicherweise wegen der dicken Mauern.
• Sie durfte sich tagsüber nicht aufs Bett legen.
• Es gab nur kaltes Wasser, und die hygienischen Bedingungen waren schlecht; sie erhielt keine Zahnbürste und ihre private Kleidung wurde zwei Wochen lang nicht gewaschen.
• Die kombinierte Toilette und Waschgelegenheit mit einem kalten Wasserstrahl empfand sie als eklig.

In dieser Zeit, beim Blick aus dem Fenster auf Frauen, die Wäsche aufhingen, begriff sie zum ersten Mal, „was Freiheit eigentlich bedeutet“.

Von Hohenschönhausen bis zum Freikauf
Nach der Einzelhaft in der Tschechoslowakei wurde Kerstin Meisner in die DDR überstellt. Ihre erste Station war die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Berlin-Hohenschönhausen. Dort musste sie sich einer kompletten Entkleidung und Untersuchung aller Körperöffnungen unterziehen. Dies empfand sie als „sehr, sehr unangenehm“ und gleichzeitig als „paradox und albern“, da sie sich fragte, wovor der Staat Angst hatte, was sie aus dem Gefängnis hätte mitbringen sollen. Sie sah darin ein Zeichen der „irsinnigen Angst“ des Staates vor oppositionellen Menschen.
Anschließend wurde sie nach Potsdam verlegt. Im Juli 1983 erfolgte die Verurteilung wegen „ungesetzlichen Grenzübertritts“ zu einem Jahr und fünf Monaten Haft. Ihre Strafzeit verbrachte sie in einem Frauenarbeitskommando in einer Wäscherei in Leipzig-Markkleeberg. Dort stellte sie auch einen Ausreiseantrag.

Ein Jahr nach ihrer Festnahme, im April 1984, wurde Kerstin Meisner schließlich von der Bundesrepublik freigekauft. Die Ausreisehaft erfolgte im Kaßberg-Gefängnis Karl-Marx-Stadt. Ihr wohlüberlegter und riskanter Plan war aufgegangen.

Bürokratie-Chaos: Warum Ostdeutschland Integrationspotenziale ungenutzt lässt

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Zehn Jahre nach Angela Merkels historischem Satz „Wir schaffen das“ präsentiert sich die Integration von Geflüchteten in Ostdeutschland als ein komplexes Bild aus Erfolgen, ungenutzten Potenzialen und systemischen Hürden. Während Unternehmen und Städte wie Neubrandenburg von der Zuwanderung profitierten und viele Menschen ein neues Leben aufbauen konnten, bleibt die Entwicklung einer gemeinsamen, zielgerichteten Integrationspolitik eine ungelöste Aufgabe.

Herausforderungen im Alltag und bei der Jobsuche
In Städten wie Neubrandenburgs Oststadt, einem Plattenbauviertel, das heute einen 50 Prozent höheren Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund aufweist als der Rest der Stadt, treten im Zusammenleben vielfältige Probleme auf. Vermittler der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Neuwoges sind täglich gefordert, da seit 2015 1200 Mietverträge an ausländische Mieter vergeben wurden. Konflikte entstehen oft durch kulturelle Unterschiede – etwa bei der Mülltrennung oder dem Verständnis deutscher Hausordnungen, die zu Schäden und Ärger in der Nachbarschaft führen können. Sozialarbeiterinnen berichten sogar von eskalierenden Gesprächen, die Unterstützung durch Sicherheitsdienste erforderten, da Sprachbarrieren die Einschätzung und Lösung von Problemen erschweren. Viele langjährige Bewohner empfinden die Veränderungen als negativ und sehen die Oststadt als „Brennpunkt“, wo sich der Kontakt zwischen deutschen und migrantischen Mietern aufgrund von Verständigungsproblemen kaum entwickelt.

Die Sprachbarriere ist ein wiederkehrendes Thema. Auch nach Jahren in Deutschland haben viele Migranten, wie der Palästinenser Ahmad Umay, Schwierigkeiten, sich im Alltag ohne Hilfe zurechtzufinden. Obwohl sein Deutsch für seinen Job bei Amazon ausreicht, ist er bei Behördengängen oder dem Ausfüllen komplexer Formulare auf die Unterstützung von Freunden wie Doreen angewiesen.

Besonders im Bereich der Arbeitsmarktintegration stoßen Geflüchtete auf große Schwierigkeiten. Viele sind zwar hochmotiviert, schnell finanziell unabhängig zu werden, bleiben jedoch beruflich unter ihren Qualifikationen. Dies liegt oft an fehlenden Nachweisen ihrer im Ausland erworbenen Bildungs- und Berufsabschlüsse sowie an langwierigen Bürokratieprozessen und Wartezeiten. Rashid, ein ausgebildeter Taucher aus Syrien, kann seine frühere Arbeitserfahrung nicht nachweisen und wird ihm vom Jobcenter lediglich ein Job als Paketbote angeboten, während sein Antrag auf eine Weiterbildung abgelehnt wurde.

Die Jobcenter-Bürokratie erweist sich als massives Hindernis. Ein Programm der Johanniter, das Geflüchtete zu Rettungssanitätern und Pflegehilfskräften ausbilden sollte, scheiterte an der inkonsistenten Vergabe von Bildungsgutscheinen. Bewerber wurden teils ohne klare Begründung abgelehnt oder mit unnötigen Zusatzanforderungen belegt, was zu geringen Teilnehmerzahlen und einem finanziellen Verlust von 60.000 Euro für die Johanniter führte, die das Angebot einstellen mussten. Obwohl der Bedarf an Pflegekräften in Deutschland bis 2049 um ein Drittel steigen wird, konnten die Potenziale der Geflüchteten nicht ausreichend genutzt werden. Die Migrationsforscherin Birgit Glorius kritisiert, dass die Kriterien für Bildungsgutscheine regional unterschiedlich ausgelegt werden und oft von der „politischen Kultur vor Ort“ abhängen, die Geflüchtete entweder als Potenzial oder als „Verhandlungsmasse“ betrachtet.

Erfolge und Zukunftsperspektiven
Trotz der zahlreichen Hürden gibt es auch Beispiele gelingender Integration. Die Wohnungsbaugesellschaft Neuwoges in Neubrandenburg profitierte erheblich von der Zuwanderung. Nach jahrelanger Abwanderung und dem Abriss von etwa 3000 Wohnungen seit den 1990er Jahren stoppte der Zuzug von Geflüchteten den weiteren Abriss und führte zu einer Reduzierung des Wohnungsleerstands auf nur noch rund zwei Prozent. Dies sicherte Einnahmen und ermöglichte Investitionen in die Sanierung von Gebäuden, was Vorteile für alle Mieter mit sich brachte.

Auch persönliche Erfolgsgeschichten zeigen, dass Integration möglich ist. Abdullah, ein syrischer Geflüchteter mit Tiermedizin-Studium, konnte seinen ursprünglichen Berufswunsch nicht fortsetzen. Doch durch das Johanniter-Programm absolvierte er eine Ausbildung zum Rettungssanitäter und später zum Pfleger. Heute ist er eine gefragte Fachkraft im Gesundheitswesen und leistet einen wichtigen Beitrag zur Versorgung älterer Menschen.

Soziale Projekte tragen zur Völkerverständigung bei. Das Programm „Schmaus und Plausch“ der Neuwoges bringt im Stadtteilbüro Neubrandenburgs alteingesessene und zugewanderte Bewohner zum gemeinsamen Kochen und Essen zusammen. Hier sind bereits Freundschaften und Bekanntschaften entstanden, wie Rentnerin Karin und die iranische Geflüchtete Hanifah berichten. Hanifah selbst möchte Köchin werden und hat ambitionierte Pläne für ihre Kinder: Sie sollen Abitur machen und Ärzte werden.

Migrationsforscherin Birgit Glorius hebt hervor, dass die „zweite Generation“ – also Kinder, die jung als Geflüchtete kamen oder in Deutschland geboren wurden – die größten Integrationschancen hat. Sie sind die „Gewinner“ dieser Bewegung, während jene, die bereits eine Berufsbiografie mitbrachten, oft nicht daran anknüpfen konnten.

Insgesamt zeigt sich zehn Jahre nach „Wir schaffen das“: Das Versprechen konnte dort eingelöst werden, wo Unternehmen Chancen nutzten und Menschen sich persönlich engagierten. Doch eine kleinteilige Bürokratie und langwierige Prozesse verhindern oft eine effektive und schnelle Integration in den Arbeitsmarkt. Während 75 Prozent der 2015 angekommenen Männer bis 2022 in Arbeit waren (bei Frauen 31 Prozent), bleibt die Fähigkeit, die hohe Motivation der Geflüchteten in qualifizierte Arbeit umzusetzen, eine zentrale Herausforderung, die dringend eine gemeinsame, zielgerichtete Integrationspolitik erfordert.

Eine Gesellschaft am Scheideweg: „Triggerpunkte“ und die Suche nach der Mitte

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Die Verleihung des Preises „Das politische Buch“ 2024 an Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westhäuser für ihr Werk „Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ war mehr als eine akademische Ehrung; sie war ein Weckruf und eine Bestätigung zugleich. In Zeiten, in denen das Gefühl einer tief gespaltenen Gesellschaft allgegenwärtig scheint, liefert dieses Buch eine dringend benötigte, empirisch fundierte Analyse, die Mut macht und gleichzeitig zum Handeln auffordert.

Die vielleicht wichtigste Erkenntnis der Autoren ist die Widerlegung der These einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in zwei feindliche Lager. Stattdessen sprechen sie von einer „zerklüfteten Konfliktlandschaft“ und betonen, dass wir weiterhin auf einen relativ breiten Konsens in der Mitte der Gesellschaft bauen können. Das ist eine ungemein motivierende Nachricht, besonders für alle, die um den gesellschaftlichen Zusammenhalt ringen.

Doch es gibt keinen Grund, sich zurückzulehnen, denn das Buch identifiziert „Triggerpunkte“. Diese „Sollbruchstellen der öffentlichen Debatte“ sind oft vermeintlich kleine Fragen, die aber als Chiffren für tiefere gesellschaftliche Konflikte dienen und verlässlich zu einer hohen Emotionalisierung der Diskussion führen. Beispiele wie das Gendersternchen oder Transgender-Toiletten mögen auf den ersten Blick trivial erscheinen, aber sie entzünden sich, wenn Menschen das Gefühl haben, eine „rote Linie“ werde überschritten, Dinge „geraten außer Kontrolle“ oder die „Normalität“ werde verletzt.

Das Kernproblem: Die „schweigende Mitte“. Dieses große Segment der Bevölkerung – etwa zwei Drittel, die in wichtigen Konfliktfeldern wie Migration, Identität oder Klima „desorganisiert“ oder „differenzierte Meinungen“ haben – bleibt in der öffentlichen Auseinandersetzung oft unsichtbar. Sie wird von einem lauten und zunehmend radikalisierten rechten Rand übertönt. Die Autoren argumentieren überzeugend, dass Polarisierung oft „von oben erzeugt“ wird. Politische und mediale Akteure spitzen bewusst Themen zu, um Menschen emotional zu mobilisieren. Tragischerweise scheint diese „Affektpolitik“ von der rechten Seite leichter herzustellen zu sein.

Die Gefahren dieser Entwicklung sind alarmierend. Wenn aus radikalen Worten tätliche Gewalt wird, wie jüngste Angriffe auf Politiker wie Matthias Ecke in Sachsen schockierend gezeigt haben, müssen alle Demokratinnen und Demokraten alarmiert sein. Solche Angriffe zielen auf den Kern unserer Demokratie, indem sie einschüchtern und verängstigen wollen.

Auch die Medien spielen eine Rolle. Durch die algorithmische Prämierung extremer Positionen und die Konzentration auf Aufreger-Themen, die Klickzahlen versprechen, verstärken sie die Polarisierung und tragen zu einer „gefühlt polarisierten Gesellschaft“ bei. Politiker wiederum haben einen Anreiz, zuzuspitzen, um Medienpräsenz zu erlangen.

Was ist also zu tun? Das Buch liefert zwar keine fertigen Rezepte, aber denkbare Strategien zum Umgang mit Polarisierung:

• Antizipation und Versachlichung: Politische Programme sollten potenzielle Triggerpunkte vorhersehen, um sachliche Diskussionen zu ermöglichen und Gegennarrative zu etablieren.

• Dethematisierung und Gegen-Emotionalisierung: Manchmal muss man Provokationen ignorieren, um eine Eskalation zu vermeiden. Aber es braucht auch den Mut zur klaren Kante und eigenen positiven Triggern, um demokratische Werte zu verteidigen und radikalen Normbrüchen entgegenzutreten. Wie Petra Köpping betonte: Manchmal muss man laut und klar einfordern, dass die Polarisierung der radikalen Ränder beendet wird.

• Stärkung der „stillen Mitte“: Es ist entscheidend, dieser Gruppe mit ihren differenzierten Meinungen wieder eine Stimme und Raum zu geben.

• Bekämpfung von Ungleichheit: Extreme Vermögensungleichheit untergräbt den demokratischen Diskurs, da sie den Zugang zu medialer und politischer Macht ungleich verteilt. Die „demobilisierte Klassengesellschaft“, in der Menschen Ungleichheit erleben, aber kaum Hoffnung auf kollektive Handlungsfähigkeit setzen, muss wieder mobilisiert werden. Die „Verteilungsfrage“ muss stärker politisiert werden.

• Wiederherstellung von Vertrauen und mutiger Idealismus: Politik muss Probleme lösen und konkret abrechnen. Die Sozialdemokratie hat die Aufgabe, die stille Mitte mitzunehmen, ohne dabei Haltung und Richtung zu verlieren. Es braucht ein klares, emotional ansprechendes Ziel für die Gesellschaft, das über bloße Verwaltung hinausgeht. Robert Misik empfiehlt, auf die Macht des Wortes, des Nachdenkens und des Abwägens, aber auch auf die Macht der Gesprächsführung zu setzen, die Zuhören und Argumentieren umfasst.

• Respekt: Als zentraler Begriff, der die Gesellschaft zusammenhalten kann, indem er die Arbeit, Leistung und Lebensweise der „einfachen Leute“ wertschätzt.

Der Blick nach Ostdeutschland zeigt, dass die Polarisierung dort zwar nicht unbedingt größer, aber schneller ankommt, bedingt durch tiefsitzende Verlustängste und Erfahrungen der Transformation. Doch trotz dieser Herausforderungen bleibt ein Grund zum Optimismus: Sachsen verfügt über eine „unheimlich gut organisierte Zivilgesellschaft“, auf die man setzen kann, um die negative Entwicklung abzuwenden.

Das Buch „Triggerpunkte“ ist somit nicht nur eine beeindruckende Analyse unserer Gegenwart, sondern auch ein Plädoyer für eine handlungsfähige Demokratie. Es erinnert uns daran, dass die Zukunft nicht vorherbestimmt ist, sondern von unserem gemeinsamen Engagement abhängt. Es ist ein Appell an uns alle, die differenzierte Meinung zu pflegen, den Diskurs zu versachlichen, wo nötig, aber auch klar und mutig für die Werte unserer Demokratie einzustehen.

Das falsche Leben leben: Wie gesellschaftliche Erwartungen unsere Identität formen

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In einem tiefgehenden Gespräch beleuchtet der Psychotherapeut und Bestsellerautor Dr. Hans-Joachim Maaz das Phänomen der Normopathie und des „falschen Lebens“, das viele Menschen dazu bringt, im Alltag zu funktionieren, sich aber innerlich leer zu fühlen. Er argumentiert, dass gesellschaftliche Erwartungen unsere Identität von Kindheit an prägen und emotionale Entfremdung zu einer weit verbreiteten Normalität geworden ist.

Die Wurzeln des „falschen Lebens“ und emotionale Entfremdung
Laut Dr. Maaz beginnt das „falsche Leben“ schon in der Kindheit. Kinder lernen sehr früh, wie sie sich verhalten müssen, um Zuwendung und Bestätigung von ihren Eltern und der Gesellschaft zu erhalten. Dies geschieht oft unkritisch und mündet in eine Selbstentfremdung, bei der das Kind nicht dazu ermutigt wird, herauszufinden, „wer bin ich denn wirklich“, sondern lernt, so zu sein, wie es gewünscht wird. Eltern handeln dabei oft nicht aus böser Absicht, sondern weil sie wissen, dass Anpassung dem Kind Schwierigkeiten in der Schule oder im Kindergarten erspart.

Diese frühkindliche Prägung führt dazu, dass viele Menschen später ein Leben führen, das sich nicht authentisch anfühlt – ein „falsches Leben“, das Dr. Maaz als ständigen, permanenten Stressfaktor identifiziert, der krank machen kann. Erkrankungen werden so zu einem „Feedbacksystem“, das auf das falsche Leben hinweist und ein „Fenster der möglichen Erkenntnis“ öffnet, was uns wirklich krank gemacht hat.

Normopathie: Wenn die Gesellschaft sich selbst täuscht
Der Begriff der Normopathie beschreibt einen angepassten Menschen, dessen Leben davon abhängt, Erwartungen zu erfüllen. Überträgt man dies auf die Gesellschaft, spricht Maaz von einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung, die nicht mehr als problematisch erkannt wird, weil die Mehrheit sich so verhält. Das menschliche Grundbedürfnis nach sozialer Eingebundenheit und Anerkennung übt einen starken Verführungsdruck aus, „hochabnorme Dinge mitzumachen“.

Dr. Maaz sieht Normopathie in der Geschichte wiederkehren: vom Nationalsozialismus über den DDR-Sozialismus bis hin zur heutigen finanzkapitalistischen Normopathie, in der menschliche Konkurrenz über Verbundenheit dominiert. Symptome dieser Normopathie sind Narzissmus, übermäßiges Leistungsstreben und Profitgier, die als Kompensation für ein tief sitzendes narzisstisches Defizit – eine Unsicherheit des Selbstwertes – dienen. Während gesunder Egoismus wichtig ist, um für sich selbst zu sorgen, treibt der Narzissmus zu einem Suchtverhalten nach immer mehr Geltung, Geld und äußerem Erfolg an, da diese keinen echten Ersatz für Liebe bieten.

Die Bedeutung der „Omegas“ und der echten Kommunikation
In jeder Gruppe gibt es nach Maaz „Omegas“ – Außenseiter, die kritisch sind und oft Wahrheiten vertreten, die die Mehrheit nicht sehen will. Er betont, wie wichtig es ist, diesen Stimmen zuzuhören, da sie Aufschluss darüber geben können, worin eine Gesellschaft normopathisch geworden ist. Als Beispiel nennt er die kritischen Fragen während der Corona-Pandemie, die oft ausgegrenzt wurden, anstatt als gesunder Teil eines gesellschaftlichen Diskurses akzeptiert zu werden.

Die gesündeste Form sozialer Kommunikation erfordert laut Dr. Maaz, dass man anfängt, von sich selbst zu sprechen – von persönlichen Erfahrungen, Ängsten und Unsicherheiten, statt nur über politische oder ideologische Argumente. Wenn Menschen ihre persönlichen Beweggründe offenlegen, können sie trotz unterschiedlicher Meinungen Verständnis füreinander entwickeln und Freundschaften oder Kooperationen aufrechterhalten.

Wege zur Heilung und Selbstfindung

Für die Heilung vom „falschen Leben“ und die Entwicklung eines authentischen Selbst schlägt Dr. Maaz mehrere Schritte vor:

• Akzeptanz des kritischen Gefühls: Zuerst muss man zulassen, dass man sich möglicherweise auf dem falschen Weg befindet.

• Selbsterfahrung: Dies beinhaltet das Sammeln vielseitiger Informationen aus unterschiedlichen Quellen, um eine selbstkritische Haltung zu dem zu entwickeln, was als richtig angesehen wird. Er warnt vor einseitiger Information und betont die Notwendigkeit eines gesunden Misstrauens gegenüber politisch oder medial verbreiteten Aussagen.

• Kommunikativer Austausch: Die Beziehungskultur zu pflegen, indem man Gelegenheiten schafft, sich mit anderen Menschen auszutauschen, die bereit sind zuzuhören und zu verstehen, anstatt zu belehren oder zu kritisieren. Auch im Freundeskreis kann man sich bewusst mit anderen Meinungen auseinandersetzen, um die eigene Perspektive zu erweitern.

• Bewusstes Handeln: Es geht darum, herauszufinden, was man leisten will und leisten kann, anstatt nur leisten zu müssen. Sich durch Arbeit oder Tätigkeit selbst zu verwirklichen, kann eine Lebensfreude sein. Methoden wie Meditation können dabei helfen, nach innen zu gehen und zu spüren, was wirklich zu einem passt.

• Elternschaft: Eltern können ihren Kindern helfen, indem sie zuerst sich selbst verstehen und ihre eigenen Defizite und Prägungen reflektieren, anstatt diese unbewusst auf die Kinder zu übertragen. Es geht darum, dem Kind ein Gefühl für die eigenen Grenzen zu vermitteln, anstatt das Kind für übertriebene Forderungen verantwortlich zu machen.

Dr. Maaz betont, dass die Reise zur Selbsterkenntnis ein niemals endender lebenslanger Prozess ist. Wichtig ist das Bemühen, sich selbst und andere immer besser zu verstehen, auch wenn man nicht immer einer Meinung ist. Dies ist die Grundlage für eine gesunde Gesellschaft und persönliche Erfüllung.